2.
Als Gustav gegen Abend erwachte, wusste er im ersten Moment nicht, wo er war. Er hatte wirres Zeug geträumt, von Gerlinde, aber auch von den Burschen des Wirts; es hatte eine Verfolgungsjagd stattgefunden, und das Grässliche war gewesen, dass er während des ganzen Traums nicht gewusst hatte, ob er vor den Burschen auf der Flucht war oder vor Gerlinde.
Er stellte sich lange unter die Dusche, dann zog er sich sorgfältig an und fuhr in die Stadt. Die nassen Straßen reflektierten die Lichter der Laternen und Auslagen, es hatte wohl den ganzen Tag geregnet. Jetzt allerdings war der Himmel wolkenlos, der volle Mond hing hoch am Firmament.
André und Gustav hatten sich in einem Restaurant namens »Salz und Pfeffer« verabredet. Sie hatten dort während der Studentenzeit zahllose Nächte mit viel Wein und hitzigen Gesprächen vertan.
Als Gustav das Lokal betrat, fühlte er sich wie von einer Zeitmaschine in die eigene Vergangenheit zurückgeworfen. Nichts hatte sich seit damals verändert. Die vom Rauch zahlloser Zigaretten geschwärzten Wände, die wuchtigen Deckenbalken und die zerkratzten Holztische schienen nur darauf gewartet zu haben, dass sich auch Gustav wieder ins alte Bild füge.
Im großen Saal waren die meisten Plätze besetzt, von Studenten natürlich, die diskutierten und gestikulierten und sich maßlos ereiferten, während sie Wein aus dickwandigen Gläsern oder Bier aus Humpen tranken. Gustav hatte den Eindruck, dass die Posen der Studenten und sogar die Kleider dieselben waren wie damals. Es gab noch immer Brote mit Aufstrichen und Wurzelgemüse, das man in verschiedene Saucen tauchte, und es gab die gleichen mürrischen Kellner, die widerwillig ihre Waren durch den Lärm balancierten.
André war vor Gustav eingetroffen. Er trug Jeans, ein weißes Hemd und eine rote Daunenjacke und saß natürlich im Nebenraum, in der kleinen Gewölbekammer mit den alten Deckenfresken und dem historischen Schlachtengemälde von anno 1811. Die Gewölbekammer bot nur ein paar wenigen Tischen Platz und war ein idealer Ort für private oder geheimbündlerische Treffen. André hatte sich immer dort aufgehalten, er hatte die Gewölbekammer geliebt. Offenbar hatte er jetzt die ganze Kammer gemietet, jedenfalls war er dort der einzige Gast.
Er begrüßte Gustav und meinte, er habe schon einmal einen Halben vom Hauswein bestellt, er hoffe, dass Gustav das billige.
Gustav fühlte sich ziemlich befangen. Die nächtliche Trunkenheit, die Nervenkrise und Andrés Anteilnahme beschämten ihn. Er hatte sich in einem Zustand ungeheurer Schwäche befunden, und er fürchtete insgeheim, dass ihm André Vorwürfe machen oder ihn verspotten werde. »Das ist mir wirklich schon lange nicht mehr passiert«, sagte Gustav mehrmals. Er hoffe vor allem, dass er André nicht zu sehr belästigt habe.
André machte schnell klar, dass er selber auch schon Nervenkrisen gehabt habe und im Übrigen der Meinung sei, dass man hart feiern dürfe, wenn man hart gearbeitet habe. Er wechselte das Thema und leitete leichtfüssig in ein Gespräch über, als hätten sie sich vor kurzem nur deshalb getrennt, weil sie einer lästigen Beschäftigung nachzugehen hatten, und seien jetzt dabei, in aller Selbstverständlichkeit den abgelegten Faden wieder aufzunehmen.
Sie plauderten über Gott und die Welt, über die in ein paar Wochen stattfindenden Präsidentenwahlen und natürlich über das Wetter, das, wenn man den Medien glauben wollte, offenbar eine Welle von Depressionen auslöste, bis André dann doch fragte, was denn Gustav gemacht habe seit der glücklichen Studentenzeit.
»Was schon«, antwortete Gustav. Er habe den Doktortitel dazu verwendet, um in einem Amt ein vollkommen unbedeutender Teil des Aktenverlaufs zu sein, und er vermute, seine einzige Aufgabe bestehe darin, diesen Aktenverlauf derart zu verzögern, dass es wie eine Beschleunigung wirke. Dabei sei er die Karriereleiter hinaufgerutscht und stehe jetzt an der Schwelle zum Abteilungsleiter.
