1.
Drei Tage später war Gerlinde noch immer nicht zurückgekehrt, und auch das Wetter hatte sich nicht wirklich gebessert. Vom Himmel fiel, was man einen leichten Landregen nennen mochte. Er war nicht unangenehm, und man hörte oft, er sei gut für die Landwirtschaft und gut für die Haut.
Gustav nahm davon wenig wahr. Er hatte die drei Tage und die dazugehörenden Nächte damit verbracht, an seinem Meer zu basteln. Was Gerlinde betraf, tröstete er sich damit, dass sie jetzt einmal ihre Launen ausleben solle. Im Grunde genoss er die Strohwitwerexistenz.
Sein Meer allerdings ... Vor drei Tagen hatte er das Paket ausgepackt. Das Aquarium war viel kleiner gewesen als jenes, das ihm der Postwirt überlassen hatte, und eindeutig nicht von derselben Qualität. Das Paket enthielt eine Thermoplanplatte, eine Wasserpumpe und einen Beleuchtungskörper, ferner Chemikalien und einen kleinen Koffer mit diversen Wassertestern und schließlich ein kleines Säckchen mit weißem Kies und eine Plastikröhre mit ein paar wenigen Wasserpflanzen. Und natürlich eine Gebrauchsanweisung in mindestens sieben Sprachen. Gustav hatte sie studiert. »Legen Sie die Thermoplanplatte unter das Aquarium und achten Sie darauf, dass es gerade steht. Befestigen Sie die Folienrückwand mit durchsichtigem Klebeband an der hinteren Außenwand des Aquariums.« Eine Folienrückwand befand sich nicht in der Schachtel. Gustav durchsuchte das ganze Haus nach etwas Passendem. In einer Küchenschublade fand er Klarsichtfolie, die er dann mit Filzstiften bemalte. Das Ergebnis war niederschmetternd. Also machte er sich daran, das Innenleben des Aquariums einzurichten. Die Gebrauchsanweisung half ihm dabei nicht wirklich weiter. »Anfängerfreundliche Fische gibt es unzählige«, stand da zum Beispiel, »die wohl bekanntesten und meist verkauften: Guppys, Black Mollys, Platys, Neons, Panzerwelse und Antennenwelse. Achtung: die verschiedenen Fische brauchen unterschiedliche Wasserwerte. Guppys und Black Mollys z.B. brauchen hartes Wasser im leicht alkalischen Bereich (pH-Wert über 7), Panzerwelse und Neons brauchen weiches Wasser im leicht sauren Bereich (pH-Wert unter 7). Weiter sind zu empfehlen: Roter von Rio, Rotblauer Kolumbianer, Kaisertetra und Schwertträger. Entscheiden Sie sich für einen Fisch, aber kaufen Sie ihn noch nicht. Das Aquarium muss drei bis vier Wochen in Betrieb sein, um sich biologisch einzufahren.«
Gustav hatte sich am Kopf gekratzt, dann den Sand in das Aquarium geschüttet und versucht, die Pflanzen einzusetzen. Natürlich blieben sie nicht stehen, er musste zuerst Wasser einfüllen, aber jetzt wiederum wollte es ihm nicht gelingen, die Pflanzen zu verwurzeln.
Er hatte getrunken, Wein und Cognac vor allem, und war langsam in einen Rausch geraten, der ihn sein Meer immer neu gestalten und mit immer absurderen Objekten bestücken ließ. Am Anfang waren es noch Steine, Holzstücke und Zweige aus dem Garten gewesen, doch bald hatte er allen möglichen Krimskrams ins Aquarium gestellt: leere Parfumfläschchen von Gerlinde, einen Bergkristall und Fingerhüte, eine Schneekugel, eine kleine Kuckucksuhr und eine winzige Gondel, die ihm ein Arbeitskollege aus Venedig mitgebracht hatte. So hatte das Aquarium immer weniger Ähnlichkeit mit dem gehabt, was er sich vorzustellen versuchte.
Irgendwann beschloss er, sein Meer in den Garten zu verlegen. Das Glasgefäß dünkte ihn allzu mickrig. »Ich habe mehr Meer verdient«, brummte er und begann eine Kuhle zu graben. Der Regen verdarb ihm das Vergnügen schnell.
