Teil III

Blockaden für eine soziale Transformation im Zentrum

Der Nord-Süd-Konflikt (oder Zentrum-Peripherie-Konflikt) ist ein Schlüsselfaktor in der ganzen Geschichte der Entfaltung des Kapitalismus. Historisch fällt der Kapitalismus mit der Geschichte der siegreichen Eroberung der Welt durch die Europäer und deren Nachkommen zwischen 1492 und 1914 zusammen. Eines Erfolgs also, der erlaubte, seine Legitimität aus der Überlegenheit des europäischen Systems zu ziehen, die gleichzusetzen ist mit Modernität und Fortschritt, dem Fundament des Eurozentrismus. Eine Eroberung, die die Völker der imperialistischen Zentren von ihrem »Vorzugsrecht« auf die Reichtümer der Erde überzeugt hat.

Diese Seite der Geschichte ist langsam gewendet, seit der Süden aufwacht, was das ganze 20. Jahrhundert lang in den Revolutionen zum Ausdruck gekommen ist, die im Namen des Sozialismus in der Halbperipherie Russland und danach an der Peripherie in China, Vietnam und Kuba durchgeführt wurden, sowie in den nationalen Befreiungen in Asien und Afrika und den Fortschritten in Lateinamerika. Der – unterdessen in der generellen Linie erfolgreiche – Befreiungskampf der Völker des Südens ist verbunden mit der Infragestellung des Kapitalismus. Diese Verbindung ist unvermeidlich. Die Konflikte zwischen Kapitalismus und Sozialismus bzw. zwischen Norden und Süden sind nicht voneinander zu trennen. Sozialismus ist unvorstellbar jenseits eines Universalismus, der Gleichheit der Völker bedeutet. In den Ländern des Südens leiden die meisten Menschen unter dem System, im Norden profitieren sie davon. Die einen wie die anderen sind sich dessen bestens bewusst, auch wenn sie oft resignieren (im Süden) oder sich dafür beglückwünschen (im Norden). Es ist also kein Zufall, wenn im Norden keine radikale Transformation des Systems auf der Tagesordnung steht, während der Süden stets eine »Gewitterzone« ist, ein Gebiet mit wiederholten potenziell revolutionären Aufständen.

Die von den Völkern des Südens ergriffenen Initiativen waren daher entscheidend für die Transformation der Welt. Mit dieser Feststellung lassen sich die Kämpfe im Norden richtig einordnen: Es sind Kämpfe um ökonomische Forderungen, die die imperialistische Weltordnung normalerweise nicht infrage stellen. Die Aufstände im Süden stoßen ihrerseits, wenn sie sich radikalisieren, auf unterentwicklungsbedingte Probleme. Ihr »Sozialismus« ist daher immer gekennzeichnet von Widersprüchen zwischen den ursprünglichen Absichten und den tatsächlichen Möglichkeiten. Die mögliche, aber schwierige Verbindung der Kämpfe der Völker des Südens und jener des Nordens ist die einzige Möglichkeit, um die Begrenztheiten der einen wie der anderen überwinden zu können.

Der europäische Marxismus der Zweiten Internationale hat diese wesentliche Seite der kapitalistischen Realität, dessen Expansion als homogenisierend angesehen wurde (während sie in Wirklichkeit polarisiert), übersehen und der Kolonisierung folglich eine historisch positive Rolle zugeschrieben. Lenin brach mit dieser vereinfachten Auslegung des Marxismus, was den Weg frei machte für eine sozialistische Revolution in der damaligen Halbperipherie – ihrem »schwachen Glied«. Lenin dachte jedoch, die Revolution werde sich von ihrem Ausgangsland aus rasch auf die fortgeschrittenen europäischen Zentren ausbreiten. Das ist nicht geschehen; Lenin unterschätzte die verheerenden Auswirkungen des Imperialismus in den betreffenden Gesellschaften. Mao ging mit seiner Vorstellung und seiner Umsetzung einer revolutionären Strategie in einem noch periphereren Land als Russland weiter.

Der imperialistische Charakter des historischen Kapitalismus, eine zentrale Realität, bewirkte unvermeidlich eine Wechselbeziehung: Der lange Übergang zum Sozialismus bahnt sich in ungleichen, im Wesentlichen von der Peripherie des Weltsystems ausgehenden Fortschritten den Weg; auf der Tagesordnung steht keine »Weltrevolution«, deren Schwerpunkt sich in den fortschrittlichen Zentren befinden würde. Lenin, Stalin, Mao, Ho Chi Minh und Castro haben das verstanden und waren bereit, die schwierige Aufgabe des »Aufbaus des Sozialismus in einem Land« auf sich zu nehmen. Trotzki hat das nie begriffen. Die Begrenztheit dessen, was ausgehend vom Erbe des »Spätkapitalismus« der Peripherien unter diesen Bedingungen verwirklichbar war, gibt Auskunft über die weitere Geschichte der großen Revolutionen des 20. Jahrhunderts, ihre Entartungen und ihr Scheitern.

In anderen Ländern der Peripherie gingen die ersten siegreichen Kämpfe, die die Transformation der Welt prägten, auf breite antiimperialistische Volksbewegungen zurück, deren Führungskreise dennoch nicht erfassten, dass es notwendig wäre, die Ziele der nationalen Befreiung mit ersten Schritten zu einem Ausstieg aus der Logik des Kapitalismus zu verbinden. Sie hingen dem Mythos von der »nachholenden Entwicklung« auf kapitalistischem Weg im Rahmen des globalisierten Kapitalismus an und verfolgten die Perspektive, nach dem Vorbild der Zentren entwickelte nationale Kapitalismen aufzubauen. Die Transformationen, die durch Regime verwirklicht werden konnten, die ich »national-populär« genannt habe, waren daher äußerst begrenzt, erschöpften sich rasch und mündeten in Chaos.