»Und privat?«, fragte André.
»Ich habe Gerlinde geheiratet«, erklärte Gustav, »weil es mich das Vernünftigste dünkte. Wir haben uns gut gekannt. Wir waren uns vertraut. Jetzt lieben wir uns, wir leben miteinander, wir haben ein Haus gebaut, wir haben Bäume gepflanzt, aber nie Kinder bekommen. Gerlinde arbeitet als Substitutin bei einem Patentanwalt. Ich selber war Mitglied in verschiedenen Vereinen, habe mich aber schon vor einiger Zeit ziemlich zurückgenommen, bin allenfalls Passivmitglied. Ja. Das klingt nach einer recht schalen Existenz, nicht wahr, aber wenn man darin steckt, ist es sehr erträglich und oft auch wirklich nett. Am Wochenende gehen wir gerne wandern. Ab und zu ins Kino. Ein-, zweimal pro Jahr ins Theater. Tut mir leid, André, da ist wirklich nicht viel zu erzählen. Daneben hat man halt noch seine Träume. Vom Meer zum Beispiel, vom Tauchen. Aber das werden wohl Träume bleiben, und vielleicht ist das auch gut so. Vielleicht ist es besser, man bewahrt sich seine Träume als Träume und konfrontiert sie nicht mit der Wirklichkeit. Das erspart Enttäuschungen, und die Träume bleiben schön bunt. Jetzt erzähl du, André, was hast du gemacht?«
»Wie kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, als wenn er seine Ziele wie im Spiel erreicht?«, lachte André. »Ich bin Midas, der König, dem alles zu Gold wird, was er berührt.« Er habe sich Ziele gesetzt. Er habe die Ziele erreicht. Eins ums andere, undleicht noch dazu. Wieder lachte er. »Was ich mache? Ich bin Vater von drei Kindern, die ich nie sehe. Ich bin der Chef der ›Allgemeinen Beteiligungsgesellschaft mbH‹, die man unter dem Kürzel ABG kennt. Ich mache also Geld wie Heu. Ich besitze eine Villa in der Toscana, eine Hazienda in Spanien, ein Golfresort in Palm Beach und eine Insel in der Karibik. Bedeutet mir das alles etwas? Nein. Das sind Statussymbole, mehr nicht, es sind Zeichen, die einen Platz in der Geschäftswelt markieren. Das ist überhaupt das Wichtigste: Seinen Platz markieren. Den Platz markieren, ihn behaupten und verteidigen. Dafür geht die meiste Kraft drauf, weil man ständig mehr zu scheinen hat, als man eigentlich ist. Geld machen hingegen und Erfolg haben, das ist ziemlich einfach. Man muss nur ein bisschen skrupellos sein und ein bisschen über Leichen gehen können, dann klappt das im Allgemeinen ganz gut. Aber besonders spannend ist das nicht. Es ist meistens sogar ziemlich langweilig. Wenn ich ehrlich bin, und mit dir kann ich nicht anders als vollkommen ehrlich sein, ist mir ein gutes Gespräch mit einem guten Freund allemal lieber. Wenn ich wirklich ehrlich bin, dann ist es mir das Liebste. Wollen wir darauf trinken?« André hob das Glas und prostete Gustav zu. Dann wurde er plötzlich ernst. Sein zentrales Problem, gestand er, sei leider die Zeit. Er habe zu wenig davon. Sie zerrinne ihm zwischen den Fingern. Als ein Lebewesen mit einer begrenzten Lebensspanne sehe er sich einer verlockenden Fülle von Weltmöglichkeiten gegenüber. Die Kluft zwischen Lebenszeit und Weltmöglichkeit sei im Grunde so beunruhigend, dass er darüber ständig in Panik gerate. »Ich erfahre meine Zeitknappheit angesichts des Überangebots an Welt als geradezu quälend«, erklärte er. »Die Angst, das Meiste, das Wichtigste und das Beste zu versäumen, ist ein peinigendes Grundgefühl meines Lebens.« Ein Tag müsste achtundvierzig Stunden haben, meinte er, und natürlich versuche er, was seinem Leben an Länge abgehe, durch Schnelligkeit wettzumachen. »Trotzdem ist die Welt nicht zu schaffen, das muss auch ein auf Hochtouren laufender Zeitgenosse wie ich erkennen.« Er habe natürlich versucht, die Zeit in den Griff zu bekommen, er habe unter anderem in Japan Zen studiert, er habe mit den besten Lehrern meditiert und es sogar zu einiger Meisterschaft gebracht. »Trotzdem verliere ich ständig gegen die Zeit. Wann lässt sie ein gutes Gespräch mit einem guten Freund zu, wann? Und trotzdem ist mir das am wichtigsten. Ich bin also wirklich froh, Gustav, dass du dich gemeldet hast.«
Gustav meinte, was die Zeit betreffe, könne er nicht klagen, im Gegenteil, er ...