Inzwischen war Gustav ziemlich blau. Er saß wieder einmal vor dem Film »Die besten Riffs der Südsee«. Eben schwamm eine Gruppe von Hammerhaien auf eine Sardinenwolke zu, in die sie in wenigen Augenblicken hineinstoßen würde. Der Kameramann befand sich unter den Hammerhaien, es war, als ob er mit ihnen jage. Hoch darüber brach sich die Sonne am Wasserspiegel. Die Haie, von denen fünf zu sehen waren, um die herum es aber noch weit mehr geben musste, schossen lautlos durchs Wasser; sie waren von Sehnen geschnellte Pfeile, die auf ihr Ziel zurasten, den Mord.
»Ja«, rief Gustav, »ja!«
Das Aquarium stand auf dem Esstisch, den Gustav an die Verandatür geschoben hatte. Darum herum herrschte das blanke Chaos. Steine, Sand, Wurzeln und Pflanzen; Folienrückwände, Klebebänder und Dünger; der Regelheizer und Verpackungsmaterial, eine Zeitschaltuhr, Verlängerungskabel und Leuchtstoffröhren sowie Wasser- und Kalkbehälter bildeten ein heilloses Durcheinander.
»Jetzt rufe ich ihn einfach an«, murmelte Gustav. Das hatte er während der letzten Stunden schon x-mal gesagt. Aber nun stemmte er sich aus dem Fauteuil hoch, ging zum Telefon und wählte eine Nummer. Auf der anderen Seite wurde schon nach dem ersten Klingeln abgenommen. »Ja, bitte?«
»Hallo André, ich bin’s, Gustav, erinnerst du dich?«
»Gustav!« André lachte. »Ich habe deinen Anruf erwartet. Mutter erzählte, dass du ... Wie geht’s? Was machst?«
»Ich will ... André, kannst du ...«, lallte Gustav.
»Bist du betrunken? Verträgst du noch immer keinen Alkohol?«, fragte André. »Wo bist du? Sag mir, wo du bist, Gustav, ich komme sofort zu dir.«
Gustav war so betrunken, dass er mehrere Anläufe brauchte, bis er die Adresse richtig übermittelt hatte. Dann legte er auf und versank sogleich in den tiefsten Schlaf. Er hörte nicht, wie Andrés Auto vorfuhr. Er hörte nicht, wie André an der Tür Sturm läutete. Er hörte das Telefon nicht und er hörte nicht, wie André ins Haus einbrach.
Er schreckte erst auf, als ihn André mit einem Eimer Wasser überschüttete.
Danach war er hellwach. Er umarmte André. Er lachte.
André hatte bereits Kaffee aufgesetzt. »Milch, kein Zucker?«, riet er.
Gustav nickte.
»Was ist los mit dir, Gustav«, fragte André dann, »ist dir die Frau durchgebrannt?«
»Ja, nein«, stotterte Gustav. Bevor er eingeschlafen war, hatte er noch genau gewusst, was er wollte. Jetzt fühlte er sich wie ein Kind, das eine ungeheure Dummheit angestellt hat.
André hatte sich kaum verändert. Auch er war älter geworden, der drahtige Körper um den Bauch herum vielleicht ein bisschen schwerer. Aber natürlich war er noch immer fast zwerghaft klein, und natürlich besaß er noch die prominente Nase und den schmalen Mund. Wie ehedem war das Gesicht kantig und fast faltenlos, das dunkle Haar dicht. André hielt sich aufrecht und wirkte so geschmeidig wie einst. Er trug einen sehr eleganten dunkelblauen Anzug mit Weste, an der die goldene Kette einer Taschenuhr baumelte. Dazu teure Schuhe, Hemd und Seidenkrawatte. Vor allem funkelte aus den Augen der alte jungenhafte Charme, der fast jeden zu entwaffnen vermochte und auch Gustavs trunkene Larmoyanz im Nu vernichtete.
