7.
Gustav saß am Fenster, und weil der Bus ziemlich voll war, musste er das Paket auf dem Schoss halten. Der Geruch von nasser Wolle hing über anderen Gerüchen. Die Leute saßen grau und grimmig auf ihren Plätzen. Außer einer älteren Dame, die ein paar Reihen vor ihm laut telefonierte, redete niemand. Offenbar stritt die Dame mit jemandem, jedenfalls sagte sie immer und immer wieder: »Jetzt hör aber mal zu, nein, so war das nicht, du hast gesagt ...«, aber sie kam nie dazu, zu sagen, was der oder die andere gesagt hatte.
Gustav schaute hinaus in die Landschaften der Vorstadt, die sich fast nur in stumpfen, nassen Grautönen präsentierten. Neben seinem Sitz hing ein Magazin, ein Angebot des Busunternehmens für seine Gäste. Gustav nahm es vom Haken und blätterte darin. In einem Vorwort beschrieb der Generaldirektor des Unternehmens, wie er die unglücklichen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit erlebt habe, und wie sie ihm zu einem Ansporn geworden seien, sein Unternehmen immer weiter zu verbessern, um seine geschätzte Kundschaft stets völlig zufrieden zu stellen. »Ich könnte an der Sonne sein«, las Gustav, »ich könnte unter blauem Himmel an blauem Wasser liegen. Ich könnte eine blaue Badehose tragen und zu den blauen Fischen tauchen. Ich könnte blaumachen und nach Mädchen mit blauen Augen Ausschau halten. Stattdessen fahre ich durch eine verregnete Landschaft, die mir lieber ist als alle blauen Badehosen und blauen Augen dazu, weil diese Landschaft mit ihren Kiesgruben und den Lagerhallen, den Parkplätzen und Straßen und den noch viel größeren Lagerhallen dahinter selbst im schlimmsten Wetter da sind und nicht an einem fernen Dort. Ich kann mich«, fuhr der Generaldirektor fort, »an eine Zeit erinnern, als das Dort-Sein noch spannend war. Es war eine Herausforderung, es barg Geheimnisse, es ging um das Unbekannte und um das, was zu entdecken war. Aber das Dort-Sein ist so allgemein und selbstverständlich geworden, dass es allen Reiz verloren hat. Es ist keine Herausforderung mehr, weil es kein Risiko mehr gibt. Hinzu kommt, dass man bald öfter dort als da ist und dabei bemerkt, dass das Dort-Hinkommen und das Dort-Bleiben immer mit Anstrengungen verbunden sind, das Da-Bleiben hingegen nicht. Man stellt fest, dass es dort auch nicht besser ist als hier, und man beginnt zu überlegen, ob sich die Anstrengung noch lohnt. Je mehr man sich das überlegt, und je mehr man zum Schluss kommt, dass die Anstrengung keinen Sinn hat, desto eher bleibt man zu Hause und im Regen und im bekannten Grau, das ja, wenn man es sich genau überlegt, mehr Abenteuer verspricht, weil es ein uns Menschen lange Zeit fremd gebliebenes Grau ist, fremder immerhin als alle blauen Himmel und die blauen Wasser dazu.«
Der Bus erreichte die Kreuzung, von der eine Straße nach Eichgraben führte, bevor Gustav den Artikel zu Ende gelesen hatte. Er hätte gerne gewusst, wie der Generaldirektor die Kurve zu seinen Kunden und Diensten nehmen würde, aber er wollte die Broschüre nicht einfach stehlen. Also nahm er sein Paket und stieg aus. Er hatte Glück und fand ein Taxi, aber statt nach Hause ließ er sich vor die Tür des Postwirts bringen. Er erinnerte sich natürlich an die Trauergesellschaft, aber er vermutete, dass er im Gastsaal trotzdem ein Glas Wein würde trinken dürfen. Er fühlte sich wohl dort. Der Raum hatte fast das Ausmaß einer Bahnhofwartehalle, aber die zahllosen Aquarien und ihr klares Grün machten ihn traut und überraschend intim. Ich will Gerlinde noch ein wenig Zeit gönnen, dachte er.
