3.

Gerlinde erwartete ihn mit einem Gugelhupf. »Es tut mir leid«, sagte sie, »ich habe die Koffer weggeräumt«, und nahm ihm den Mantel ab. Sie gab ihm einen Kuss. »Ich habe nachgedacht«, meinte sie dann, »ich bin durch meine alten Sachen gegangen, habe die Telefonnummern von Marie, Luise und Steffi gesucht, ich habe sie gefunden und der Reihe nach angerufen ...«

Jetzt erst bemerkte Gustav, wie hübsch sich Gerlinde gemacht hatte. Das Kleid betonte ihre Figur, sie hatte sich die Augen und die Lippen geschminkt und sie trug die Perlenkette, die ihr Gustav zum zehnten Hochzeitstag geschenkt hatte. Selbst die Fingernägel waren lackiert.

Vielleicht hat sie sogar Strümpfe angezogen, dachte Gustav.

Es habe ihr gut getan, mit den alten Freundinnen zu sprechen, berichtete Gerlinde. Mit Marie habe sie sich besonders prächtig verstanden, mit der warmen, herzlichen Marie. Aber auch mit Luise und Steffi sei es fast wie früher gewesen. »Ist es nicht erstaunlich«, schwärmte Gerlinde, »da sieht man sich jahrelang nicht und trotzdem ist es, als habe man erst gestern miteinander gesprochen.« Jedenfalls hätten sie beschlossen, sich schon am nächsten Abend zu treffen, in ihrem alten Stammlokal.

So hatte Gustav Gerlinde schon lange nicht mehr erlebt. Sie lachte. Sie funkelte. Sie sprühte. Er hätte gerne gefragt, ob sie für den Rest der Ferien Pläne habe, aber er schwieg lieber und hörte ihr zu.

»Du hattest natürlich recht, Gustav«, sprudelte Gerlinde weiter, »alle haben gesagt: ›So eine Riesendummheit, Gerlinde, ihr hättet auf jeden Fall fliegen müssen, diese Chance lässt man sich nicht entgehen.‹ Wir hätten es einfach wagen müssen, Gustav, es tut mir leid, es war dumm von mir.«

Gustav hob die Hand, um sie zu beschwichtigen, aber Gerlinde fuhr munter fort: »Die Freundinnen haben mich so richtig in den Hintern gezwickt, Gustav. ›So geht das nicht weiter mit euch‹, haben sie gesagt, und: ›Gerlinde, du musst etwas tun.‹ Luise meinte, die Flugangst sei meine Rache, weil du mich einsperrst, Gustav. Luise ist Psychologin, erinnerst du dich an sie? Ich habe natürlich widersprochen, aber das hat sie in ihrer Meinung nur bestärkt. Es sei schon eine Sache mit dem Beharrungsvermögen, meinte sie, mitten in der schrecklichsten Katastrophe und selbst noch im Angesicht des Todes klammere man sich an eine gewohnte Ordnung und sei lieber still und behaupte, alles sei gut, statt zu weinen und zu toben und die Angst oder die Wut hinauszuschreien in das Chaos rundum. Sie hat gefragt, wie es mit uns im Bett stehe, aber natürlich habe ich keine Vertraulichkeiten preisgegeben, Vertraulichkeit kommt von Vertrauen, Gustav, das ist mir vollständig klar. Selbstverständlich ist Vertrauen das Wichtigste. Das Problem ist nur: Vertrauen macht blind, Gustav, Vertrauen macht dumm. Wenn man vertraut, gibt man die Wachsamkeit auf und die Fähigkeit, zu beobachten, man gibt das Interesse auf, an Veränderungen zum Beispiel, weil man glaubt, es sei alles gut, so wie es ist. Man kann vertrauen und tun, als lebe man in einer heilen Welt. Aber manchmal vertraut man zu lange, und man verschließt die Augen vor einer Wahrheit, die bitter ist, Gustav, bis eines Tages jemand die Lider aufreißt und man merkt, dass nichts heil ist, sondern alles einer Veränderung bedarf, und zwar einer Veränderung, die bis in die Wurzeln reicht. Ja. Jedenfalls glaube ich, dass es mir den Deckel weggerissen hat, Gustav, ich habe die Augen aufgemacht, ich habe geschaut und ich habe etwas gesehen, was mir überhaupt nicht gefällt. Ich meine damit nicht nur den Garten und die Rosen, ich meine dieses Haus und diese Siedlung und dieses Leben, Gustav, welche ein lächerliches Haus und eine lächerliche Siedlung und ein jämmerliches Leben sind. Wären wir geflogen, hätten wir aus unseren Leben mehr gemacht, Gustav, wir hätten die Chance wahrgenommen und ...«

