Hundert Jahre nach der Oktoberrevolution von 1917 und zweihundertfünfzig Jahre nach der Veröffentlichung von Marx’ Das Kapital gehört es heute zum guten Ton, den Marxismus als definitiv überholt zu bezeichnen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion habe bewiesen, so heißt es, dass der von Marx inspirierte Sozialismus nur eine gefährliche Utopie gewesen sei und der Oktober 1917 nichts als ein tragischer Irrtum der Geschichte.
Und trotzdem entdeckt die Welt den Kommunismus neu, wie der Erfolg der »Renaissance von Commons« oder Gemeingütern in der öffentlichen Wahrnehmung und das Aufkommen von Kräften, die sich für deren Verwirklichung engagieren, bezeugen. Die Commons sind zur Universalität berufen. Und wie Benjamin Coriat schreibt: »Jedes Gut, das als solches deklariert ist, wird zu einem Gemeingut, wenn die Institutionen, die seine kollektive Verwaltung gewährleisten, um dieses herum angelegt sind. (…) Durch Einführung einer Ebene, auf der über die Verwaltung der gemeinsamen Ressourcen beraten wird, gewährleistet das Gemeingut gleichzeitig den Fortschritt der Demokratie und die Bedingungen des Erhalts der Ressource gegen ihre vorzeitige Aufzehrung.«1
Diese wunderschöne Definition entspricht genau der Marx’schen Definition von Kommunismus, der sich auf das Prinzip der verantwortungsvollen Solidarität der Arbeitenden, der BürgerInnen und der Völker stützt und sie an die Stelle des primitiven Wettbewerbs unter entfremdeten Individuen und Gruppen setzt. Die Verantwortung für Entscheidungen, die gegenwärtig die Eigentümer für sich beanspruchen, wird dann direkt den Völkern übertragen, die ihr wirtschaftliches und soziales Leben direkt verwalten (der Staat als notwendige Ergänzung für die Verwaltung durch die Eigentümer verkümmert). Die Vision der Pariser Kommune des Jahres 1871 war genau dieses; die Nation wird eine Föderation von Gemeinden; der Internationalismus der Völker schafft den Nationalismus und den Kosmopolitismus der Bourgeoisien ab.
Doch die sozialistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts sahen sich mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert: Sie haben nur »in einem Land« gesiegt und waren somit konfrontiert mit der permanenten gewaltsamen Feindschaft der kapitalistischen Globalisierung; überdies gehörten diese Länder der Peripherie des Weltsystems an, deren Bevölkerung in der großen Mehrheit bäuerlich war. Die Lehren, die sich aus ihren Erfahrungen und ihren Misserfolgen angesichts dieser Herausforderungen ziehen lassen, müssen diskutiert werden, schon deshalb, weil die wünschbaren Fortschritte des Sozialismus des 21. Jahrhunderts (siehe die Commons) mit genau denselben Herausforderungen konfrontiert sein werden.
Mit dieser Arbeit werden einige Thesen zu dieser doppelten Herausforderung für den künftigen Sozialismus vorgelegt. Konkret handelt es sich um zwei eng miteinander verbundene Thematiken.
Im ersten Teil werde ich zeigen, dass der Übergang durch eine Etappe des Aufbaus souveräner nationaler, bevölkerungsnaher und demokratischer Projekte unverzichtbar ist. Er stellt die »neue Agrarfrage« in diesen Rahmen.
Die Notwendigkeit dieses Übergangs leitet sich aus der Feststellung ab, dass die Welt nie »von oben« mittels eines von der Gesamtheit der herrschenden Klassen, die in den Staaten dieser Welt an der Macht sind, akzeptierten Konsenses verändert werden wird. Diese Umwandlung wird auch nicht durch eine »Weltrevolution« ermöglicht werden, die zeitgleich oder nahezu zeitgleich umgesetzt wird, auch nicht durch die Globalisierung eines Sozialismus, der durch radikale Fortschritte in dem am meisten entwickelten kapitalistischen Ländern errungen worden ist. Der Weg zum Sozialismus wird lange dauern– vielleicht mehr als ein Jahrhundert – und in Bezug auf die Fortschritte in Richtung dieses Sozialismus wird es von einem Land zum anderen immer Unterschiede geben. Dass in den Ländern der Peripherie Fortschritte in Gang gesetzt werden, ist nach wie vor möglich und sogar wahrscheinlich. Die Frage der Bauern, die sich jedem Land stellt, spielt bei der Identifizierung der Herausforderungen eine wichtige Rolle.