»Das bewundere ich an dir am meisten«, fiel ihm André ins Wort. »Du sitzt im Büro und hast Zeit. Du sitzt zu Hause und hast Zeit. Du hast so viel Zeit, dass du dich sogar mit Fischen beschäftigen kannst, die auch keine Zeit zu kennen scheinen. Aber so warst du ja schon früher. ›Geht’s nicht heut, dann geht es morgen, Gustav macht sich keine Sorgen.‹ Das war dein Wahlspruch. Gustav Sorglos haben wir dich genannt. Erinnerst du dich? Ja, du hattest immer Zeit.«
Gustav vermutete, dass er sich eigentlich genieren müsste. Diese Zeitlosigkeit stand einem jungen Menschen wohl an, aber einem erwachsenen Mann?
Schon wechselte André wieder das Thema. »Wie groß hätte das Meer werden sollen, das du im Garten anlegen wolltest?«
»Ich weiß nicht«, entgegnete Gustav. »Wie groß ist denn euer Garten?«, fragte André. »Die genauen Zahlen habe ich jetzt nicht im Kopf«, sagte
Gustav. »Ich glaube, es sind acht mal zwölf Meter, also knapp hundert Quadratmeter. Wieso?«
»Mit dem Wäldchen? Das Wäldchen gehört doch dazu?«
Das sei eigentlich gar kein Wäldchen, entgegnete Gustav, das seien nur ein paar Bäume, eine Art Sichtschutz, mehr nicht.
»Dann wäre dein Meer ja tatsächlich fast hundert Quadratmeter groß geworden«, neckte André, »oder gehört euch das Grundstück dahinter etwa auch?«
Gustav lachte. Er nehme an, sagte er, dass es derselben ImmoInvest-Gruppe gehöre, die ihm und Gerlinde damals die Parzelle samt Haus verkauft hatte. Er habe gehört, dass auch für die Felde Bebauungspläne existierten. Man wolle aber offenbar mit der Ausführung so lange warten, bis alle Häuser der ersten Siedlung verkauft seien. »Das kann allerdings dauern«, erklärte Gustav, »man hört nämlich auch, dass sich Immo-Invest verspekuliert habe, weil die Nachfrage nach Fertighäusern eingebrochen ist.« Allerdings seien das, wie gesagt, Informationen aus zweiter Hand.
Das könne, meinte André, schon stimmen. Er habe ein bisschen recherchiert. Das Grundstück, das übrigens an die fünfzig Hektar groß sei, gehöre tatsächlich der Immo-Invest-Gruppe, und der stehe das Wasser bis zum Hals.
»Ich verstehe nur nicht ganz, was das alles ...«, fragte Gustav.
»Weißt du, wie viele lizenzierte Taucher es allein in der Hauptstadt gibt?«, erwiderte André.
»Keine Ahnung. Wieso?«
»Fünfzehntausend! Es gibt allein in W. fünfzehntausend ausgebildete Taucher.« Von den zwanzigtausend lizenzierten Tauchern des übrigen Landes wolle er gar nicht erst reden, und noch viel weniger von den weiteren ungefähr zwanzigtausend, die in Regionen lebten, welche weniger als 250 Kilometer von W. entfernt lägen, sagte André. »Und weißt du, wo sie tauchen?«
»Keine Ahnung, nein, warum?«
»Nirgends tauchen sie, Gustav, nirgends. Oh, natürlich fliegen sie vielleicht einmal pro Jahr in die Karibik oder auf die Malediven oder nach Hurgada am Roten Meer. Für ein paar Tage, eine Woche oder, wenn es ganz hoch hergeht, vielleicht zwei. Aber dann: keine Chance. Und weißt du, wieso? Sie könnten ja ins Schwimmbad gehen, nicht wahr, um zu üben oder um in Übung zu bleiben. Aber nein, das tun sie nicht. Und warum tun sie das nicht, Gustav?«
»Ich weiß nicht«, gestand Gustav. »Denk nach, Gustav, denk nach.« Gustav dachte nach, so intensiv er nur konnte, aber er erreichte damit einzig, dass sein Kopf sich vollständig entleerte.