»Hast du deine Frau umgebracht, Gustav«, fragte André, »hast du sie draußen im Garten verscharrt?«
»Was?« Gustav schaute verdutzt. Dann sah er den Saustall, den er angerichtet hatte, und suchte ihn unwillkürlich nach Blutspuren ab. Er war erleichtert, als er nichts entdeckte. »Gerlinde war schon weg, als ich nach Hause kam«, sagte er endlich. »Ich habe mir ›Die besten Riffs der Südsee‹ angeschaut und getrunken und ...« Er lachte. »Gerlinde ist weg. Dabei wollten wir ... Ich wollte doch einfach nur tauchen gehen. Seit ich mich erinnern kann, André, ist das mein Wunsch. Es war alles geplant, gebucht, bezahlt. Tauchen, eintauchen ins Meer, mit den Fischen schwimmen ... Es tut mir leid, dass ich dich mitten in der Nacht ... ich wusste nicht, mit wem ... Dabei habe ich erst kürzlich nette Leute kennen gelernt, aber zu denen kann ich nicht, sie würden das nicht verstehen. Sie wollen, dass ich es alleine schaffe, sie wollen keinen Versager, André, aber ich schaff es nicht allein, es ist immer dasselbe, ich will etwas und fange damit an und setze es in den Dreck. Das ist ein Zwang, André, das hat schon mein Vater gesagt, was du anfasst, Gustav, hat er immer gesagt, was du anfasst, geht kaputt. Schau dir nur den Saustall an. Dabei wollte ich bloß ein wenig Meer machen. Aus dem Tauchen ist nämlich nichts geworden und aus der Südsee auch nicht, weil wir den Flug storniert haben, und weißt du, wieso wir die Reise storniert haben? Weil Gerlinde Angst vor dem Fliegen hat. Aber jetzt ist sie ja weg. Und ich ... Ist es zu viel verlangt, André, sag mir deine ehrliche Meinung, ist es zu viel verlangt, wenn einer ein wenig Meer haben will bei sich daheim?«
»Du wolltest immer mehr haben, Gustav«, schmunzelte André.
»Tut mir leid«, antwortete Gustav, »ich hätte dich nicht belästigen dürfen. Tut mir leid. Du bist bestimmt sehr beschäftigt. So wie du ausschaust, sieht man sofort, dass du sehr beschäftigt bist. Aber sieh dir nur das an und dann das«, er zeigte zwischen Fernsehapparat und Aquarium hin und her. »Es sollte das Gleiche sein, aber der Unterschied ist himmelschreiend.«
Er sei zwar tatsächlich sehr beschäftigt, gab André zu, aber für einen alten Freund habe er immer Zeit. »Was ist mit Gerlinde?«, wollte er noch einmal wissen. Er ging zum Tisch, räumte auf und sortierte rasch die Behälter, Kabel, Röhren, Uhren und das Dekorationsmaterial und hatte, noch bevor Gustav sich abgetrocknet und umgezogen hatte, alles so ausgelegt, dass er flink das Aquarium einrichten konnte.
»Gerlinde«, sagte Gustav endlich, »sie hat ihre Freundinnen getroffen. Nach zwanzig Jahren hat sie wieder einmal ihre Freundinnen getroffen ...«
André gab den Sand, dann Steine, Wurzeln und die Pflanzen ins Glas und arrangierte alles so, dass eine liebliche Landschaft entstand, die von einem Sandstrand über eine kleine Steinhöhle zu einem Graswäldchen führte.
»Da habe ich gedacht, dass ich ja auch einen Freund hatte vor zwanzig Jahren«, fuhr Gustav fort, »mit dem ich reden möchte ...«
André holte in der Küche Wasser, vermischte es mit dem Kalk und gab es ins Becken. »Jetzt brauchst du nur noch einen Fisch, Gustav«, sagte er, »und schon hast du es wieder, das ozeanische Gefühl der frühen Kindheit. Was ist mit Gerlinde?«, fragte er zum dritten Mal.
Gustav zeigte ihm die Notiz. Er erzählte von ihrer Idee, statt zu fliegen mit der Bahn ans Meer zu fahren. »Aber in die Südsee fährt nun mal keine Eisenbahn«, jammerte Gustav, »ich weiß wirklich nicht, was in sie gefahren ist. Das ist der Einfluss dieser Freundinnen. Sind alles Hexen. Hab ich immer gewusst.«
»Gib ihr Leine«, riet André, »nach zwanzig Ehejahren braucht sie das.« Er habe sich übrigens wirklich gefreut, von Gustav zu hören, und er freue sich ganz besonders, ihn zu sehen. Er habe oft an Gustav gedacht in all den Jahren, die für ihn selbst höchst erfolgreich gewesen seien.
Während er redete, räumte er mit präzisen Handgriffen das Verpackungsmaterial und die Abfälle weg, um dann in dem Sessel Platz zu nehmen, in dem normalerweise Gerlinde saß. Er hatte sich tatsächlich kaum verändert. Er war noch immer der souveräne, geschickte Mann, dem man vorwerfen mochte, er sei eine glatte Reptiliennatur, dessen schillernde Oberfläche jedoch so viel Tiefe verbarg, dass er im Augenblick des Handelns oft undurchschaubar blieb und erst hinterher verstanden wurde.