Die durch die sozialistischen Revolutionen gegebene Herausforderung steht am Ursprung der faschistischen Auswüchse der Konterrevolution in den imperialistischen Zentren. Sie spitzten gleichzeitig die innerimperialistischen Konflikte insbesondere zwischen Nazi-Deutschland und Japan einerseits und deren Hauptgegnern, den Vereinigten Staaten und Großbritannien andererseits zu. Diese Umstände berücksichtigten das situationsbedingte Bündnis zwischen der UdSSR, den Vereinigten Staaten und Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs. Damit wird aber auch verständlich, dass dieses Bündnis auf Betreiben der Westmächte ab 1945 aufgehoben wurde.

Auch als sich die Erfahrungen mit sozialistischen und national-populären Übergangsversuchen erschöpften, brachte das weder im Osten noch im Süden neue Fortschritte in Gang. Es wurden keine Lehren daraus gezogen, warum die Fortschritte des 20. Jahrhunderts so begrenzt geblieben sind, selbst nicht seitens der wichtigen politischen Kräfte, die für ihren Erfolge verantwortlich waren, und erst recht nicht von den betroffenen Völkern. Das ist der Grund, warum das daraus folgende Chaos von der laufenden Konterrevolution unter Führung der historischen imperialistischen Mächte USA, Europa und Japan ausgenutzt werden konnte. Unmittelbar nährt dieses Chaos eher Illusionen in Projekte einer sogenannten »aufstrebenden« Entwicklung in manchen Ländern des Südens oder irrationale und damit faschistische Auswüchse in anderen Ländern (wovon die Beispiele des Islam und des reaktionären politischen Hinduismus zeugen). In den imperialistischen Zentren selbst hat die Kapitulation von Projekten für den sozialistischen und national-populistischen Fortschritt nicht zu einer kritischen Hinterfragung des Kapitalismus geführt, sondern im Gegenteil Illusionen über die positiven Seiten des hochentwickelten Kapitalismus geweckt. Der Sieg der Konterrevolution und der Niedergang früherer Errungenschaften (Wohlfahrtsstaat) geben hier ihrerseits dem Wiederaufkommen neofaschistischer Antworten Nahrung.

Über die in dieser Einleitung aufgeworfenen Fragen habe ich mich anderenorts geäußert. Im vorliegenden Kapitel begnüge ich mich damit, die Gründe für die Machtlosigkeit der Arbeiterklasse in den Ländern der zentralen imperialistischen Triade (USA, Europa und Japan) zu analysieren. Der Akzent liegt dabei auf den politischen Kulturen der betroffenen Völker. Die politische Kultur ist ein Ergebnis einer aus längerfristiger Sicht betrachteten Geschichte, die sich natürlich von Land zu Land unterscheidet.

Die Lesenden werden meine »Urteile« vielleicht als zu streng empfinden. Streng sind sie auch. Meine Beobachtungen den Süden betreffend sind nicht weniger streng. Im Übrigen sind die politischen Kulturen historisch gesehen keine unveränderlichen Größen. Sie sind im Wandel, manchmal im schlechten, manchmal aber auch im guten Sinn. Ich gehe davon aus, dass dies für einen Aufbau der »Konvergenz in der Divergenz« in sozialistischer Perspektive erforderlich ist.

Die Vereinigten Staaten

Die politische Kultur der Vereinigten Staaten unterscheidet sich von jener, die in Frankreich seit der Aufklärung und insbesondere seit der Revolution entstanden ist und in unterschiedlichem Ausmaß die Geschichte eines guten Teils des europäischen Kontinents geprägt hat. Die Geschichte der Vereinigten Staaten zeichnet sich durch spezifische Besonderheiten aus.

Die konkrete Form des in Neuengland angesiedelten Protestantismus wurde zum Mittel, mit dem sich die neue amerikanische Gesellschaft an die Eroberung des Kontinents machte, die mit Begriffen aus der Bibel gerechtfertigt wurde. Der Völkermord an den Indianern fügte sich wie selbstverständlich in die Logik der göttlichen Mission des neuen auserwählten Volkes. Später weiteten die USA ihr Vorhaben, das ihnen von »Gott« aufgetragene Werk zu verwirklichen, auf die ganze Welt aus. Denn das Volk der Vereinigten Staaten versteht sich als »auserwähltes Volk«. Natürlich ist die besagte amerikanische Ideologie nicht die Ursache für die imperialistische Expansion der USA. Diese gehorcht der Logik der Kapitalakkumulation, deren (vollkommen materiellen) Interessen sie dient. Die Ideologie kommt dieser Logik jedoch wunderbar entgegen. Sie stiftet Verwirrung. Die »amerikanische Revolution« war nichts als ein Unabhängigkeitskrieg ohne soziale Tragweite. In ihrem Aufstand gegen die englische Monarchie wollten die amerikanischen Kolonisatoren die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in keiner Weise verändern, sondern einfach die Früchte daraus nicht mehr länger mit der herrschenden Klasse des Mutterlandes teilen. Ihr Ziel war vor allem die weitere Expansion in den Westen. Auch die Aufrechterhaltung der Sklaverei wurde in diesem Rahmen überhaupt nicht hinterfragt. Die bedeutenden Führer der amerikanischen Revolution waren fast alle evangelikale Grundbesitzer und ihre Vorurteile in dieser Hinsicht unerschütterlich.

