6.
Am nächsten Morgen war Gerlinde schon dabei, das Frühstück zuzubereiten, als Gustav in die Küche kam. Er hatte vergessen, im Badezimmer und im Salon Ordnung zu machen. Gerlinde meinte, sie habe am Vormittag Zeit, sie werde aufräumen, er solle sich nur um seine Sachen kümmern. Gustav erklärte, man könne nicht Meer machen, wenn man nicht das richtige Werkzeug habe. Er trank den Kaffee im Stehen. Er müsse sich dringend noch einmal nach Eichgraben begeben, sagte er, weil er diese Sauereija nicht so auf sich beruhen lassen könne. Er war froh, dass Gerlinde die Reise mit keinem Wort erwähnte.
Ob es gestern spät geworden sei, fragte er.
»Sehr spät. Weit nach Mitternacht.« Sie begann, von ihrem Abend mit den Freundinnen zu erzählen, aber Gustav unterbrach sie: »Ich habe es eilig, ich muss sofort nach Eichgraben, weil der Postwirt nachher eine Beerdigung hat.«
Eine Viertelstunde später stand Gustav im Gasthof zur Post. Der Wirt meinte, Gustav könne gerne einen Kaffee haben, zu mehr reiche es aber nicht, weil er unglaublich beschäftigt sei. Die Trauergemeinde! Er war unrasiert, wirkte erschöpft, der Schnurrbart hing kraftlos von der Oberlippe.
Gustav fragte, ob er helfen könne. Nein, das gehe schon in Ordnung, seufzte der Wirt. Er habe, sagte Gustav, ein Geständnis abzulegen. Er erzählte von seinem Missgeschick. Den Wirt schien es nicht im Geringsten zu interessieren. Gustav druckste eine Weile herum. Schließlich meinte er, er habe nur noch eine einzige Frage. »Das Aquarium ... ich meine, es tut mir wirklich leid, aber ohne Aquarium ...«
Das habe er sich gleich gedacht, antwortete der Wirt. »Ist Ihnen vielleicht sonst etwas aufgefallen?«, fragte er dann.
Gustav schüttelte den Kopf.
»Ein hoffnungsloser Fall«, knurrte der Wirt vor sich hin. »Sie wollen Meer machen«, wandte er sich wieder zu Gustav. »Betta smaragdina, ihr Siamesischer Kampffisch, ist ein Süßwasserfisch! Wenigstens so weit hätten Sie sich kundig machen können. Aber eben, ich habe ja Oskar von Anfang an gesagt, das ist ein ganz hoffnungsloser Fall, habe ich gesagt.«
Gustav war über und über rot geworden. »Ich ... ich ...«, stammelte er.
Der Wirt hob die Hand. »Fahren Sie mit den Burschen in die Hauptstadt. Es gibt dort ein Fachgeschäft für Aquaristik, es gehört einem gewissen Weiß, der schon erwartet, dass Sie kommen werden. Weiß ist mein Händler, er hat, was Sie brauchen.« Er schob Gustav durch die Tür und zum schwarzen Lieferwagen.
»Auch der hoffnungsloseste Fall verdient eine zweite Chance«, schloss er und verschwand im Gasthaus.
Der Lange saß am Steuer, der Kleine auf dem Beifahrersitz. Gustav setzte sich auf die Rückbank. »Halten Sie sich fest, Mann«, befahl der Lange. »Und machen Sie sich nur nicht in die Hose«, grinste das Engelsgesicht. Schon drückte der Lange das Gaspedal bis zum Anschlag durch und trieb das alte schwere Fahrzeug voran.
Jetzt weiß ich immer noch nicht, wie die Burschen heißen, überlegte Gustav. Es dünkte ihn seltsam, dass sie einander nie beim Namen nannten und offenbar trotzdem immer wussten, wer gemeint war, wenn sie miteinander redeten. Vielleicht benützten sie einen Code? Vielleicht gab es eine Verbindung zwischen ihnen, die ein Außenstehender nicht bemerkte? Vielleicht waren sie Brüder oder sonst verwandt? Aber je mehr Gustav sinnierte, desto weniger wagte er, die Burschen direkt zu fragen. Sie waren ihm unheimlich, weil sie in eine Welt gehörten, die er nicht verstand.
