5.
Das Becken war schwer, der Weg wurde weit. Der Regen ließ auch nicht nach. Gustav schritt trotzdem munter aus. Schön und gut, dachte er, aber ich werde mich Gerlinde stellen müssen. Er überlegte, ob er sich schuldig fühlen sollte. Wenn einmal ein Fisch im Haus ist, dachte er, dann gibt es keine Reise mehr. Ihm war klar, dass alles, was er an diesem Tag getan hatte, dem Zweck diente, Gerlindes Wünsche zu unterminieren. Er hatte sich auf einen Weg begeben, den er nicht mehr verlassen wollte, aber er wusste noch nicht, wie er es Gerlinde beibringen sollte. Er konnte nur hoffen, dass sie inzwischen selber von ihrem verrückten Plan abgekommen war.
»Gerlinde, hilfst du mir?«, rief er zaghaft, als er das Haus betrat.
Keine Antwort.
»Gerlinde!« Jetzt erst fiel ihm ein, dass Gerlinde ja ihre Freundinnen traf. Schon fand er den Zettel auf dem Küchentisch. »Lieber Gustav, im Kühlschrank gibt’s Käse. Warte nicht auf mich, ich komme sicher spät.«
»Wenigstens ein warmes Abendessen hätte sie mir vorbereiten können«, knurrte Gustav.
Er stellte das Aquarium ab. Das Glasgefäß war robust und wirkte trotzdem elegant, es war ganz offensichtlich von erster Qualität. »In den Keller kommt es nicht«, murmelte er, »weil ein Fisch nicht in den Keller gehört, sondern in den Salon, und zwar an den besten Platz.«
Der beste Platz war dort, wo Gerlindes Lieblingssessel stand. Gustav rückte ihn zur Seite. Dann schob er den Esstisch heran und stellte das Glasgefäß darauf.
»Also«, sagte er. Er ging in den Keller, drehte den Fernseher an, startete einen Film und suchte eine bestimmte Stelle. Dort fror er das Bild ein. Es zeigte eine hügelige Sandlandschaft mit ein paar löcherigen Gesteinsbrocken, die eine Höhle bildeten, aus der eine schwarz-gelb gefleckte Muräne herausschaute.
»Scheint ganz simpel zu sein«, murmelte Gustav. Er ging wieder nach oben, zog die Vorhänge zu, löschte das Licht und ließ nur eine winzige Leselampe brennen. Das leere Glasgefäß schimmerte verheißungsvoll.
»Gut«, sagte Gustav. Er machte das Licht wieder an, ging in die Küche, holte einen großen Topf und trat damit in den Garten. Gerlinde hatte sich doch immer beklagt, der Boden sei für ihre Rosen zu sandig. Mit bloßen Händen schaufelte er Erde in den Topf, kehrte damit in den Salon zurück und schüttete die Erde ins Glas.
»Etwa fünf Zentimeter hoch«, murmelte Gustav, aber als der Boden des Aquariums mit der Erde bedeckt war, merkte er, dass das, was ein sandiger Grund hätte sein sollen, eine fast schwarze Schlammschicht wurde. Gustav kippte den Dreck in den Garten zurück. Er schaute sich eine Weile lang unschlüssig um. Dann zog er einen sauberen Mantel über, nahm den Topf und eilte damit zum Kinderspielplatz, der in der Mitte der Siedlung lag.
Der Sandkasten ertrank schier im Regen.
Im Aquarium ist es auch nass, überlegte Gustav. Er fand zwei Arten von Sand, einen ganz feinen und einen gröberen, fast kiesartigen. Gustav nahm von beidem und füllte den Topf bis zum Rand. Als er sich aufrichtete, sah er, dass nun auch dieser Mantel verdreckt war, und er sah, dass auf dem Balkon eines nahen Hauses ein Mann stand, der ihn beobachtete. Der Mann rauchte eine Zigarette. Sie glich einem Glühwürmchen in der Dämmerung.
Gustav überlegte, ob er unter den Balkon treten und dem Mann erklären sollte, was er tat. »Er kann nichts dagegen haben, dass ich ein wenig Sand aus dem Sandkasten nehme«, sagte er zu sich selber, »weil ich den Sand zurückbringen kann, wenn hier wieder Kinder spielen.« Allerdings könnte der Mann annehmen, dass ich einen Vorwand suche, um den Kindern beim Spielen zuzuschauen, argwöhnte Gustav. Vielleicht hält er mich für einen Spanner, so wie ich aussehe in dem ruinierten Mantel. Oder gar für einen Kinderschänder, weil ja heutzutage einer leicht für einen Kinderschänder gehalten wird, wenn er einen ruinierten Mantel trägt. Die Leute haben Angst vor Leuten in ruinierten Mänteln, weil sie selber ein elendes Leben führen und spüren, wie dünn die Wand ist, die sie vom Verbrechen trennt. Wer weiß, ob der Mann da oben mich nicht deshalb für einen Kinderschänder hält, weil er selber die seltsamsten Träume hat. Vielleicht steht er auf dem Balkon und raucht, damit er nicht zu Bett gehen muss, wo ihn Träume erwarten, vor denen er sich fürchtet. Einer, der um diese Zeit und bei diesem Wetter auf dem Balkon steht und eine Zigarette raucht, macht sich verdächtig, weil er sich offenbar nicht besser zu beschäftigen weiß. Vielleicht denkt er an seine Träume und an die Verbrechen, die er in ihnen begeht. Vielleicht hat er mich gar nicht gesehen, weil er so mit seinen schlimmen Gedanken beschäftigt ist, dass er die wirkliche Welt nicht mehr wahrnehmen kann.