Die aufeinander folgenden Immigrationswellen spielten in der Stärkung der amerikanischen Ideologie ebenfalls eine Rolle. Zweifellos sind nicht die Immigranten verantwortlich für das Elend und die Unterdrückung, die sie zur Auswanderung zwangen. Ihre Emigration bewog sie aber dazu, den kollektiven Kampf für die Veränderung der Bedingungen aufzugeben, die sie mit anderen Klassen und Gruppen im eigenen Land teilten, und stattdessen eine Ideologie des individuellen Erfolgs im Aufnahmeland zu übernehmen. Die Übernahme dieser Ideologie verzögert die Bewusstwerdung als Klasse, die, kaum ist sie gereift, mit einer neuen Welle an Immigranten konfrontiert ist, die verhindert, dass sie sich politisch formt. Gleichzeitig wird durch die Migration aber die »Vergemeinschaftung« der amerikanischen Gesellschaft gefördert. Denn der individuelle Erfolg schließt eine starke Einbindung in die Herkunftsgemeinschaft nicht aus. Anderenfalls könnte die persönliche Isolation unerträglich sein. Auch diese Dimension von Identität – die im amerikanischen System vereinnahmt und gehätschelt wird – festigt sich auf Kosten des Klassen- und des staatsbürgerlichen Bewusstseins. Die Gemeinschaftsideologien konnten das Fehlen einer sozialistischen Ideologie der Arbeiterklasse nicht wettmachen. Auch die radikalste nicht, jene der Black Community.

Die der historischen Ausprägung der US-Gesellschaft eigene Mischung aus vorherrschender »biblisch«-religiöser Ideologie und dem Fehlen einer Arbeiterpartei brachte zuallererst eine Regierung einer faktischen Einheitspartei, der Partei des Kapitals, hervor. Beide Segmente, aus denen diese Einheitspartei besteht, teilen grundlegend denselben Liberalismus. Die eine wie die andere richtet sich einzig an die Minderheit, die an dieser Form von verstümmeltem demokratischem Leben »teilnimmt«, das ihr geboten wird. Jede hat ihr eigenes Mittelstandsklientel, da die Arbeiterschichten kaum wählen gehen, und hat ihre Sprache entsprechend angepasst. Beide konzentrieren auf sich eine Mischung aus kapitalistischen Teilinteressen (die »Lobbys«) und der Unterstützung bestimmter »Communities«. Die amerikanische Demokratie bietet heute ein fortgeschrittenes Modell von dem, was ich als »Demokratie niedriger Intensität« bezeichne. Ihr Funktionieren beruht auf der völligen Trennung von der Verwaltung des politischen Lebens, das sich auf die Praxis der Wahldemokratie stützt, und dem wirtschaftlichen Leben, das von den Gesetzen der Kapitalakkumulation gesteuert ist. Noch dazu wird diese Trennung nicht radikal hinterfragt, sondern gehört eher zu dem, was man als allgemeinen Konsens bezeichnet. Diese Trennung macht aber jegliches schöpferische Potenzial der politischen Demokratie zunichte. Sie kastriert die repräsentativen Institutionen (Parlamente und andere), die angesichts des »Marktes«, dessen Diktat sie übernehmen, machtlos geworden sind. Marx dachte, der Aufbau eines »reinen« Kapitalismus ohne vorkapitalistischen Vorläufer in den Vereinigten Staaten würde dem sozialistischen Kampf nutzen. Ich denke im Gegenteil, dass die von diesem »reinen« Kapitalismus verursachten Schäden das größte nur denkbare Hindernis sind.

Das deklarierte Ziel der neuen hegemonialen Strategie der Vereinigten Staaten ist, keine Existenz einer anderen Macht zu tolerieren, die in der Lage wäre, sich den Befehlen Washingtons zu widersetzen, und dafür zu versuchen, alle als »zu groß« eingeschätzten Länder zu zerstören und möglichst viele Rumpfstaaten zu schaffen, die eine leichte Beute für die Errichtung amerikanischer Basen sind, die deren »Schutz« gewährleisten. Ein einziger Staat hat das Recht, »groß« zu sein, die Vereinigten Staaten.

Die amerikanische Strategie für die Welt umfasst fünf Ziele: 1) die anderen Partner der Triade (Europa und Japan) zu neutralisieren und zu unterwerfen und die Fähigkeit dieser Staaten, außerhalb des amerikanischen Schoßes zu agieren, auf ein Minimum zu reduzieren; 2) die militärische Kontrolle der NATO zu festigen und die alten Teile der Sowjetwelt zu »lateinamerikanisieren«; 3) den Nahen Osten und Zentralasien mit ihren Erdölreserven ungeteilt zu kontrollieren; 4) China zu zerstören, sich der Unterordnung der anderen großen Staaten (Indien, Brasilien) zu versichern und die Entstehung von regionalen Blöcken zu verhindern, die über die Bedingungen der Globalisierung verhandeln könnten; 5) die Regionen des Südens, die nicht von strategischem Interesse sind, zu marginalisieren. Das Hegemonialdenken der USA beruht also definitiv eher auf der Dimension ihrer Militärmacht als auf den »Vorteilen« ihres Wirtschaftssystems. Sie können also als unbestrittene Führer der Triade auftreten, indem sie gegenüber möglichen Widerspenstigen ihre Militärmacht und die von ihnen dominierte NATO als »sichtbare Faust« erheben, um die neue imperialistische Ordnung durchzusetzen.

Hinter dieser Fassade steht aber trotz seiner politischen Schwäche ein Volk. Meine Intuition ist dennoch, dass von dort keine Initiative zur Veränderung ausgehen wird, selbst wenn nicht auszuschließen ist, dass sich der amerikanische Waggon anderen anhängen würde, falls diese eine Bewegung anstoßen würden.

Kann Kanada etwas anderes sein als die Außenprovinz der Vereinigten Staaten, ähnlich wie Australien? Es fällt schwer, sich Kanada anders vorzustellen, trotz der politischen Traditionen des englischsprachigen Landesteils und der kulturellen Ablehnung Quebecs, wo die wichtigsten politischen Kräfte, die in der Frage der sprachlichen Dimension ihres Widerstands gespalten sind, keine Ablösung von der Wirtschaft ihres großen Nachbarn ins Auge fassen.