Derweil jagte der Wagen über die Landstraße, vorbei an der Kreuzung, die zu Gustavs Siedlung führte, und vorbei an den Industrieanlagen, die vor der Hauptstadt aus dem Brachland wuchsen. Gustav saß zwischen den beiden Burschen, die wie üblich schwiegen. Vorne flüsterten der Lange und der Kleine miteinander, der zugleich am Radio einen Musiksender suchte.
»Weiß ist Jude«, rief er plötzlich Gustav zu. »Eigentlich mögen wir keine Juden, aber der Postwirt hat uns erklärt, dass die Juden schon in Ordnung sind. Wir haben gesagt: ›Das kann nicht sein, der Jude ist unser Feind.‹ ›Der Feind‹, hat der Postwirt widersprochen, ›sitzt nicht in einer armseligen Tierhandlung. Der Feind sitzt im Kopf!‹ Er ist ein kluger Mann, der Postwirt, weil in meinem Kopf, Mann, in meinem Kopf spielt es sich manchmal ab, das kannst du dir nicht vorstellen, es spielt sich ab, dass man das Gefühl hat, der Kopf platzt, und dann kann man nur noch schreien und hoffen, dass der Kopf ganz bleibt. Da haben wir halt früher, na ja, um das auszuhalten, um den Kopfauszuhalten und den Schmerz darin, haben wir halt Scheiße gebaut, und der Kopf ist trotzdem fast geplatzt, und das hat die ganze Scheiße nur noch schlimmer gemacht.«
Gustav fragte, was denn der Wirt anstelle, damit es ihnen besser gehe.
Sofort wandte sich der Lange zu ihm um und knurrte: »He, Mann, denk bloß nicht, der Postwirt macht einen Scheiß mit uns, Mann. Der Postwirt macht keinen Scheiß, weder mit Strom noch mit Nadeln ins Hirn oder sonst was, Mann, so etwas tut der Postwirt nicht.«
Daran habe er auch gar nicht gedacht, versicherte Gustav schnell. Wenn nur der Bursche wieder nach vorne und auf die Straße schauen würde!
»Über den Postwirt lassen wir nichts kommen«, grollte der Lange noch, dann wandte er sich endlich wieder dem Steuer zu.
»Wir fahren Rad«, erklärte der Kleine, »fünfzig Kilometer pro Tag. Der Postwirt sagt, das ist gut für den Energiehaushalt. Weißt du, was ein Energiehaushalt ist? Kannst du nicht wissen, unser Energiehaushalt ist nämlich geheim. Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«
Darauf, meinte Gustav, falle er kein zweites Mal herein.
»Der Postwirt«, sagte der Kleine, »ist der Sohn eines Gottessohns, musst du wissen. Aber natürlich weißt du es nicht. Wie solltest du auch. Niemand weiß heute noch irgendwas. Soll ich dir mal etwas verraten? Als sich die Menschen über die Erde hin zu vermehren begannen und ihnen Töchter geboren wurden, da sahen die Gottessöhne, wie schön diese Menschentöchter waren, und sie nahmen sich von ihnen Frauen, wie es ihnen gefiel.«
»Das war dem Herrn nicht recht«, fiel ihm der Lange ins Wort. »Er hatte wohl Angst, von der schieren Menge des Nachwuchses überwältigt zu werden ...«
»Ich erzähle die Geschichte!«, schrie der Engel, während er dem Fahrer die Faust in die Seite hieb. Dann nahm er den Faden wieder auf: »Jedenfalls sprach der Herr: Mein Geist wird so nicht für ewig und immer in den Menschen bleiben, weil die Menschen nicht nur Geist sind, sondern auch Fleisch. Daher soll ihre Lebenszeit hundertzwanzig Jahre betragen, hundertzwanzig Jahre sind genug.«