Gustav duckte sich und huschte, so schnell Topf und Sand es erlaubten, davon. Der Mann rief ihm nicht nach. »Allerdings heißt das nichts«, murmelte Gustav, »weil er sich leicht ausmalen kann, in welches Haus ich gehöre.«
Zu Hause wusch Gustav den Sand und den Kies. Dann bedeckte er den Boden des Aquariums mit dem Kies. Darauf verteilte er den Sand. Er versuchte die Video-Landschaft möglichst genau nachzugestalten. Die Siamesischen Kampffische sollen Abwechslung haben und die Möglichkeit, sich zu verstecken, dachte er.
Aber als Gustav vorsichtig Wasser ins Becken schüttete, verschwamm die Landschaft auf der Stelle zu einem trägen, flachen Morast. Gustav griff mit beiden Händen hinein und versuchte, den Grund in eine interessante Form zu bringen. Das Ergebnis war erbärmlich, die Sauerei enorm.
Also zog er wieder den nassen Mantel über und ging hinaus in den Garten, um Steine und Holzstücke zu sammeln. Als er sie ins Aquarium geben wollte, merkte er, dass er sich verschätzt hatte. Die Steine waren zu groß und die Hölzer zu lang.
»Eine einfache Sache ist das Meermachen nicht«, seufzte Gustav. Aber bevor er nochmals hinausgehen konnte, um passenderes Material zu suchen, fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, das Aquarium mit warmem Wasser auszuwaschen. Er trug den Behälter ins Bad und wollte ihn in die Badewanne stellen. Dabei entglitt er ihm und zerschellte am Badewannenrand in tausend Stücke.
»Wenn ich etwas in die Finger nehme, geht es kaputt«, jammerte Gustav. Er hatte ohnehin wenig Vertrauen in seine Handwerkskünste, aber dass er so dramatisch scheiterte, tat ihm trotzdem weh.
Nun spürte er auch wieder den Hunger. Er ging in die Küche, um sich ein paar Brote zu belegen. Danach würde er weitersehen.
Während er ass, kam ihm André in den Sinn. Eigentlich schade, dass der Kontakt so vollständig abgerissen ist, dachte er. André war nicht nur fix im Kopf, er war auch mit den Händen geschickt gewesen. Gustav entsann sich einiger Situationen, in denen André bedeutende Hindernisse mit spielerischer Leichtigkeit überwunden hatte. In seiner Erinnerung geriet ihm André zum Alleskönner und Übermenschen, er gewann ein schier mythologisches Format, und Gustav musste unwillkürlich lachen, wenn er daran dachte, wie hell er selber geleuchtet hatte, obwohl er doch ständig in Andrés Schatten gestanden war. Ich möchte zu gerne wissen, was aus ihm geworden ist, dachte Gustav. Wenn ich nur seine Adresse hätte.
Aber – hatte er nicht damals auch Andrés Eltern gekannt? Vielleicht lebten sie noch immer in ihrer Villa bei Bad Münster. Er ließ sich von der Auskunft die Telefonnummer geben und erreichte Andrés Mutter, die sich sofort an Gustav erinnerte.
»Ja, André geht es gut«, sagte sie. »Er ist immer sehr beschäftigt, aber er würde sich bestimmt freuen, wenn Sie sich bei ihm melden.«
Gustav fragte, was aus André geworden sei.
»Er hat nach dem Studium einen kleinen Betrieb übernommen«, berichtete die Mutter, »und ihn in wenigen Jahren zu einem bedeutenden Unternehmen gemacht.« Gustav habe doch bestimmt von der »Allgemeinen Beteiligungsgesellschaft« gehört oder ihrem besser bekannten Kürzel ABG?
»Aber gewiss«, antwortete Gustav, er habe allerdings nicht gewusst ...
»Das macht nichts«, beschwichtigte die Mutter. »Wie geht es Ihnen, Gustav, Sie haben ja damals geheiratet, haben Sie Kinder?« Gustav verneinte. Schade, sagte sie. Sie selber sei dank André schon dreifache Großmutter, von drei verschiedenen Frauen übrigens, auf drei verschiedenen Kontinenten dieser verrückten, weiten Erde. Inzwischen seien die Enkel fast erwachsen, sie werde wohl bald Urgroßmutter werden, was einerseits ein harter Schlag fürs Selbstbewusstsein sei, andererseits aber auch die wunderbarste Sache der Welt.
Gustav meinte, er könne das gut verstehen, aber sie entgegnete: »Das kann ein Mann nicht verstehen, Gustav, weil ein Mann nicht begreift, wie das ist. Mir geht es so gut, dass ich in aller Ruhe sogar Ururenkel erwarten darf, was ja heutzutage keine Seltenheit mehr ist. Sie müssen uns bald besuchen, Gustav, damit ich ...«
Gustav versprach es. Danach versuchte er, André zu erreichen. Er ließ es lange klingeln, aber niemand nahm ab.