Japan

Japan ist das Land der vorherrschenden kapitalistischen Wirtschaft bei gleichzeitigen nicht-europäischen kulturellen Vorläufern. Welche der beiden Dimensionen wird überwiegen: die Solidarität mit den Partnern der »Triade« (USA und Europa) gegen den Rest der Welt oder der von der »Asienorientierung« unterstützte Wille zur Unabhängigkeit? Die Reflexionen bzw. Elaborate über dieses Thema füllen für sich allein eine ganze Bibliothek.

Die Analyse der Geopolitik der heutigen Welt führt mich zum Schluss, dass Japan wie Deutschland aus denselben Gründen im Kielwasser Washingtons bleiben wird. Ich messe hier den strategischen Optionen Washingtons nach dem Zweiten Weltkrieg große Bedeutung bei. Die Vereinigten Staaten hatten damals beschlossen, ihre zwei Gegner – die einzigen, die den unvermeidlichen Aufschwung der Vereinigten Staaten zur potenziellen Hegemonialmacht bedroht hatten – nicht zu zerstören, sondern sie im Gegenteil beim Wiederaufbau zu unterstützen und zu zwei treuen Verbündeten zu machen. Der offenkundige Grund dafür ist, dass es damals eine reale »kommunistische« Bedrohung gab. Doch Beijing ist heute noch immer ein möglicher Gegner, wie nicht nur der Konflikt um die Inseln im Chinesischen Meer zeigt.

Gibt es Hinweise auf eine volksnahe nationale japanische Reaktion? Die Fassade des Konformismus ist trotz Abflauen des Wirtschaftswunders und der herrschenden Einheitspartei zweifellos nur geringfügig angeschlagen. Dahinter verbirgt sich aber ein wiederholt aufflammender Minderwertigkeitskomplex gegenüber China. Die Annäherung an China, die diese Denkrichtung anregen könnte, ist jedoch unwahrscheinlich. Einerseits, weil das vorherrschende imperialistische Kapital in Japan ist, was es ist. Andrerseits, weil die Chinesen und die Koreaner dies unabhängig von ihrem – berechtigten – Misstrauen gegenüber der Feindmacht von gestern ebenfalls wissen.

Großbritannien und Frankreich

Hätte der Keim einer Veränderung in Europa mehr Chancen als in den Vereinigten Staaten? Intuitiv denke ich das. Der erste Grund für diesen relativen Optimismus hängt damit zusammen, dass die europäischen Nationen eine reiche Geschichte aufweisen, wovon die unglaubliche Fülle an beeindruckenden Überresten aus dem Mittelalter zeugt. Meine Interpretation dieser Geschichte ist gewiss nicht die des vorherrschenden Eurozentrismus, dessen Mythen ich ablehne. Meine These ist im Gegenteil, dass dieselben Widersprüche, die die mittelalterlichen Gesellschaften kennzeichneten und durch die Erfindung der Moderne überwunden wurden, auch anderswo wirkten. Dennoch lehne ich ebenso entschieden die »antieuropäischen« Elaborate gewisser Intellektueller aus der Dritten Welt ab, die sich zweifellos davon überzeugen wollen, dass ihre Gesellschaften fortschrittlicher waren als das »zurückgebliebene« mittelalterliche Europa. Sie übersehen dabei, dass der Mythos vom zurückgebliebenen Mittelalter selbst ein Ergebnis der nachträglichen Einschätzung der europäischen Modernität ist.

Da Europa sowieso als Erstes den Schritt in die Modernität vollzogen hat, hat es sich seither Vorteile verschafft, die zu leugnen unsinnig wäre. Europa ist natürlich trotz einer gewissen Homogenisierung, die gerade stattfindet, und des »Europa«-Diskurses vielseitig. Die Impulse für die Modernität wurden in Großbritannien und Frankreich gesetzt. Dieses harte Urteil bedeutet nicht, dass diese Modernität nicht auf ältere Wurzeln zurückgeht, insbesondere auf solche in den italienischen Städten und den Niederlanden.

England erlebte in den Anfangszeiten der neuen kapitalistischen (merkantilistischen) Verhältnisse eine sehr stürmische Phase; es verwandelte sich vom mittelalterlichen »Merry England« in das traurige puritanische England, exekutierte im 17. Jahrhundert seinen König und rief die Republik aus. Danach beruhigte sich alles; England durchlief im 18. Jahrhundert die Phase der Erfindung der modernen, wenn auch auf dem Zensuswahlrecht beruhenden Demokratie und im 19. Jahrhundert jene der durch die Industrielle Revolution eingeleiteten Akkumulation ohne größere Konflikte. Zwar nicht ohne Klassenkämpfe, die im Chartismus des 19. Jahrhunderts gipfelten, aber ohne dass diese Kämpfe sich so sehr politisiert hätten, dass sie das System als Ganzes infrage gestellt hätten.

Frankreich durchlebte dieselben Phasen in einer ununterbrochenen Reihe von heftigen politischen Konflikten. Es ist die Französische Revolution, in der die politischen und kulturellen Dimensionen der Modernität erfunden wurden, die im Widerspruch zum Kapitalismus stehen; es ist Frankreich, wo sich die Kämpfe der Unterschichten, obwohl sie wesentlich weniger konzentriert waren als in England, dem damals einzigen Land mit wirklichen Proletariern, ab 1793 und erneut 1848 und 1871 sowie nochmals 1936 rund um sozialistische Ziele im engeren Sinn des Wortes politisieren. In England hat es kein 1968 gegeben.