»Das war übrigens zu einer Zeit, als es auf der Erde noch Riesen gab«, warf der Lange ein, »gewaltige Riesen, das kann man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen, wie gewaltig diese Riesen waren, und sie lebten auch noch, als sich die Gottessöhne schon mit den Menschentöchtern eingelassen hatten. Die Riesen sind nämlich die wahren Helden der Vorzeit, sie sind die berühmtesten Männer.«
Diesmal hatte der Kleine nicht unterbrochen, aber jetzt drehte er sich wieder zu Gustav um und redete weiter: »Aber es half alles nichts. Die Beschränkung der Lebenszeit auf hundertzwanzig Jahre half nicht, die Riesen halfen nicht, vielmehr musste der Herr zusehen, wie auf der Erde die Schlechtigkeit der Menschen zunahm, und wie alles Sinnen und Trachten ihrer Herzen böse war und immer nur böser wurde. Da reute es den Herrn. Es reute ihn, auf der Erde den Menschen gemacht zu haben. Es tat ihm in seinem Herzen weh. Der Herr sagte: Ich will den Menschen, den ich erschaffen habe, vom Erdboden vertilgen, und mit ihm auch das Vieh, die Kriechtiere und die Vögel des Himmels, denn es reut mich, sie gemacht zu haben.«
»Nur die Fische und alles, was im Wasser lebt, wollte der Herr verschonen«, warf wieder der Lange ein, »weil das Sinnen und Trachten der Fische gut ist und überhaupt das Sinnen und Trachten von dem, was im Wasser lebt.«
Gustav hörte mit offenem Mund zu.
»Meinst du vielleicht, das ist Quatsch oder was?«, fragten da die beiden, die schweigend neben ihm gesessen waren. Und auch der Fahrer wandte sich wieder nach hinten und zischte, Gustav solle nur ja nicht glauben, sie seien Idioten, bloß weil sie nicht in die Schule gingen.
Aber nicht im Geringsten denke er das, beeilte sich Gustav zu versichern, er habe vielmehr das Gefühl, dass ihm das bekannt vorkomme, irgendwie bekannt, er nehme an ...
»Ich habe ja auch nicht behauptet, dass der Postwirt die Geschichte erfunden hat«, schnaubte der Kleine, »aber sie ist trotzdem wahr und beweist, dass der Postwirt ein Gottessohn ist. Du bist doch auch so ein Fischfreak, du musst das doch verstehen.«
Gustav sagte, er habe keinesfalls die Absicht, jemanden zu beleidigen. Vielmehr sei er sicher, wenigstens Teile dieser Geschichte schon einmal gehört zu haben, wenn auch vor langer Zeit, jedenfalls klinge das alttestamentarisch in seinen Ohren, Noah, die Arche, er kenne das, aber diese Sache mit den Gottessöhnen und den Menschentöchtern, das halte er doch für ...
Der Lange schaute ihn so böse an, dass Gustav verstummte. Dann drehte er sich wieder nach vorne. Schweigend fuhren sie durch den Regen dahin.
»Du brauchst also ein Zuhause für deinen Fisch?«, lenkte schließlich der Kleine ein. »Warum schüttest du nicht einfach ein Fass Öl in die Badewanne? Da fühlt sich der Fisch dann gleich wie daheim.« Die Burschen kicherten und grölten, als hätten sie einen schmutzigen Witz gehört.
Sie erreichten die Autobahn, welche die Landstraße mit der Hauptstadt verband. Der Älteste hatte während der ganzen Fahrt keine Geschwindigkeitsbegrenzungen beachtet, jetzt reizte er den Lieferwagen bis an dessen Grenzen aus und setzte sich rücksichtslos gegen andere Verkehrsteilnehmer durch.
Gustav fürchtete sich, aber irgendwie machte ihm das Abenteuer auch Spaß. Er fragte, ob sie oft zu Weiß gingen.
