3.

Der nächste Tag begann mit dem Schrillen des Telefons. André war am Apparat. Er bat Gustav, sich in zwei Stunden am Hauptsitz der »Allgemeinen Beteiligungsgesellschaft« einzufinden.

Zwar hatte der Nieselregen wieder eingesetzt, aber Gustav bemerkte ihn kaum. Pünktlich stand er vor einem prächtigen Stadtpalais am Rande der Innenstadt.

André erwartete ihn. »Willkommen in meinem bescheidenen Büro«, lachte er und führte Gustav die Stiegen hinan zur Eingangstür, neben der ein diskretes Messingschild hing, in das schnörkellos die Buchstaben ABG eingraviert waren.

»Deine ABG, was macht die eigentlich wirklich?«, wollte Gustav wissen.

»Alles«, erklärte André, »wir mischen überall mit, weltumspannend, unsere Interessen sind unterschiedlichsten Charakters und kennen keine Grenzen. Einige unserer Beteiligungen bringen Geld, andere vernichten Geld, wieder andere öffnen Türen, schaffen Beziehungen oder verstärken Abhängigkeiten. Einige könnte man als Versuchsballons bezeichnen oder als rein spekulative Investitionen. Wir haben unsere Finger in vielem drin. Voraussetzung ist eigentlich nur, dass immer genug Kapital in Bewegung ist.«

Während dieser Erklärung hatten sie eine lichte Halle aus strahlend weißem Marmor durchschritten, die sich über drei Stockwerke erstreckte und sparsam mit ein paar roten Ledergarnituren möbliert war. Sie waren eine geschwungene Freitreppe emporgestiegen auf eine Galerie im ersten Stock, von der etliche Türen wegführten.

»Deine Geschäfte scheinen blendend zu gehen«, sagte Gustav, »ich habe ja leider nie begriffen, was man tun muss, um viel Geld zu verdienen.«

»Das hat man im Blut«, grinste André, »oder eben nicht. Die meisten haben es nicht im Blut. Uns kann das nur recht sein.« Er öffnete eine der Türen und trat in einen hohen, hellen Raum – offenbar sein Arbeitszimmer. Der Boden war mit schwarzen Granitplatten ausgelegt, und es gab eine Sitzgruppe aus Stahl und schwarzem Leder. Der Raum strahlte eine dezidiert männliche Arroganz aus. Drei große Glasfenster, vor denen weiße Tüllvorhänge hingen, öffneten den Blick auf einen in englischem Stil gehaltenen Garten. An einer Wand hingen drei verstörende Bilder, Porträts, alle sichtlich vom selben Maler.

André bat Gustav, Platz zu nehmen. Dann drückte er auf einen Knopf an einer der Fensterleisten und sagte: »Bringen Sie uns

bitte Kaffee und Cognac, Frau Schneider. Und vielleicht ein paar Canapés, wenn es Ihnen keine Umstände macht.«

»Das, Gustav, ist mein Reich«, sagte er dann, und weil er bemerkte, dass Gustav die Bilder anstarrte, fragte er, ob sie ihm gefielen.

Gustav entgegnete, sie seien ..., er finde keine Worte, jedenfalls wirkten sie auf ihn ebenso einzigartig wie beängstigend.

»Dieses Triptychon«, erklärte André, »ist tatsächlich unvergleichlich. Der Mensch, die gequälte Kreatur. Wie es uns anschaut, dieses abgrundtiefe Verzweifeln an der Existenz in dreifacher Gestalt. Schau dir die Gesichter an, Gustav. Als hätte man mit der stumpfen Seite einer Axt auf sie eingedroschen. Diese Gemälde stehen für eine Existenz ohne Sinn und Erlösung. Das Leben ist unerbittlich. Es gewährt keine Gnade, Gustav, niemandem. Das Leben muss sich immer und immer nur selber vernichten, es hört nicht auf damit, es geht weiter und weiter, bis der letzte Rest Leben zerstört ist. Diese Bilder erinnern mich täglich daran. Und sie ermahnen mich, jeden einzelnen Tag auszukosten, zu geniessen, bis an den Rand zu füllen mit Verlangen, Gustav, mit Gier, ja, mit heißer, fiebriger Lebensgier. Die Erlösung findet nicht nach dem Tod statt, Gustav, wir brauchen Erlösung jetzt, auch wenn es für die meisten nur ab und zu ein paar Momente sind.«

Gustav nickte. »Die Endgültigkeit des Todes hat sich herumgesprochen«, sagte er.