»Es geht um den Druck, Gustav«, dozierte André, »zuerst einmal geht es um den Wasserdruck. Ein Schwimmbad ist vielleicht drei, vier Meter tief. Der nächste See liegt fast hundert Kilometer von W. entfernt und ist nur gerade sieben Meter tief. In diesen flachen Wassern kann man kein Taucherlebnis haben, weil man den Druck nicht spürt. Der Druck nimmt nämlich zu, je tiefer man taucht, er macht alle zehn Meter quasi einen Sprung, der Druck. Man misst das in Bar, also ein Bar für die ersten zehn Meter, zwei Bar für die nächsten zehn und so weiter, weil alle zehn Meter ein Bar dazukommt. Verstehst du jetzt, Gustav, wieso man in einem Schwimmbad kein Taucherlebnis haben kann? Und verstehst du, wie frustriert unsere fünfzehntausend Hauptstadttaucher sind? Die wollen den Rausch der Tiefe erleben, Gustav, die sind süchtig danach. Und weißt du, was ihr Elend ist: Zwei Drittel der Erde sind mit Wasser bedeckt, und doch ist das Meer für sie so fern.«
Das habe er allerdings nicht bedacht, gab Gustav zu, er habe nämlich ...
Aber das sei noch das kleinste Problem, fiel ihm André schon wieder ins Wort. »Weißt du, was für die Taucher die nächste Enttäuschung ist, Gustav, kannst du dir vorstellen, was sie sonst noch kränkt?«
Gustav entgegnete, er habe wirklich keine Ahnung, er könne nachdenken, so viel und so lang und so hart er nur wolle, es komme ihm rein gar nichts in den Sinn.
»Das nächste Problem«, fuhr André fort, »besteht darin, dass alle Wasserkreaturen an einen bestimmten Druck angepasst sind. Wenn du also eine Tiefe von, sagen wir, drei, vier Metern hast, dann hast du nur Fische, die zu diesem Druck passen. Da gibt’s natürlich einen ganzen Haufen wirklich putzige Kreaturen, aber The Deep Blue, Gustav, das tiefe Blau, das gibt’s an der Oberfläche nicht. Wenn wir allerdings, sagen wir, dreißig Meter tief gehen«, redete André weiter, »oder vielleicht sogar vierzig Meter, dann können wir eine echte Vielfalt produzieren. Dann können wir ein Korallenriff bauen, das sich gewaschen hat, ein Riff, das abfällt bis dorthin, wo kein Sonnenlicht mehr hinreicht, wir können die Geheimnisse der Tiefsee zu uns holen, und schon kommen die fünfzigtausend ausgebildeten Taucher, und ich rede jetzt nur von den lizenzierten Tauchern, nicht von denen, die tauchen lernen möchten, die einen Kurs belegen möchten, die vielleicht nur schnuppern möchten oder die sich überhaupt nur an den Strand legen wollen, sie kommen aus der näheren und ferneren Umgebung zu uns, die fünfzigtausend, und wenn jeder von denen nur ein einziges Mal pro Jahr zu uns kommt, haben wir schon das Fundament eines guten Geschäfts.«
Gustav nickte anerkennend. Wenn man das so betrachte ...
»Jetzt denkst du vielleicht«, fuhr André fort, »dass unsere Taucher ja einfach ein wenig weiter fahren und in einen richtigen See eintauchen könnten, nicht wahr, du denkst vielleicht an den Schroffen- oder an den Finstersee, die beide über hundert Meter tief sind.«
Gustav hatte überhaupt nichts in dieser Richtung gedacht.
»Aber das tun sie trotzdem nicht«, sagte André, »unsere gottverlassenen Taucher tun genau das nicht. Und weißt du, warum sie es nicht tun?«
Er müsse wieder passen, gestand Gustav.
»Sie tun es nicht, weil der Schroffen- und der Finstersee aus Süß-, das Meer hingegen aus Salzwasser besteht, und das, mein Bester, ist ein gewaltiger Unterschied, und zwar nicht nur ein geschmacklicher. Der Meerestaucher schwebt, im Salzwasser schwebt er, ins Süßwasser sinkt man hingegen ab, was natürlich nicht dasselbe ist, Gustav, denn wie soll einer das Schweben üben, wenn er sinkt?«
»Klar«, sagte Gustav, so gesehen ... das verstehe er gut.