»Zweimal pro Woche«, antwortete der Kleine, »wie der Mensch, braucht nämlich auch der Fisch eine gesunde, ausgewogene Kost. Mückenlarven, Tubifex, Fliegen, Maden, Blattläuse und Wasserinsekten. Alles hat Weiß, und Raupen und Schnecken, Kaulquappen und Jungfische, die zu verfüttern am lustigsten ist.«
»Fische fressen auch Haferflocken, hartgekochte Eidotter und Trockenhefe«, ergänzte der Lange, »aber man darf es nicht übertreiben, weil Fische von Natur aus maßlos sind. Vor allem darf man ihnen nie, nie, nie Brot-, Semmel- oder Kuchenbrösel geben oder Süßspeisen, Oblaten zum Beispiel, auch keine Kartoffeln. Haben wir alles ausprobiert. Am Anfang, wie wir noch frisch in der ›Post‹ waren.«
»Aber wir haben schnell damit aufgehört, wie der Postwirt uns gezwungen hat, die toten Fische zu essen«, schloss das Engelsgesicht.
Gustav meinte, diese ganze Zierfischhalterei höre sich ziemlich kompliziert und zeitraubend an. »Darauf kannst du Gift nehmen, Mann«, meinte der Lange, der sich dabei schon wieder umwandte, »jede Menge Zeit geht drauf und jede Menge Regeln musst du kennen.«
»Wie im richtigen Leben«, bekräftigte der Kleine.
Gustav schrie auf, weil sie mit Höchstgeschwindigkeit von hinten auf einen Lastwagen aufzufahren drohten. Aber der Kleine griff im letzten Moment lässig ins Steuer und lenkte sie am Hindernis vorbei.
»Hast du Probleme mit den Nerven, Mann?«, grollte der Lange.
»Er mag es nämlich gar nicht gerne, wenn man in seinem Wagen durchdreht«, krähte der Kleine, »weil das beweist, dass man ihn nicht respektiert.«
Es tue ihm leid, murmelte Gustav, er sei wohl ein wenig schreckhaft.
Endlich erreichten sie die Hauptstadt. Auf den Straßen herrschte reger Verkehr, aber sonst wirkte die Stadt wie ausgestorben. Nur vereinzelt hasteten Fußgänger unter ihren Regenschirmen dahin. Aus den meisten Häusern strahlten zwar Lichter, aber viele davon waren bläulich. Sie stammten von Fernsehgeräten, sie flackerten und verliehen der Düsternis etwas Gespenstisches.
Das Geschäft von Weiß befand sich in einer dunklen Gasse und in einem ziemlich verkommenen Haus. Die Wände starrten vor Schmutz, die Fenster waren blind. Es gab ein winziges Schaufenster, aber es war von innen mit Zeitungspapier abgedeckt und ließ keine Einblicke zu.
Die Burschen schoben Gustav zur Tür. Als er sie öffnete und eintrat, begann sofort ein Hund zu bellen. Allerdings war es weniger ein Bellen, als vielmehr ein Kläffen, und eigentlich auch kein Hund, sondern ein winziger, schmutziger Köter unbestimmbarer Provenienz. Zu seinen Ahnen mochten vielleicht ein Spitz und ein Chihuahua gehören. Eine scharfe Männerstimme rief: »Kusch, Fanny, mach Platz!« Das Hündchen kläffte unbeirrt und ohrenbetäubend weiter.
Gustav schaute sich um. Die »Zoohandlung Weiß« war ein kleines Lokal voller Regale, in denen zahllose Aquarien standen. Der Mann, der schon wieder »Kusch, Fanny, mach Platz!« brüllte, saß am Ende eines kurzen Mittelganges hinter einem Schreibtisch. Weiß, denn er war es wohl, las in einer Zeitung, an die er sein Gesicht so nahe herangeschoben hatte, dass die Nase das Papier fast berührte. Er musste weit jenseits der Sechzig sein. Das kurze, wie abgebissen aussehende Haar war gelb. Er trug eine Brille und einen alten, verfleckten Overall. Immer wieder hob er kurz den Kopf, um »Kusch, Fanny, mach Platz!« zu rufen. Der Köter kläffte dennoch unverdrossen und so laut weiter, dass Gustav dreimal wiederholen musste, der Postwirt schicke ihn her.