Worauf ihn André umarmte. »Siehst du«, rief er, »ich wusste es! Ich wusste, dass du meine Sprache verstehst. Der Künstler beschreibt übrigens seine eigenen Werke auf ziemlich faszinierende Art. Hör mal zu: Ich möchte, sagt er, dass meine Bilder so aussehen, als sei ein menschliches Wesen durch sie hindurchgegangen, wie eine Schnecke, eine Spur von menschlicher Anwesenheit und die Erinnerung an vergangene Ereignisse zurücklassend, so wie die Schnecke ihren Schleim zurücklässt. Verstehst du, Gustav, unser ganzes Werk, unser Lebenswerk, ist eine Art Schleimspur in der Geschichte der Menschheit. Das Gedächtnis

bewahrt Schnappschüsse davon, zufällige Momentaufnahmen aus einer Fülle vorhandener Schleimspuren, um sie in zufälliger Reihenfolge und in zufälligen Abständen aus den Schubladen des Erinnerns herausschauen zu lassen. Wie oft passiert es mir zum Beispiel, dass ich dir sagen könnte, wie viele Zigaretten am Ende einer bestimmten Sitzung im Aschenbecher lagen, aber ich könnte dir nicht sagen, worum es ...«

In diesem Moment ging die Tür auf. Eine Dame trat ein.

Gustav fiel fast das Kinn auf die Brust. Die Dame war aber auch eine Erscheinung! Sie war der imposanteste Mensch in Frauengestalt, den Gustav je gesehen hatte. Sie musste an die zwei Meter groß sein, jedenfalls war sie ein gutes Stück größer als Gustav, den man gewiss nicht klein nennen konnte. Neben ihr wirkte André wie ein Zwerg. Die Dame hielt sich trotz ihrer Körpergröße sehr gerade, aber sie wirkte keineswegs steif, sondern anmutig, ja fast grazil. Sie mochte ein paar Jahre jünger als Gustav sein, sie war schlank und ihr schönes Gesicht edel geschnitten: hohe Stirn, ausgeprägte Wangenknochen, eine eher kleine Nase und volle Lippen. Hinzu kamen blondes Haar, wache Augen und ein schelmisches Lächeln.

Gustav war hingerissen.

Die Dame trug einen eleganten, sandfarbenen Hosenanzug, und sie brachte auf einem silbernen Tablett Kaffee, Cognac und Brötchen herein.

»Das, Frau Schneider, ist unser Gustav«, stellte André vor.

»Sie sind ein Künstler, Gustav«, lächelte Frau Schneider, »ein Künstler oder ein Prophet vielleicht?«

Nein, stammelte Gustav, er habe nur ... er wisse eigentlich ... sie dürfe nur ja nicht glauben ...

»Die wahren Genies haben keine Ahnung von ihrer Genialität«, sagte Frau Schneider zu André, »und weißt du, wieso? Weil sie nämlich glauben, sie seien normal. Darum kann natürlich auch ein Künstler wie Gustav seine eigene Außergewöhnlichkeit nicht erkennen, er kann sie nicht wahrnehmen, weil er das, was er denkt und tut, für ganz normal und ganz gewöhnlich hält.« Gustav lief über und über rot an. So war Zeit seines Lebens nie über ihn gesprochen worden. Er wollte erklären, er wollte berichtigen, er wollte seine Leistung in die angemessenen Proportionen rücken, aber das Blut rauschte zu laut durch seinen Kopf und dröhnte mächtiger als die Stimmen der Vernunft.