Gustav vermutete, dass der Umgang mit den Freundinnen ihr wieder nicht gut bekommen sei. »Sie haben dir Flausen in den Kopf gesetzt«, sagte er.

»Keine Flausen«, entgegnete Gerlinde, »aber es wird trotzdem höchste Zeit, Gustav, dass wir etwas tun, das wild und ungewöhnlich ist.«

Gustav meinte, ihn dünke ihr ganzes Verhalten schon ungewöhnlich wild genug.

Gerlinde lachte. »Als ich heute am Fenster gesessen bin und in den Garten geschaut habe, unseren Garten, Gustav, der mir doch immer das Liebste war, da habe ich gemerkt, wie oft ich schon an genau derselben Stelle im selben Sessel gesessen und durch dasselbe Fenster geschaut habe und damit zufrieden war und überzeugt, dass die Zufriedenheit das höchste Menschenglück bedeutet, Gustav, habe ich nicht oft und oft gesagt: ›Es gibt kein größeres Glück als die Zufriedenheit?‹ Habe ich das nicht wirklich und ehrlich gemeint? Heute Mittag allerdings, wie ich also heute Mittag in den Garten geschaut habe, der mir immer als Zeichen unserer Gemeinsamkeiten erschienen ist, Gustav, als Zeichen des Lebenswillens unserer Ehe, da habe ich geweint, Gustav. Weißt du noch, wie wir gesucht haben, bis wir endlich die Gartenmöbel hatten, die wir wollten, Gustav? Alle meinten, weiße Plastikmöbel müssten es sein, weil weiße Plastikmöbel so praktisch sind. Aber du hast gesagt: ›Nein, Holz! Damit ich in den Tisch zwei Herzen ritzen kann.‹ Mir sind die Tränen nur so geronnen heute Mittag. Draußen hat es geregnet, und ich habe geweint, weil unsere Ehe doch ganz offenbar zu einem Möbel geworden ist, und noch nicht einmal ein Holzmöbel, sondern ein weißes Plastikmöbel; und wenn dieses Möbel trotzdem zu diesem lächerlichen Gärtchen passt, Gustav, ich habe nämlich ein lächerliches Taschentuchgärtchen gesehen mit lächerlichem Gras und Rosenstöcken, von denen traurig der Regen getropft ist, dann ist das so deprimierend, Gustav, dass du dir gar nicht vorstellen kannst, wie deprimierend es ist. Ich habe mir einen Ruck geben müssen. Ich bin durch die alten Sachen gegangen und habe die Freundinnen angerufen, um wenigstens auf andere Gedanken zu kommen. Zum Glück, denn sie haben ...«

Aber sie solle sich doch nun endlich beruhigen, fiel ihr Gustav wieder ins Wort, »ich verspreche dir wirklich, deine Rosen rühr ich nicht an.«

Es gehe ihr doch schon lange nicht mehr nur um die Rosen, widersprach Gerlinde.

Er habe das schon verstanden, sagte Gustav, ihm gehe es nämlich auch nicht um eine Palme, sondern um mehr. Er sagte, wenn er es nicht zum Meer schaffe, dann müsse das Meer halt zu ihm kommen. Er sagte, die Idee sei ihm in den Kopf geraten und daraus nicht mehr verschwunden, und wie der Zufall es so wolle, habe er inzwischen nette Leute kennen gelernt, drüben in Eichgraben im Gasthof zur Post. Diese Leute seien bereit, ihm bei seinem Unternehmen zu helfen. Er werde ein Aquarium anlegen, im Keller, damit sie und ihre Rosen unbehelligt blieben.