Endlich hörte ihn Weiß. Er rollte die Zeitung zusammen und schlug sie dem Hündchen über den Kopf. Es jaulte kurz auf und stellte das Gekläff für einige Momente ein. Weiß nützte die Stille, um aufzustehen und Gustav zu bedeuten, er solle mit ihm kommen. Er führte ihn zu einem großen Aquarium. »Fällt Ihnen etwas auf?«, fragte er gerade noch, bevor Fanny wieder zu lärmen begann.
»Nun ...«, sagte Gustav und schaute sich das Aquarium an. Es war groß, sehr groß sogar, an die zwei Meter lang und sicher über einen Meter hoch. Feiner, weißer Sand hatte sich zu zarten Rippen gewellt, um echtem Meeresgrund täuschend ähnlich zu sehen. Daraus wuchs in einem schmalen Streifen der Rückwand entlang feines Gras von einem hellen, durchscheinenden und doch ganz intensiv leuchtenden Grün. Das Gras wogte sanft im Wasser.
Gustavs erster Eindruck war ein Bild von großer Harmonie. Er merkte, wie er sich augenblicklich beruhigte. Es war, als habe das Bild in seine Seele gegriffen und sie geglättet. Erst dann fiel Gustav auf, dass es im Aquarium keine Fische gab.
»Es sind keine Fische darin«, rief er.
»Er hat es aber schnell gemerkt«, höhnte Weiß. »Immerhin. Ein erster Schritt. Ein wichtiger Schritt. Alle ersten Schritte sind wichtige Schritte. Kusch, Fanny, mach Platz! Es gibt keine Schnecken. Keine Wasserschlangen. Keine Seegurken. Dieses Aquarium ist eine Insel der Beschaulichkeit. Es hilft gegen Stress. Es gleicht aus und beruhigt. Es ist ein zauberhafter Ruhepol und gerade richtig für Sie und Ihr Heim. Wenn ich Sie mir nämlich anschaue, dann brauchen Sie bestimmt viel Ruhe und wenig Stress. Vor allem brauchen Sie keine Fische, mein Herr, weil Fische nervös machen. Glauben Sie mir, Fische sind Gift für einen unruhigen Geist. Sie brauchen bestimmt alles, bloß keinen Fisch. Es hat mich trotzdem gefreut. Auf Wiedersehen, mein Herr, ich wünsche einen guten Tag.«
Gustav war empört. Er wehrte sich entschieden. Er sagte, er fühle sich ganz und gar missverstanden. Ihm gehe es weder um die Ruhe noch um den Stress, sondern ausschließlich ums Meer, und zwar um das richtige Meer, dem ja bekanntlich alles Leben entstamme. »Ich brauche Meer«, sagte er, aber er könne sich leider selbst das stillste Meer nicht denken, ohne dass ab und zu ein Fisch vorüberschwimme. Was allerdings nicht heiße, ergänzte er, dass er die Ausstattung dieses einen Aquariums nicht als besonders kühnes Vorbild anzuerkennen vermöge.
Weiß schaute ihn von unten herauf durch die Brille an. Dann schlug er Fanny die gerollte Zeitung auf den Kopf und danach erklärte er Gustav in kurzen, barschen Sätzen, die schon bald vom Gekläff des Hündchens völlig übertönt wurden, dass Fische nur der i-Punkt seien. »Das Umfeld muss stimmen. Der schönste Fisch bringt sonst nichts. Aber in einer gelungenen Dekoration blüht das unscheinbarste Tierchen auf. Kusch, Fanny, mach Platz!« Er überreichte Gustav eine große Schachtel. »Da drin ist alles, was Sie brauchen. Fische können Sie frühestens in zwei Wochen einsetzen. Das Futter kaufen Sie dann bei mir.« Damit setzte er sich wieder hinter seinen Schreibtisch und wandte sich der Zeitung zu. Fanny nahm das zum Anlass, ihrem Gekläff noch aggressivere Noten hinzuzufügen.