Für diesen unterschiedlichen Verlauf gibt es natürlich mehrere Erklärungsversuche. Marx war hier sehr sensibel darauf, und es ist kein Zufall, dass er das Augenmerk seiner Analyse stark auf diese zwei Gesellschaften legte, um ausgehend von den Erfahrungen in England eine Kritik der kapitalistischen Wirtschaft und ausgehend von jenen in Frankreich eine Kritik der modernen Politik zu liefern.

Die britische Vergangenheit erklärt vielleicht, mit welcher Geduld das britische Volk heute den Niedergang der Gesellschaft erduldet. Diese Passivität erklärt sich vielleicht dadurch, dass der britische Nationalstolz auf die Vereinigten Staaten übergegangen ist. Für die Briten sind die Vereinigten Staaten nicht ein fremdes Land unter anderen; sie sind nach wie vor ihr verlorener Sohn; und bekanntlich hat England seit 1945 darauf gesetzt, sich bedingungslos in das Fahrwasser der Vereinigten Staaten zu begeben. Die außerordentliche Vorherrschaft des Englischen trägt dazu bei, diesen Niedergang zu leben, ohne ihn vielleicht in seiner ganzen Tragweite zu erfassen. Die Engländer erleben ihren vergangenen Glanz sozusagen stellvertretend durch die USA.

Großbritannien bleibt für die Zukunft Europas weiter eine entscheidende Macht. Auch wenn der »Brexit« den unvermeidlichen Zerfall des absurden Aufbauprojekts EU ankündigt, stellen die politischen Strömungen, die seinen Sieg ermöglicht haben, weder die reaktionäre Gesellschaftsordnung des Liberalismus noch die Orientierung an Washington infrage. Zudem bleibt im System des globalisierten Liberalismus die Londoner City als privilegierte Verbündete der Wall Street in der Position der Stärke und keine Finanzmetropole des Kontinents kann auf ihre Dienste verzichten. Die Geschichte ist dennoch weder in Großbritannien noch anderswo an ihrem Endpunkt angelangt. Mein Gefühl sagt mir, dass dieses Land nur und erst dann auf den Zug der Veränderung aufspringen wird können, wenn es die Nabelschnur durchtrennt, die es an die USA bindet. Momentan sind dafür nicht die geringsten Anzeichen zu erkennen.

Deutschland

Deutschland und Japan sind die zwei brillanten Sekundanten der Vereinigten Staaten, mit denen sie die wirkliche Triade – die G3 – bilden (eher Vereinigte Staaten, Deutschland und Japan als Nordamerika, Europa und Japan).

Weder Deutschland noch Italien noch Russland hätten zur kapitalistischen Modernität aufschließen können, wenn nicht Deutschland und Frankreich Breschen eröffnet hätten. Damit möchte ich nicht sagen, dass die Völker dieser Länder aus irgendwelchen mysteriösen Gründen unfähig zu dieser Entwicklung gewesen und sie dem anglo-französischen Genius vorbehalten wären. Ich will damit sagen, dass hier die Möglichkeiten für eine analoge Entwicklung nicht gleichermaßen gegeben waren wie in anderen Regionen der Welt – beispielsweise in China, Indien oder Japan. Ist der Eintritt in die kapitalistische Modernität einmal geschafft, gestaltet jedes Volk sie auf seine Weise, ob aus der Position eines neuen Zentrums oder jener einer beherrschten Peripherie.

Ich lese die Geschichte Deutschlands im Lichte dieser grundlegenden methodischen Wahl; und erkläre mir so, warum der deutsche Nationalismus, der durch die preußischen Ambitionen eingeleitet wurde, die von Marx beklagte Dürftigkeit der Bourgeoisie kompensiert hat. Das Ergebnis war eine autokratische Führungsform dieses neuen Kapitalismus in ethnizistischer Form, die sich (im Gegensatz zur universalistischen englischen und vor allem französischen und russischen Ideologie) auf den Nationalismus stützte. Es war auch ein Faktor, der die verbrecherischen und verrückten Auswüchse des Nationalsozialismus begünstigte. Es war aber auch im Anschluss an die Katastrophe ein wirkmächtiges Motiv für den von den USA unterstützten Aufbaus dessen, was einige als »Rheinischen Kapitalismus« bezeichnet haben. Eine kapitalistische Form, die sich geflissentlich für eine dem anglo-franko-amerikanischen Modell abgeschaute Demokratisierung entschied. Die aber ohne tiefgreifende lokale historische Wurzeln ist, denn die Weimarer Republik (der einzige demokratische Moment in der deutschen Geschichte) war nur kurzlebig und der Sozialismus in der DDR gelinde gesagt zweideutig. Der »Rheinische Kapitalismus« ist, verglichen mit dem extremistischen angelsächsischen Modell oder dem »jakobinischen« Etatismus in Frankreich, kein »guter Kapitalismus«. Alle unterscheiden sich voneinander, aber alle kranken am selben Übel, dem des Spätkapitalismus, der sich durch eine Vorherrschaft destruktiver Faktoren auszeichnet. Im Übrigen sind die Kapitel »Rheinischer Kapitalismus« und »Staatskapitalismus« inzwischen abgeschlossen; der »angloamerikanische« globalisierte Kapitalismus setzt sein exklusives Modell in ganz Europa und Japan durch.