»Aber«, meinte er nach einer Weile, »wie willst du fast fünfzigtausend Taucher, ich meine, sogar wenn du sie übers Jahr verteilst und jeder nur einmal kommt, sind das immer noch ...«
»Einhundertsiebenunddreißig pro Tag«, half André, »das geht, selbstverständlich geht das, das hält unser Meer aus, das muss es aushalten, und noch viel mehr. Denk an die Wissenschaft! Denk ans Militär! Denk an alle, die vielleicht bloß einmal schnuppern wollen. Man wird uns die Tür einrennen. Ich habe dir gesagt, Gustav, das ist ein Trend. Das ist nicht bloß eine Vergnügung, mein Lieber, das ist eine bedeutende Sache, das ist eine wirklich bedeutende Angelegenheit, Gustav, eine enorme, eine gewaltige sogar.«
»Wir tun also sozusagen der Menschheit einen Gefallen?«, schmunzelte Gustav.
»Jawohl, Gustav«, antwortete André, »und nicht nur der Menschheit, sondern dem Meer selber. Wir befreien das Meer aus seinen Begrenzungen und bringen es dorthin, wo man es wirklich braucht. Wir bringen es hierher, Gustav, zu den Leuten, wir bringen es da hin, wo Leute, die Meer wollen, tatsächlich sind.« André grinste.
»Das ist alles so – viel«, meinte Gustav, »so – umfassend.« »Willkommen in der Wirklichkeit!« André strahlte. Gustav sagte, er fühle sich ein bisschen überwältigt, er habe eigentlich nur an ein kleines Aquarium gedacht. Das alles sei ja schon ganz – eindrücklich, aber er könne sich nicht vorstellen, dass es sich um etwas anderes als eine Phantasie, ein Wunschbild, eine verrückte Idee handle. »Abgesehen davon«, sagte er lachend, »wird Gerlinde nicht gerade begeistert sein, wenn sie nach Hause kommt, und ihr schöner Garten ist im Meer ersoffen.«
»Ah«, schmunzelte André, »da ist er wieder, der lautere, fröhliche, anständige und aufrechte Gustav, der alte Gustav, den ich kenne. Ich hatte schon befürchtet, dass du dich zu einem zögerlichen, zaudernden, die schlimmsten Bedenken vor sich herschiebenden und vom grässlichen, nervenzerrüttenden, seelenzermalmenden Gift der Angst gelähmten Kauz entwickelt haben könntest. Aber eines, Gustav, muss dir wasserklar sein: Du hast mich im richtigen Moment auf den richtigen Gedanken gebracht. Ich habe in meiner Firma eine ganze Abteilung, die ausschließlich mit der Entwicklung neuer Projekte beschäftigt ist, aber es ist ihr schon lange nicht mehr gelungen, mir etwas zu unterbreiten, das mich auch nur annähernd so elektrisiert hätte wie deine Idee. Hinzukommt, dass die Gegend ideal ist. Die Entfernung zur Hauptstadt stimmt, die Anbindung an den Verkehr ist im Prinzip gewährleistet, wir werden natürlich von der Gemeinde verlangen, dass sie eine Infrastruktur zur Verfügung stellt, Parkplätze, Zufahrtsstraßen und so weiter, wir werden die ganze Region entwickeln, mein Lieber, mit Einkaufszentren, Gastronomie und mit allem, was der Mensch zum Leben und zu seinem Vergnügen braucht. Und ich garantiere dir, dass Gerlinde stolz sein wird auf dich, mein Lieber. Sie wird stolz sein auf dich und auf das, was du machst.«
»Wenn du meinst«, antwortete Gustav, »aber es kostet ein Vermögen, André, nicht wahr?«
André schmunzelte. Darüber brauche sich Gustav nun wirklich keine Gedanken zu machen. »Du bist der Meermacher, ich mach mehr daraus«, meinte er. Dann redete er von Nachhaltigkeit und Umwegrentabilität, von Steuereinnahmen, Arbeitsplätzen und Entwicklungshilfe. Alles sei möglich, sagte er, vor allem schaffe Gustavs Meer Reichtum in eine Gemeinde, die im Moment noch ganz und gar verschlafen sei. »Man wird dich zum Ehrenbürger ernennen, Gustav«, schloss André, »man wird dir ein Denkmal errichten: ›Dem Meermacher in Dankbarkeit‹.«
Sie stiessen an. Sie tranken. Sie assen russische Eier und Toast Hawaii. »Wie in alten Zeiten«, riefen sie und bestellten mehr Wein.
Als Gustav sagte, es sei jetzt an der Zeit, nach Hause zu fahren, entgegnete André, das komme überhaupt nicht in Frage. Er bestand darauf, das Lokal zu wechseln und diesen schönen Auftakt zu ihrem Meer mit Champagner zu begiessen.