Gustav vermutete, dass er für diesmal entlassen sei. Als er durch die Tür treten wollte, sah er, dass die vier Burschen im ersten der schmalen Seitengänge standen und tuschelten.
»Ich wäre dann bereit«, sagte Gustav.
Er solle schon mal vorgehen und beim Wagen auf sie warten, entgegneten sie, sie hätten mit Weiß noch eine Kleinigkeit zu besprechen, es dauere nicht lange, eine Minute höchstens oder zwei.
Gustav verließ die Zoohandlung und stellte sich brav neben den Lieferwagen. Wenigstens regnete es nicht, es nieselte nur ein wenig, aber es war noch immer ziemlich kühl.
Gustav wartete.
Er wartete ungefähr eine Viertelstunde lang. Das Paket wurde schwer und schwerer, aber er konnte es nicht abstellen, weil er keine trockene Fläche fand. Er überlegte, ob er ins Geschäft zurückgehen und fragen solle, wie lange es noch dauere. Aber er fürchtete, die Burschen könnten das als unhöfliche Drängelei auslegen und wütend werden. Also wartete er weiter, bis er dann schließlich doch die Tür zur Zoohandlung öffnete und eintrat.
Fanny kläffte. Die Fische glotzten. Sonst war das Geschäft leer.
»Herr Weiß!«, rief Gustav. Schon schoss Fanny wie von einer Sehne geschnellt auf ihn zu, um ihn in die Wade zu beißen.
Gustav floh und warf gerade noch rechtzeitig die Tür ins Schloss. Er stand eine lange Weile unschlüssig vor dem Zoogeschäft. Die Kälte war ihm inzwischen so tief in die Knochen gekrochen, dass er schließlich beschloss, einzukehren und einen Tee zu trinken.
Direkt neben der Zoohandlung befand sich eine Gaststube, über deren Eingang auf einem Schild »Sofies Likörstube« stand. Gustav trat ein.
Das Lokal war winzig. Vier kleine Tische drängten sich in einem ganz mit Holz getäfelten Raum. Am meisten Platz brauchte ein schwarzer Böllerofen. Daneben hockte ein altes Weib und strickte. An einem der Tische saßen drei Männer, Arbeiter offenbar in blauen Overalls. Sie spielten Karten und tranken Schnaps.
Gustav stellte vorsichtig sein Paket ab und setzte sich an einen freien Tisch. Das Weib legte das Strickzeug weg. »Sie brauchen einen Glühwein, mein Junge«, stellte sie fest und verschwand durch eine schmale Tür, kam kurze Zeit später wieder heraus und stellte eine große Keramiktasse vor Gustav auf den Tisch. Die Tasse war bis zum Rand mit Glühwein gefüllt, der köstlich duftete. Offenbar war die Frau die Wirtin. So wie sie ausschaute, führte sie ihre Likörstube, weil sie selber dem Likör verfallen war. Ihre Augen waren blutunterlaufen, die Nase leuchtete rot, und die Kleider wirkten ungepflegt. Sie sagte, Gustav dürfe sie Sofie nennen. »Ist aber auch kein Wetter nicht«, meinte sie noch, dann setzte sie sich auf ihren Platz zurück und strickte weiter.
Die Verwahrlosung hier drinnen ist fast tröstlich, dachte Gustav. Der Glühwein tat ihm wohl. Er trank in kleinen Schlucken und blätterte dabei in alten Zeitungen, die auf einem Stapel in seiner Nähe lagen.
»Sie warten auf Weiß?«, rief Sofie plötzlich. Schon stand sie auf und stellte sich an seinen Tisch. Sie roch muffig.
Nein, antwortete Gustav. Er versuchte, ein wenig abzurücken.
»Aber natürlich warten Sie auf Weiß«, widersprach Sofie. Sie sehe das einem Gast an, wenn er auf Weiß warte. »Die kommen herein, sind nass und durchfroren und setzen sich an einen Tisch und blättern in Zeitungen, die sie bestimmt schon alle gelesen haben. Sie schauen immer wieder auf die Uhr, jede Viertelstunde gehen sie vor die Tür, um nachzuschauen, ob der Weiß endlich gekommen ist. Mir müssen Sie nichts vormachen, ich kenne Sie, von Ihnen gibt es in letzter Zeit immer mehr. Haben Sie vor, lange zu warten?«
Gustav erklärte, er warte nicht auf Weiß, sondern auf Bekannte, um mit ihnen nach Hause zu fahren.