Kurzfristig scheint die Position Deutschlands – in der Globalisierung unter amerikanischer Hegemonie, ebenso wie diejenige von Japan – komfortabel. Und die Wiederaufnahme der Expansion gegen Osten durch eine Art Lateinamerikanisierung der osteuropäischen Länder nährt die Illusion, dass die Entscheidung Berlins von Dauer sein könnte. Diese Option begnügt sich problemlos mit einer Demokratie niedriger Intensität und wirtschaftlicher wie sozialer Mittelmäßigkeit, unterstützt durch die Entscheidungen des europäischen Maastricht-Systems und des Euro. Doch sollten die politischen Klassen der klassischen christlichen und liberalen Rechten wie der sozialdemokratischen Linken starrköpfig weiter auf diesem ausweglosen Weg beharren, ist nicht auszuschließen, dass erneut ein rechter, faschistoider Populismus aufkommt, auch wenn es kein Remake des Nationalsozialismus ist. Die Wahlerfolge des Front National in Frankreich zeugen vom allgemeinen Vorhandensein einer solchen Gefahr in Europa. Längerfristig dürften sich die Schwierigkeiten Deutschlands verschärfen und nicht abnehmen. Die wirtschaftlichen Stärken des heutigen Deutschland beruhen auf den klassischen industriellen Fertigungen (Mechanik, Chemie), die zu ihrer Erneuerung immer mehr anderenorts erfundene Software integrieren. Genauso wenig ist – wie anderenorts auch – ausgeschlossen, dass das deutsche Volk eine positive Antwort geben könnte und sich bewusst würde, dass es jenseits der ausgetretenen Pfade eine Veränderung einzuleiten gilt. Ich glaube, wenn Frankreich (das dann Deutschland mitziehen würde) und Russland stärker die Initiative ergreifen würden, eine andere Zukunft für Europa möglich wäre. Diese Möglichkeit könnte im gleichen Zug die positiven Bewegungen wiederbeleben, die es ansatzweise in den nordischen und den Mittelmeerländern gab, die aber schnell unterbrochen wurden.

Südeuropa

Italien stand nach dem »langen Jahr 1968« ab den 1970er-Jahren einen Augenblick lang im Zentrum der Reflexion und der kritischen Aktion. Die Bewegung war mächtig genug, um trotz der Abschottung der KPI den damaligen »Mitte-links-Staat« in gewisser Weise zu beeinflussen. Dieses schöne Blatt der Geschichte Italiens ist jedoch längst gewendet. Man kann sich daher nur fragen, worin die Schwächen der Gesellschaft liegen, die das zugelassen haben. Ein nicht besonders ausgeprägter staatsbürgerlicher Sinn, der sich vielleicht aus der Tatsache erklärt, dass die Herren des italienischen Staates meist im Ausland waren und die betroffenen Völker in ihnen nur Gegner sahen, die es möglichst zu täuschen galt. Diese Schwäche drückt sich im Wiederaufkommen eines Populismus aus, der sich aus einem Erstarken des faschistischen Bodensatzes nährt. In Italien wie in Frankreich geschah die Befreiung während der Zeit des Zweiten Weltkriegs gleichsam durch einen Bürgerkrieg. Die Faschisten waren daher gezwungen, sich in den Jahrzehnten nach 1945 zu verstecken, sie sind aber nie wirklich verschwunden. Die Wirtschaft des Landes bleibt trotz der Tatsache, dass die Mehrzahl der Italiener bis zur gegenwärtigen Krise einen relativ hohen Lebensstandard genossen hat, fragil. Doch die uneingeschränkte Orientierung auf Europa, die die gesamte politische Szene Italiens erfasst hat, ist meines Erachtens hauptverantwortlich für die Sackgasse, in die das Land geschlittert ist.

Dieselbe unreflektierte Unterstützung des europäischen Projekts hat zum Niedergang des möglichen radikalen Potenzials der Volksbewegungen geführt, die den Faschismus in Spanien, Portugal und Griechenland beendeten.

Dieses Potenzial war in Spanien begrenzt, wo der Franquismus schlicht durch den Tod seines Begründers dahinstarb, während der Übergang zur Post-Franco-Ära von derselben Bourgeoisie vorbereitet worden war, die das Rückgrat des spanischen Faschismus gebildet hatte. Die drei Bestandteile der Arbeiter- und Volksbewegung, die Sozialisten, die Kommunisten und die Anarchisten, waren durch eine bis spät in die 1970er-Jahre hinein dauernde blutige Diktatur, die von den Vereinigten Staaten im Austausch gegen ihren Antikommunismus und die Einwilligung zur Errichtung amerikanischer Militärbasen unterstützt worden war, entwurzelt worden. 1980 machte Brüssel den Eintritt in die NATO, also die definitive Formalisierung der Unterwerfung des Landes unter das Hegemoniestreben Washingtons, zur Bedingung für den Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft (EG). Die Arbeiterbewegung hatte über sogenannte »Arbeiterkommissionen«, die während der 1970er-Jahre im Untergrund gebildet worden waren, dennoch versucht, eine Rolle im Übergang zu spielen. Es wurde jedoch offensichtlich, dass dieser radikale Flügel der Bewegung, dem es nicht gelungen war, die Unterstützung anderer Teile der Volksklassen und der Intellektuellen zu gewinnen, der reaktionären Bourgeoisie die Kontrolle über den Übergang nicht entreißen konnte.

Dem Aufstand der Streitkräfte in Portugal, der im April 1974 das Regime Salazar beendete, folgte eine gigantische Explosion im Volk, wobei die Kommunisten der offiziellen KP und die Maoisten das Rückgrat dieser Bewegung bildeten. Die Niederlage dieser Strömung innerhalb der Führungsgruppe selbst zerbrach die kommunistische Führungsrolle, wobei Sozialisten, die Kompromisse mit dem Kapital eingingen, davon profitierten. Seither ist das Land politisch wieder völlig eingeschlafen.

Auch in Griechenland drängte sich der Entscheid zugunsten Europas nach dem Sturz der Generäle nicht unbedingt auf. Während des Zweiten Weltkriegs war es der KP wie in Jugoslawien gelungen, eine antifaschistische Einheitsfront um sich herum aufzubauen. Griechenland und Jugoslawien hatten sich nicht einfach nur den deutschen Angreifern »widersetzt« wie andere auch, sondern nie aufgehört, einen regelrechten Krieg zu führen, der eine entscheidende Rolle im plötzlichen Zusammenbruch der italienischen faschistischen Armeen 1943 spielte und wichtige deutsche Armeeeinheiten in diesem Gebiet band. Der griechische Widerstand, der 1945 in eine Revolution mündete, wurde durch das Eingreifen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens niedergeschlagen. Die griechische Rechte ist zudem verantwortlich für die Integration des Landes in die NATO, in deren Rahmen sich das europäische Projekt einpasst, wovon ausschließlich die »kosmopolitische« Kompradoren-Bourgeoisie profitiert.