Gustav war froh, dass er ihn zu sich gerufen hatte. Mit ihm, das wusste er, würde sich alles zum Besten wenden. Er erzählte, wie gut es ihm und Gerlinde im Grunde gegangen sei, bis sie ihre Freundinnen habe treffen müssen. Sie stünden fast schuldenfrei da, weil die Hypotheken auf dem Haus beinahe abbezahlt seien. »Wir sind zwar nicht reich, aber wir sind durchaus wohlhabend, wir könnten uns leisten, was wir wollen«, sagte er, »wir hätten das schönste Leben, wenn sie nicht diese verfluchten Weiber ...«
Während Gustav redete, musterte André ihn, als wolle er überprüfen, ob ihm die Wahrheit zumutbar sei. »Du hast recht«, sagte André schließlich, »wir sollten wieder einmal etwas zusammen tun. Du bist vielleicht kein Handwerker, Gustav, aber du hast ein Herz und eine Begeisterungsfähigkeit. Du glaubst an das, was du tust, dir geht es nicht bloß um irgendwelche Eitelkeiten. Du bist echt. Erinnerst du dich, als ich Missionar werden wollte? Mich hat das Bild fasziniert, wie ich mich in einer weißen Kutte durch Lianenvorhänge auf eine Lichtung zwänge und hinschreite zu elenden Hütten und primitiven Wilden, die aufschauen zu mir, der Lichtgestalt, ihrem Gott. Du aber hast die Kinder gesehen, die verhungern und verdursten mussten. Der Tod dieser Kinder war dir nicht gleichgültig, Gustav, du hast ihn nicht in Kauf genommen. Du hast die Kranken gesehen und die Fliegenschwärme auf ihren entzündeten Augen. Du warst überzeugt, dass wir kein Recht haben, Gott zu preisen, solange wir Menschen in ihrem Elend verkommen lassen. Du warst überzeugt, dass wir unsere Welt verbessern müssen. Du hast fest daran geglaubt, dass es eine Welt geben muss, in der nicht ständig die halbe Menschheit am Verrecken ist. Du warst ein Idealist, Gustav ...«
Gustav merkte, dass er rot geworden war. Es stimmte zwar alles irgendwie, was André da redete, aber so, wie er es sagte, klang es trotzdem übertrieben. Jetzt erinnerte sich Gustav wieder an Andrés Fähigkeit, Lob so zu dosieren, dass die Leute nicht wussten, ob sie sich geschmeichelt fühlen durften, oder ob er sich über sie lustig machte.
André redete munter weiter. »Du warst der Idealist, ich war der Praktiker. Was uns verband, war der Glaube, dass man es besser machen kann. Interessanterweise wurde es für uns nie zu einem Problem, dass du die ganze Welt verbessern wolltest, ich hingegen nur meine eigene Situation. Wahrscheinlich war mein Ansatz der richtige. Die Welt ist nicht besser geworden. Ich aber bin inzwischen reich und mächtig, ich leite ein internationales Unternehmen, ich nehme mir, was mir gefällt.«
André erhob sich. Er ging zur Bar und goss sich einen Cognac ein. Dann betrachtete er das Aquarium so intensiv, als sei es ihm eine Offenbarung.
André nippte an seinem Cognac. »Du willst also Meer?«, fragte er dann.