Die LeserInnen werden also nachvollziehen können, warum ich in diesem Teil die Konzepte des souveränen Volksprojektes und des bürgerlichen Nationalismus nicht vermische, sondern gegenüberstelle.
Ergänzend zum ersten Teil wird im zweiten diese neue Agrarfrage vertieft untersucht. Denn der historische Kapitalismus hat das Agrarproblem in Europa und den USA bereits auf seine Art und Weise beantwortet. Das ungeheure Produktivitätswachstum in der landwirtschaftlichen Produktion erlaubt in der Tat der in diesem Bereich tätigen aktiven Bevölkerung, die nicht mehr als 5% der Arbeitskraft der entsprechenden Länder stellt, ausreichend Nahrungsmittel für die mehrheitlich städtische Bevölkerung anzubieten und sogar Überschüsse für den Export zu erzielen. Die Frage lautet: Ist die Reproduktion desselben Modells von »Entwicklung« für die im heutigen Asien, Afrika und Lateinamerika lebenden Völker möglich? Meine Antwort ist Nein. Daher ist die Welt heute mit einer Herausforderung konfrontiert, die nur durch eine mutige Vision von Sozialismus lösbar ist. Was nottut, ist ein alternativer Weg der Modernisierung der bäuerlichen Ökonomie, nicht nur für die Länder des Südens, wo die Bauern einen wichtigen Anteil an der Bevölkerung ausmachen, sondern mittlerweile auch für die hoch entwickelten kapitalistischen Länder.
Die TheoretikerInnen und IdeologInnen des Kapitalismus stellen sich die Lösung der Agrar- und somit der Ernährungsfrage dahingehend vor, dass sie die Organisationsformen der Großindustrie auf die Landwirtschaft übertragen wollen. Die Geschichte hat ihnen Unrecht gegeben; konkret ist in ihrem Konzept eine neue, aus Landwirten (und nicht Bauern) bestehende soziale Schicht entstanden. Diese moderne Form von familiären kapitalistischen Landwirtschaftsbetrieben befindet sich aber durch das Großkapital der Finanzmonopole in Bedrängnis; ihre Zukunft ist unsicher und an ihre Stelle tritt tendenziell die neue Formel einer vom Agrobusiness betriebenen industriellen Landwirtschaft.
Der Sowjetsozialismus hatte die herrschenden Vorstellungen des 19. Jahrhunderts übernommen, die Karl Kautsky, der Inspirator der sowjetischen Kollektivierung, vermittelt hatte. Ich habe ausgeführt, warum ich der Meinung bin, dass dieser Irrtum zum Bruch des Bündnisses zwischen Arbeiter- und Bauernschaft führte, das der Oktoberrevolution zum Erfolg verholfen hatte. Der Maoismus verstand dagegen, diesen Fehler zu vermeiden und eröffnete damit den Weg zu einer anderen Lösung der Bauernfrage, die sich auf den Grundsatz des gleichen Zugangs aller LandbewohnerInnen zum Boden stützte. Diese Lehre ist nach wie vor von zentraler Bedeutung für die Zukunft der Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Mit meiner Unterscheidung von kapitalistischer Landwirtschaft und Landwirtschaft im Kapitalismus leiste ich daher meiner bescheidenen Ansicht nach einen mir neu erscheinenden Beitrag, den die verschiedenen Richtungen des Marxismus in der Vergangenheit und erst recht die bürgerlichen Theorien ignoriert haben.
Der dritte Teil des Buches zeigt auf, wie sich die Gesellschaften des gegenwärtigen imperialistischen Zentrums formiert haben. Er kann dazu beitragen, den Einfluss der konservativen Ordnungsvorstellungen zu erklären, die die Völker im Zentrum ideologisch fest im Griff haben. Dies stellt ein großes Hindernis für die Freisetzung einer kreativen revolutionären Vorstellungskraft dar.
Das Hauptaugenmerk in diesem Buch lege ich auf die Herausforderung, die die bäuerliche Frage mit sich bringt. Ich räume ihr deshalb einen so großen Stellenwert ein, weil die heutigen sozialen Protestbewegungen vor allem aus dem städtischen Bereich kommen und die bäuerliche Frage meist vollkommen ausklammern. Diese Vernachlässigung verunmöglicht es, eine wirkungsvolle Strategie für einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu formulieren.
Samir Amin,
im Oktober 2017
1 Benjamin Coriat, Vorwort, in Propriété et communs, Éditions Utopia, Sammlung »Controverses«, Paris, Januar 2017. Ausschnitt unter: http://fr.calameo.com/read/00098618931261873e9db