Die Vertiefung der Systemkrise des Monopolkapitalismus endet in den schwächeren Ländern Südeuropas in einer beispiellosen sozialen Katastrophe. Diese trifft auch die Länder Osteuropas hart, die auf den Status von Halbkolonien Westeuropas und insbesondere Deutschlands reduziert sind. So ist verständlich, dass in jüngster Zeit riesige populäre Bewegungen (Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien) entstanden sind und mit ihrer Ablehnung der von Berlin und Brüssel aufgezwungenen Sparpolitik einige glänzende Wahlresultate erzielt haben. Man muss aber festhalten, dass die öffentliche Meinung in den betreffenden Ländern noch nicht zur Vorstellung gelangt ist, dass das EU-europäische System abgebaut werden muss; lieber stecken sie den Kopf in den Sand und reden sich ein, dieses Europa sei reformierbar. Ihre Bewegungen sind daher bislang gelähmt.

Nordeuropa

Aus anderen Gründen sind die nordischen Länder dem europäischen Projekt gegenüber noch lange misstrauisch geblieben.

Schweden versuchte in den 1980er-Jahren unter der Führung von Olof Palme, eine globalisierte, internationalistische und neu­trale Haltung voranzutreiben. Nachdem das Land auf Europakurs eingeschwenkt war, vollzog es eine abrupte Kehrtwende und die Sozialdemokratie rutschte nach rechts. Diese Kehrtwende macht es gleichwohl nötig, über die Schwächen des außerordentlichen Versuchs Schwedens nachzudenken: die vielleicht zu starke Persönlichkeit Palmes, die Illusionen der Jugend, die lange in einem relativ isolierten Land eingesperrt war und nach 1968 erst spät und mit einer guten Dosis Naivität die Welt entdeckte, aber auch die glanzlose Zeit des Zweiten Weltkriegs, die zu lange verborgen blieb.

Die aus Kleinbauern und Fischern bestehende norwegische Gesellschaft kennt im Gegensatz zu Schweden und Dänemark keine aristokratische Klasse und ist aus diesem Grund in Sachen Gleichheit ganz besonders sensibel. Das erklärt zweifellos die relative Macht ihrer extrem linken Partei und die radikale Einstellung ihrer Sozialdemokratie, die bislang auf ihre Art dem Sirenengesang Europas widersteht. Die Grünen sind hier früher aufgekommen als in anderen Ländern. Im Gegensatz dazu bremsen die Mitgliedschaft in der NATO und der finanzielle Wohlstand, den Norwegen aus den Erdölreserven der Nordsee bezieht (ein auf die Dauer korrumpierender Wohlstand), zweifellos diese positiven Tendenzen.

Die Unabhängigkeit, in die Finnland während der Russischen Revolution kampflos entlassen wurde (Lenin hatte sie ohne jedes Zögern akzeptiert), entsprach weniger einem einheitlichen Willen, wie oft behauptet wird. Das Großherzogtum genoss im Russischen Reich bereits seit Langem eine sehr umfassende, von der damaligen Öffentlichkeit als zufriedenstellend beurteilte Autonomie; und die führenden Klassen dienten dem Zar mit derselben Aufrichtigkeit wie die baltischen Staaten. Die Volksklassen waren für das Programm der Russischen Revolution nicht unempfänglich. Deshalb löste die Unabhängigkeit die Probleme des Landes nicht. Das geschah erst durch einen Bürgerkrieg im Inneren, der letztlich knapp von der Reaktion gewonnen wurde (mit Unterstützung des imperialen Deutschlands und seiner Verbündeten), die später in den Faschismus abglitt, mit dem sie während des Zweiten Weltkriegs verbündet war. Was man als »Finnlandisierung« bezeichnet und in der NATO-Propaganda als inakzeptabler Status dargestellt wird, war in Wirklichkeit nur eine Neutralität (wenn auch ursprünglich durch den Friedensvertrag erzwungen), die eine der Grundlagen für einen dem atlantischen Projekt überlegenen europäischen Wiederaufbau hätte bilden können. Wird es den Druckversuchen seitens der EU, die auf Währungsebene erfolgreich waren (da Finnland beim Euro mitmacht), gelingen, an diesem historisch interessanten Erbe zu knabbern?

Kann man etwas von Dänemark erwarten, dessen Wirtschaft zu sehr von jener Deutschlands abhängt? Diese Abhängigkeit wird neurotisch ausgelebt, wovon eine Serie von widersprüchlichen und konfusen Abstimmungen zur Frage des Euro zeugt; mir scheint aber nicht, dass sie von der klassischen Sozialdemokratie in diesem Land infrage gestellt werden kann. Das »rot-grüne Bündnis« ist daher ziemlich isoliert.

Was die Niederlande betrifft, darf nicht vergessen werden, dass dort im 17. Jahrhundert noch vor England und Frankreich eine bürgerliche Revolution stattgefunden hat. Doch die bescheidene Größe der Vereinigten Provinzen hinderte dieses Land an der Umsetzung dessen, was seine konkurrierenden Schüler taten. Obwohl das kulturelle Erbe dieser Geschichte nicht verloren gegangen ist, entwickelte sich das wirtschaftliche und finanzielle System der Niederlande unterdessen im Schoß der deutschen Mark bzw. später des Euro.