Gerlinde schüttelte, je länger er sprach, umso heftiger den Kopf. »Erstens kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte sie schließlich, »dass du dein Aquarium vor mir verstecken musst, Gustav, es gehört in den Salon, weil ein Meer eine Aussicht braucht und einen schönen Platz.« Zweitens glaube sie, dass es mit einem Aquarium nicht getan sei. »Wir müssen etwas tun«, sagte Gerlinde, »damit wir später einmal schöne Erinnerungen haben.« Sie besitze ja noch immer die nette Summe, die sie damals von Tante Hedwig geerbt habe, das Geld liege an einem sicheren Ort, und jetzt sei der richtige Moment gekommen, um es zu nützen. »Die Flugangst ist dumm«, sagte Gerlinde, »aber ich will trotzdem nicht in ein Flugzeug steigen. Lass uns mit der Eisenbahn fahren, Gustav, wir könnten nach Athen oder Istanbul fahren, wir könnten auf einen Dampfer steigen, der uns irgendwohin bringt, nach Afrika oder nach Indien und vielleicht sogar bis in die Südsee. Wäre das nicht wie ein Traum, Gustav, zu Land und zu Wasser bis ans andere Ende der Welt? Wir haben eine Reise verdient, Gustav, wir sind sie uns schuldig, und zwar nicht nur zwei Wochen, sondern ein paar Monate lang, und wenn wir einmal unterwegs sind, haben wir alle Zeit der Welt zum Reden und Nachdenken, und wir können uns überlegen, ob wir überhaupt zurückkehren wollen in unser Taschentuchgärtchen, oder ob wir lieber ein neues Leben anfangen möchten, Gustav, ein neues Leben mit neuen Freunden und ... Aber jetzt schau doch nicht so bekümmert, Gustav! Lass uns einfach eine Reise machen, angezogen und nackt, essend und trinkend, lachend und redend und schlafend und stumm.«

Gustav merkte, dass ihn Gerlindes Begeisterung erschreckte. Aber er merkte auch, dass ihn nicht nur die Begeisterung erschreckte, sondern noch viel mehr die Aussicht, auf unbestimmte Zeit verreisen zu müssen und schutzlos Gerlindes jähen Stimmungswechseln ausgeliefert zu sein. Er beschwor sie, nur ja nichts Unüberlegtes zu tun. Er bat, doch wenigstens eine Weile zu warten und zu schauen. »Man kann auch das Kind mit dem Bad ausschütten«, sagte er, »man kann auch den Bogen überspannen und man kann in die Grube fallen, die man gerade gräbt.« Seine Karriere gab er zu bedenken und die Hypothek auf dem Haus, die schon fast abbezahlt war. Er verzögerte und bremste, so gut es ging, er meinte, er brauche jetzt kein anderes neues Leben und keine anderen neuen Freunde, weil er ja gerade ein neues Leben und neue Freunde gefunden habe, und er meinte zum Schluss, dass Revolutionen nie die Tyrannei abschüttelten, sondern das Joch bloß auf andere Schultern legten.

Gerlinde lachte. So kenne sie ihn nicht, meinte sie.

Es nützte nichts, Gustav blieb hart. Sie könnten in keinem Fall sofort aufbrechen, weil er im Moment mit zu Wichtigem beschäftigt sei. Vor allem müsse er schon morgen wieder nach Eichgraben und in die »Post«, um sich mit seinen Freunden zu beraten. Er erinnerte Gerlinde daran, dass zu den vornehmsten Menschendingen gehöre, ein gegebenes Wort auch einzuhalten. »Das Leben ist kein Wunschkonzert«, sagte er.

»Wie du meinst«, lenkte Gerlinde schließlich ein, »aber was ist das Leben, wenn man nicht mehr wünschen darf?«

Wieder trennte sich das Ehepaar für die Nacht. Gerlinde zog sich ins Schlafzimmer zurück. Gustav stieg in den Keller hinab.