»Also warten Sie auf Weiß«, strahlte Sofie, »weil Ihre Freunde, bei denen es sich bestimmt um Karl und Kurt und die beiden anderen Burschen des Postwirts handelt, beim Weiß sind oder mit dem Weiß irgendwohin gegangen sind und Ihnen gesagt haben, Sie sollen warten. Sie warten auf Weiß, bis der Weiß Ihnen den langen Karl und den kleinen Kurt und die anderen bringt. Darum sitzen Sie bei Sofie. Weil Sie auf Weiß warten, Sie sind ein Fischmacker, nicht wahr, und Sie sind Anfänger, nicht wahr? Weil ich Sie zum ersten Mal auf Weiß warten sehe. Ich sehe viele zum ersten Mal, aber bei den meisten ist es auch das letzte Mal. Alle fangen etwas an, aber keiner will es auch richtig fertig machen. Darf ich raten? Im Paket ist alles, was Sie für Ihr erstes Aquarium brauchen?«
Gustav meinte, er gehöre nicht zu denen, die eine Sache unerledigt lassen. Er habe sich viel zu lange mit dem Meer beschäftigt, als dass er jetzt, da er Unterstützung erhalte, aufgeben werde.
»Papperlapapp«, widersprach Sofie. Dann holte sie sich einen Likör. Sie setzte sich zu ihm an den Tisch. Sie habe auch schon überlegt, ob sie ein Aquarium aufstellen solle. »Ein paar Goldfische«, sagte sie, »sind vielleicht gut fürs Geschäft.« Obwohl sie weiß Gott kein Meer und vor allem kein Meeresrauschen brauche, sie habe Meeresrauschen genug zu Hause, sie wohne an der Autobahn. »Da ist es keine Sekunde lang still«, meinte sie, »im Vergleich dazu machen ein paar Goldfische ja nun gewiss keinen Lärm.« Aber Weiß habe ihr abgeraten. Zu viel Arbeit, zu viele Umstände, zu viel Plackerei.
Er wisse, entgegnete Gustav, dass das Meermachen keine simple Sache sei. Er habe in diesem Punkt mit Weiß vollständige Übereinstimmung erzielt. Was allerdings das Schweigen der Fische betreffe, wundere er sich, wie es Weiß mit einem derart gehässigen Hündchen aushalten könne. »Ganz abgesehen davon«, sagte er, »dass es miserabel ist fürs Geschäft.«
»Ich würde auch wahnsinnig werden«, sagte Sofie, »bei dem ständigen Gekläff. Der arme Weiß – sie hat einen Tumor im Hirn, die Fanny, haben Sie das gewusst? War ein liebes Hündchen früher, aber seit einem Jahr ... Wenn Weiß nur nicht so furchtbar an ihr hängen würde, er tut mir richtig leid. Weiß ist eine Seele von Mensch. ›Ich kann sie doch nicht abmurksen‹, sagt er. Er hätte sie schon lange hinmachen müssen, die Fanny, hinmachen müsst er s’halt, aber das kann er nicht, er hat ein gutes Herz. Das liegt an den Fischen, sage ich immer, um die Fische tut es mir nicht leid, die Fische hören ja nichts, die Fische haben keine Ahnung, was in der Welt passiert. Wenn man es immer nur mit Fischen zu tun hat, das ist nicht gut, weil die schauen lieb und sagen nichts, da muss man ja einen Tumor kriegen, weil das nicht gut geht, wenn man nie ein Widerwort hört. Das verdirbt den Charakter. Weil man mit der Zeit glaubt, man hat immer recht. Ich sage immer zu Weiß, wenn einer glaubt, er sei etwas Besonderes, weil ihm niemand ein Widerwort gibt, dann sage ich: Das geht nicht, das kann nicht gehen, schau dir die Fanny an, schau, was aus der Fanny geworden ist. Weil auch ein Hund ab und zu ein Widerwort braucht.«
Gustav nickte. Scheint ziemlich verwirrt zu sein, die Alte, dachte er und er hatte das Gefühl, ihr jetzt einen Widerspruch schuldig zu sein, aber es kam ihm nichts in den Sinn.