Gustav hörte Musik und lautes Gelächter, noch ehe er den Gasthof betrat. Die Trauergesellschaft befand sich kurz vor der Auflösung, sie hatte jenen Zustand erreicht, der die Übriggebliebenen auf mystische Weise verbindet. Die Gesichter leuchteten, die Krawatten waren gelockert, die Blusen aufgeknöpft. Man sang. Wieder war man dem Tod entronnen und besetzte noch immer im Leben seinen Platz. Die Stimmung war glänzend, eine Blaskapelle intonierte schwungvoll den letzten Trauermarsch.
Der Wirt hockte auf einem Sessel und unterhielt sich mit den Gästen. Er redete vor allem auf eine Dame ein, die wohl die Witwe war. Er hatte wieder Pläne vor sich liegen und er hieb immer wieder mit der flachen Hand auf den Holztisch. Die Witwe war verschleiert, aber den Schleier hob sie oft, um Bier in ihr gerötetes Gesicht zu schütten. Sie schien dem, was ihr der Wirt erklärte, nicht das Geringste abgewinnen zu können.
Gustav setzte sich mit seinem Paket in eine Ecke. Er hatte Zeit. Irgendwann würde auch der Wirt Zeit haben. Gustav sah Oskar an einem der Tische, an denen man wild diskutierte. Oskar hatte Gustav schon bemerkt, er winkte ihm zu, stand bald auf und trat heran. »Der arme Verblichene. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viel man geheult hat an seinem Grab. Die Aquarianer haben nicht nur ihren Vereinskassier verloren. Er hinterlässt eine Lücke, die nicht zu schließen ist. Keiner hat den Fisch wie er gekannt!«
Gustav kondolierte und fragte, wie denn der Arme verblichen sei. »Es ist tragisch, eine Tragödie, eine tragische Tragödie!«, jammerte Oskar, »ausgerechnet er! Er war einer der Besten. Er hat, um nur ein Beispiel zu nennen, dem blauen Fensterputzer den Ehrenplatz verschafft, der ihm heutzutage in jedem Aquarium überlassen wird. Wenn ein Mensch den Fisch verstanden hat! Wenn ein Mensch Fisch war, wie ein Mensch nur Fisch sein kann! Er war ein Flossenwesen, im Grunde seines Herzens war er eine Wasserkreatur. Und was tut der Tölpel? Er rutscht in der Badewanne aus, fällt hin und ertrinkt.«
Oskar deutete auf Gustavs Paket. »Sie waren bei Weiß? Sehr gut! Jetzt haben Sie alles, was Sie brauchen. Jetzt können Sie mit dem Meermachen beginnen.«
»Ja«, sagte Gustav, »und in zwei Wochen gibt es den ersten Fisch.« Er habe gestern ein paar Versuche gewagt, die aber nicht sehr weit gediehen seien, er bedürfe wohl in diesem und jenem eines zusätzlichen Rats. Allerdings habe er sich wohl schon ziemlich blamiert, mit dem Siamesischen Kampffisch, meine er, und er sei sich nicht sicher, ob sich der Wirt mit ihm überhaupt noch beschäftigen wolle.
Oskar meinte, das könne jedem passieren, aber den Wirt könne er jetzt tatsächlich unter keinen Umständen behelligen, weil er so sehr mit dem Trauern beschäftigt sei, dass alles andere gar keinen Platz mehr habe. Das Ableben des Vereinskameraden sei aber auch wirklich die reine Unglückseligkeit.
Gustav sagte, das tue ihm leid. Außerdem habe er jetzt wohl alles beieinander, was man zum erfolgreichen Beginn einer schönen Beziehung mit einem prächtigen Aquarium benötige, was er nun wirklich nicht seinen eigenen Fähigkeiten zuschreibe, sondern Oskar und dem Wirt zu verdanken habe, aber es seien eben diese seine eigenen Fähigkeiten, oder vielmehr deren fast vollständiges Fehlen, welche ihm Sorgen machten. Er befürchte nämlich, wieder ein Fiasko zu erleben und eine ähnliche Sauerei anzustellen wie unlängst, und er habe deshalb den Wirt fragen wollen, ob er ihm nicht noch einmal zur Hand gehen könne, damit der gute Beginn ein erfolgreicher werde.