Ist Europa in der Lage, die Bedeutungslosigkeit seiner politischen Stellung in der Welt abzuschütteln? In den 1970er- und 1980er-Jahren hatte ich gedacht, dass in Europa die Schaffung einer »neutralistischen« Nord-Süd-Achse zwischen Schweden, Finnland, Österreich, Jugoslawien und Griechenland denkbar wäre und positive Auswirkungen sowohl auf die westeuropäischen Kernländer als auch auf die Länder Osteuropas hätte haben können. Sie hätte Ersteren geholfen, über ihre atlantische Ausrichtung nachzudenken, was vielleicht in Frankreich auf positive Resonanz gestoßen wäre. Charles de Gaulle lebte nicht mehr, und die Gaullisten hatten die Vorbehalte des Generals gegenüber der NATO tatsächlich vergessen. Eine solche Achse hätte vielleicht auch dazu beitragen können, in osteuropäischen Ländern die Chancen für einen Wechsel auf Mitte-Links-Positionen zu erhöhen und ihren späteren Rechtsrutsch zu verhindern. Dieses Projekt hätte eventuell den Aufbau eines authentischen »anderen Europas« eingeleitet, das wirklich sozial und daher offen für die Erfindung eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts gewesen wäre, der seine konstituierenden Nationen respektiert, unabhängig von den Vereinigten Staaten ist und in den Ländern unter sowjetischem Einfluss eine Reform ermöglicht, die diesen Namen verdient. Dieser Aufbau eines Europas jenseits von Brüssel, das sich damals auf eine Wirtschaftsgemeinschaft von noch begrenztem Umfang beschränkte, war möglich. Es war mir gelungen, diese Ideen linken Führungskräften der betroffenen Länder zur Kenntnis zu bringen, und ich hatte den Eindruck, dass sie ihnen nicht abgeneigt waren. Doch daraus folgte nichts.

Die europäischen Linksparteien haben das Ausmaß der Herausforderung nicht erkannt und die Entfaltung des Brüsseler Projekts unterstützt; eines von Anfang an reaktionären Projekts, das von Jean Monnet konzipiert wurde, dessen deutlich antidemokratische Ansichten bekannt sind, wie in Jean-Pierre Chevènements Buch La faute de M. Monnet dargelegt. Die kommunistischen Parteien hatten das verstanden. Doch damals war die Alternative eines »sowjetischen« Europas nicht mehr glaubwürdig. Ihre anschließende bedingungslose Unterstützung war nicht besser, auch wenn sie als »Eurokommunismus« getarnt war.

Heute hat die Europäische Union nicht nur die Völker des Kontinents in eine Sackgasse geführt, die sich im zweifachen Entscheid für »liberal« und »atlantisch« (der NATO) konkretisiert, sondern sie ist auch zum Instrument der Amerikanisierung Europas geworden, indem sie die politische Kultur des Konflikts europäischer Tradition durch die US-amerikanische Kultur des Konsenses ersetzt hat. Die definitive EU-europäische Unterstützung des atlantischen Bündnisses, die auf dem Bewusstsein der Vorteile der Ausbeutung des Planeten zugunsten des Imperialismus der Triade beruht, ist nicht undenkbar, ja sie schreitet voran. Der »Konflikt« mit den Vereinigten Staaten dreht sich eigentlich nur um die Aufteilung der Beute. Sollte das Projekt jemals gegen alle Widerstände vorangetrieben werden, wären die EU-Institutionen zum Haupthindernis für den Fortschritt der europäischen Völker geworden.

Der europäische Wiederaufbau erfordert daher den Rückbau des bestehenden Projekts. Sind die Infragestellung des europäisch-atlantischen Projekts in seiner jetzigen Form und die Herausbildung eines alternativen Aufbaus eines sozialen, gegenüber dem Rest der Welt nicht imperialistischen Europas heute noch denkbar? Ich glaube schon, und ich glaube sogar, dass der von irgendeinem Pol ausgehende Beginn dieses Aufbaus bald in ganz Europa auf positive Resonanz stoßen könnte. Eine authentische Linke sollte auf jeden Fall nicht anders denken. Ich vermute, dass ein Wandel nur eingeleitet werden kann, wenn Frankreich einige mutige Initiativen in diese Richtung ergreift. Dann würde es Deutschland und damit das übrige Europa mitziehen. Dann wäre der Weg frei für eine Annäherung an China und Russland. Europa, dessen Status auf der internationalen politischen Bühne durch seine Unterstützung für Washingtons Plan der Weltherrschaft zur Bedeutungslosigkeit verurteilt ist, könnte dann seine Wirtschaftskraft in den Dienst des Wiederaufbaus einer echten polyzentrischen Welt stellen. Andernfalls würde »der Westen« amerikanisch, Europa deutsch und der Nord-Süd-Konflikt zentral bleiben und Fortschritte nur in den Peripherien des globalen Systems denkbar sein, ein »Remake« des 20. Jahrhunderts.

Abschließend möchte ich daran erinnern, dass das System der neoliberalen Globalisierung in seine Endphase eingetreten ist und seine Implosion sichtbar wird, wovon unter anderem der »Brexit«, die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten und der Aufstieg von Faschismen zeugt. Das wenig glorreiche Ende dieses Systems eröffnet eine potenziell revolutionäre Situation in allen Regionen der Welt. Dieses Potenzial wird sich aber nur dann realisieren, wenn die Kräfte der radikalen Linken diese Gelegenheit ergreifen und mutige Offensivstrategien entwerfen und umsetzen werden, die angesichts des Kosmopolitismus des Finanzkapitals der imperialistischen Mächte auf dem Wiederaufbau des Internationalismus der Arbeiter und Völker basieren. Ist dies nicht der Fall, dann trägt auch die betroffene Linke im Westen, im Osten und im Süden die Verantwortung für die Katastrophe.