Sofie hingegen redete munter weiter. Dabei nippte sie immer wieder an ihrem giftgelben Likör. »Die Welt geht zugrunde, und niemand wehrt sich. Es ist, als ob den Leuten inzwischen alles gleichgültig geworden wäre. Die Leute haben eine Zuschauermentalität entwickelt, sie stehen dabei, sie schauen zu, aber sie mischen sich nicht ein, weil sie Angst haben, es könnte ihnen einer widersprechen, und selber widersprechen können sie auch nicht, weil sie sich nicht trauen. Niemand traut sich mehr, also stehen alle nur noch da und schauen zu, und es ist ihnen egal, ob auf der Straße eine Taube krepiert oder ob die Welt vor die Hunde geht. Es macht ihnen alles keinen Unterschied, solange sie nur etwas zum Schauen haben. Jaja, die Zuschauermentalität, lieber fernsehen als fremdgehen.« Sie lachte, kurz und schrill, und sagte noch einmal: »Lieber fernsehen als fremdgehen. Wissen Sie denn schon, was Sie in Ihr Aquarium hineingeben wollen?«, fragte sie dann, »mich wundert’s ja schon, wieso ausgerechnet bei diesem Wetter Leute mit einem Aquarium anfangen wollen, mir ist es, mit Verlaub, auch ohne Aquarium nass genug. Wahrscheinlich wollen die Leute alle ein Aquarium, weil sie bei dem Wetter zu Hause sitzen müssen, und da haben sie am liebsten etwas, das stumm ist und von nichts eine Ahnung hat. Diese stummen Geschöpfe mit den ahnungslosen Augen, die kein Widerwort kennen, weil sie überhaupt keine Wörter haben. Das tut den Leuten in der Seele gut. Aber die Leute irren sich, wenn sie glauben, dass das zu einem guten Ende führt. Die Leute irren sich, wenn sie glauben, man könne immer nur den Kopf ins Wasser stecken und den Fischen zuhören und tun, als ob die Welt nicht vor die Hunde geht.«
Gustav entgegnete, er habe keine Ahnung, was andere Leute antreibe, aber er glaube trotzdem nicht, dass die Welt so schnell zugrunde gehe, weil er nämlich überzeugt sei, dass schon alles seinen richtigen Lauf nehmen werde. Er müsse jetzt aber doch einmal nachschauen, ob seine Freunde mit ihren Erledigungen fertig seien.
»So sind sie alle, wenn sie auf Weiß warten«, grummelte Sofie. Es sei dann wohl besser, wenn er bezahle, bevor er nachschauen gehe, sie habe nämlich genug Gäste gehabt, die auch nur schnell nachschauen gegangen und nie mehr wiedergekommen seien.
Gustav bezahlte. Als er vor »Sofies Likörstube« trat, sah er sofort, dass der Lieferwagen verschwunden war. An der Tür der Zoohandlung hing ein Plakat, auf dem »Komme gleich!!!« stand. Hinter der Scheibe kläffte Fanny wie verrückt. Gustav überlegte, ob er Sofie bitten solle, ihm ein Taxi zu bestellen. Wenn sie überhaupt ein Telefon hat, dachte er, und beschloss dann, lieber auf der Hauptstraße sein Glück zu versuchen. Aber es gab natürlich weit und breit kein Taxi. Es regnete ein bisschen stärker, und die Straßen waren wie leergefegt. Nach geraumer Zeit fand Gustav eine Bushaltestelle und einen Bus, der ihn zwar weder in seine Siedlung noch nach Eichgraben, aber doch so weit in die richtige Richtung bringen würde, dass er notfalls zu Fuß gehen konnte.