»Ja«, sagte Gustav. »Ein hübsches, nettes, kleines, feines Meer?« »Ja.« »Ein wenig arg klein ist es dir aber schon geraten«, sagte er. »Na ja«, meinte Gustav, »das ist ja auch nur ein Anfänger-
aquarium, nur ein Süßwasseranfängeraquarium noch dazu.« Er könne die winzigen Dimensionen von Gustavs Meer ja irgendwie verstehen, erwiderte André, weil es mit fast allen Wünschen so sei, dass sie sich am besten symbolisch erfüllten. Allerdings denke er, dass ein Zeichen nicht allzu klein ausfallen sollte, weil es sonst leicht übersehen werde. »Man muss groß und großzügig denken«, sagte André, »man darf ruhig an die Grenzen gehen und vielleicht sogar ein wenig darüber hinaus.« »Man kann ein Glas nicht mehr als füllen«, widersprach Gustav. »Aber wer redet denn von einem Glas«, lachte André. »Wach auf, du hast mich mitten in der Nacht von einer wichtigen Sitzung weg um Hilfe gerufen! Hast du vergessen, wer ich bin, Gustav? Ich werde dir Meer machen, aber es wird gut für Haie sein!«
Er setzte sich wieder in den Sessel, nippte eine Weile lang gedankenverloren am Cognac und meinte dann, Gustav stehe ja keineswegs allein da mit seiner Sehnsucht, vielmehr könne man fast schon von einem Trend reden, von einer allgemeinen Entwicklung zu einem neuen Verhalten hin. »Die Zeiten sind vorbei, wo es geheißen hat: Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt«, sagte André. »Jetzt heißt es wieder: Im Frühtau zu Berge wir gehn, fallera, und es heißt: Kein schöner Land in dieser Zeit, ist als das unsre weit und breit.« Es gehe auch nicht nur darum, dass die Reiserei für viele langsam unerschwinglich werde und man es satthabe, Mühen und Plagen und Anstrengungen auf sich zu nehmen und sich Gefahren auszusetzen, nur um sich dann in irgendwelchen exotischen Urlaubsorten ein bisschen zu vergnügen, welches Vergnügen meistens sofort ernüchtert werde, weil man sich Durchfall und sonstige nette Krankheiten hole. Die Südsee sei ein Paradebeispiel, fuhr André fort. »Sie ist überfüllt mit Leuten, die enttäuscht, gelangweilt, krank und betrogen die kostbarste Zeit des Jahres mit etwas verschwenden, das ihnen im Grunde widerstrebt und das sie nur deshalb machen, weil alle anderen es ebenfalls tun.« Noch hätten viele nicht den Mut, ihre Abneigung gegen diesen allgemeinen Zwang zum Fremden laut zuzugeben, noch wagten viele nicht, etwas Vernünftigeres anzufangen mit der Zeit und zum Beispiel zu Hause zu bleiben. »Aber die Gefühle sind da, und sie sind stark. Man muss die Lawine nur lostreten. Man muss die Leute nur richtig leiten und hinführen zu dem, was ihnen wirklich behagt und was ihnen wirklich gefällt. Gustav«, sagte er, nahm Gustavs Kopf zwischen beide Hände, zog ihn zu sich herunter und gab ihm einen lauten Schmatz auf die Stirn, »wir werden den Leuten Meer geben, Gustav, die Leute verdienen das.«
Gustav hatte sprachlos zugehört. Er wusste nicht, was ihn mehr beeindruckte: Andrés Beredsamkeit oder diese Wogen der Erinnerung an ähnliche Gespräche, die sie vor vielen Jahren geführt hatten. Es war immer so gewesen. Er hatte geschwiegen, und André hatte geredet, und je mehr André geredet hatte, desto mehr hatte er geschwiegen.
Jetzt legte André eine Pause ein. Er stellte sich neben das Aquarium und tauchte die gepflegten Fingerspitzen ins Wasser. Er dachte nach. »Lass uns etwas bewirken in dieser Welt, Gustav«, sagte er dann, »etwas Wunderbares, Schreckliches oder auch nur Gutes, weil diese wunderbare, schreckliche Welt gute Männer braucht, die das Unmögliche wollen und bereit sind, es zu erzwingen.« Er halte Gustavs Verlangen für einen wichtigen und vielleicht sogar genialen Ansatz, den es unbedingt weiter zu verfolgen gelte. »Es ist doch tatsächlich absurd, ans Meer zu fahren, wenn wir das Meer zu uns holen können, Gustav, und genau das werden wir tun.«
André war während seiner letzten Sätze vor Gustav auf und ab gegangen und hatte immer wieder mit den Händen die Luft zerschnitten, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, und weil sie ihn offenbar restlos überzeugten, geriet er beinah ins Hüpfen.
»Geh du jetzt einmal schlafen«, sagte er endlich. Der Morgen dämmerte schon. Er werde Informationen einholen und ein paar Berechnungen anstellen und das Ganze grob skizzieren, damit Gustav schon bald ein richtiges Meer haben werde. Er schlage vor, sich am Abend zu treffen. »Du kommst am besten nach W.«, schloss er, »wir gehen essen, wir gehen in unsere alte Kneipe und besprechen unseren neuen Plan.«