Oskar schmunzelte. »Sie haben den Fehler gemacht, den alle Anfänger machen. Sie haben sich zu viel vorgenommen. Wenn mir etwas in dieser Welt ganz entsetzlich auf die Nerven geht, dann ist es die Tatsache, dass heute jeder glaubt, sofort ein Fachmann zu sein, wenn er mit irgendetwas auch nur flüchtig in Berührung kommt. Wo ist die Geduld hingekommen? Die Demut? Die Bescheidenheit? Sie sind noch nicht einmal über den Zustand eines aquarianistischen Wurms hinausgelangt, Gustav, und wollen schon Gott spielen. Sie sind ein Anfänger, Gustav, merken Sie sich das, ein blutiger Anfänger, dem ein Anfängeraquarium gebührt.«
Gustav meinte, er betrachte sich weder als Wurm noch als sonst ein Kriechtier, aber Oskar ließ ihn gar nicht erst ausreden. »Zum Glück haben Sie sich mir anvertraut«, sagte er, »zum Glück haben Sie nicht den Wirt belästigt. Da drüben geht es nämlich um alles oder nichts. Die Lücke, die der Verblichene aufgerissen hat, ist viel größer, als Sie es sich vorzustellen vermögen. Wer darf, wer kann seine Pläne richtig deuten? Wer wird seinen Platz einnehmen? Wer wird ihn ersetzen? Das sind Fragen, Gustav, die von enormer Bedeutung sind.« Inzwischen war Oskar ganz ernst geworden. Er schaute Gustav tief in die Augen und sagte: »Der Postwirt ist radikal, das habe ich Ihnen gesagt, und er kann ziemlich böse werden, wenn er merkt, dass sich jemand etwas anmaßt, das ihm nicht zusteht. Üben Sie sich also in Geduld und probieren Sie so lange, bis es Ihnen gelingt.«
Gustav sagte, er sollte sich jetzt wohl elender als die ganze Trauergesellschaft fühlen. Oskars Stimme wurde mild. »Sie dürfen das nicht allzu persönlich nehmen«, beruhigte er, »das sind die Kinderkrankheiten fast eines jeden Aquarianers. Aber es fallen halt einfach keine Meister vom Himmel! Lassen Sie sich also nicht entmutigen, Gustav, gehen Sie nach Hause, bauen Sie Ihr Aquarium so auf, wie es in der Broschüre steht. Ein wenig Sand, ein paar Pflanzen, die richtige Wassermischung und die richtige Temperatur, damit müssen Sie sich beschäftigen. Wenn Sie damit Erfolg haben, können Sie wiederkommen, und dann kriegen Sie Ihren ersten Fisch. Also gehen Sie jetzt, Gustav, und stören Sie diese tragische Versammlung nicht.«
Gustav schlich wie ein gemaßregelter Hund aus der »Post«. Er ging über den Dorfplatz zum Brunnen und schaute eine Weile versonnen die Figur an. Dann nahm er die gleiche Position ein. Er richtete sich auf, hielt den Arm ausgestreckt und die Hand zu einer Schale geformt. Oskar ist betrunken, dachte er. Gustav war kein nachtragender Mensch, er konnte Oskar nicht böse sein. Und vielleicht hatte Oskar ja recht, vielleicht war Gustav tatsächlich zu ungeduldig gewesen. Er spürte, wie sich die hohle Hand langsam mit Regenwasser füllte. Mit seinen Händen war Gustav tatsächlich nicht der Geschickteste. Aber er hatte den Spaß an der Sache noch lange nicht verloren. Und er besaß genug Eigensinn. Das ist eine Prüfung, dachte er, und schließlich ist eine Hürde da, um genommen zu werden.
Als die Hand voll war, warf er sich das Wasser ins Gesicht. Er fühlte sich besser. Immerhin nahmen die Aquarianer ihn ernst. Sie stellten ihm Aufgaben. Sie erwarteten Resultate. Werde ich sie bringen? Wenn ich Meer will, geb ich keine Ruhe, bis ich Meer habe, dachte Gustav. Er hob das Gesicht gegen die grauen Wolkenbänke, aus denen ein steter Nieselregen fiel. Er fühlte sich gut, er fühlte sich blendend. Er würde es diesen Aquarianern zeigen. Wenn ich Meer will, geb ich keine Ruhe, sang Gustav fröhlich in einen trostlosen Tag hinein.