Frau Schneider streckte ihm die Hand entgegen. »Ihre Idee ist wunderbar, Gustav, das ist ein guter Tag für uns alle hier. Nur schade, dass das Wetter nicht mitspielt, wir finden, der Himmel müsste heute strahlen.«

»Na ja«, meinte Gustav, während er ihre Hand ergriff und schüttelte und meinte, seine eigene müsse gleich verbrennen, »vielleicht wird’s ja noch heiter.« Er kam sich unglaublich dämlich vor. Wahnsinnig gerne hätte er etwas Intelligentes gesagt. Sie musste ihn für einen Idioten halten. Wahrscheinlich machte sie sich mit ihren Lobgesängen lustig.

Schon verabschiedete sie sich wieder. Sie habe im Moment alle Hände voll zu tun. Es würden sich aber, sagte sie noch, nach der Gründungsversammlung sicher Gelegenheiten ergeben, um in aller Ruhe zu plaudern.

»Siehst du, Gustav, dein Projekt nützt uns allen«, schmunzelte André, als sie wieder alleine waren, »alle meine Mitarbeiter, restlos alle sind begeistert. Das Projekt reizt sie. Sie halten es zwar für absolut verrückt, aber gleichzeitig auch für hundertprozentig machbar.«

»Diese Frau Schneider«, fragte Gustav, »ist das deine Sekretärin?«

»Ich würde sie eher meine Kabinettchefin nennen«, antwortete André.

»Du meinst ...«

Aber André war nicht gewillt, beim Thema Schneider zu verweilen. »Keine Fragen, Gustav«, gebot er, »wenn die Höflichkeit des Sängers schweigt.«

Sie tranken Kaffee und Cognac und assen ein paar von den Brötchen, die mit geräucherten Forellenfilets und warmem Roastbeef belegt waren.

Gustav betrachtete immer wieder die großen Ölbilder. Diese gequälten Menschengesichter. Er hatte das Gefühl, dass sie ihn durchschauten und anklagten und wahrscheinlich verwünschten, und er wunderte sich unwillkürlich, wie André hier arbeiten konnte.

André bemerkte Gustavs Unbehagen, aber er ging auch darauf nicht ein, sondern fragte, ob Gustav Nachricht von Gerlinde habe.

»Nein«, antwortete Gustav, »keine Nachricht. Nichts.« Obwohl sie sonst immer vernünftig sei. Gut, das mit den Rosen, das sei vielleicht ein bisschen seltsam, und die Flugangst, nun, die sei schon auch ein bisschen ...»Aber so hat sie sich wirklich noch nie aufgeführt.« Jedenfalls wisse er nicht, was in sie gefahren sei. Man verlasse doch nicht wegen ein paar Rosen den eigenen Mann!

André meinte, Frauen verstehen zu wollen, sei verlorene Liebesmüh, es lohne sich gar nicht erst, damit anzufangen.

Gustav nickte. Er hoffe allerdings schon, dass sie bald vernünftig werde und heimkomme oder sich wenigstens melde. »Ihre Eltern sind ahnungslos«, klagte er, »von ihren Freundinnen kenne ich nicht einmal mehr die Namen, und an ihrem Arbeitsplatz weiß man auch von nichts.« Er fragte André, ob er meine, er sollte sich an die Polizei wenden.

»Sie hat nicht geschrieben, dass sie sich umbringen will«, sagte André.

Gustav schaute wieder zu den Bildern hin. Wie Fratzen verzerrten sich die Gesichter vor Schmerz. Gemartertes Grinsen. Schroffe Farben und finstere Schatten. Das scheint vor schierem Hass zu flirren, dachte Gustav. Aber er merkte, dass die Bilder ihn auf eine ganz ungewöhnliche Art gefangen nahmen: Sie schreckten nicht ab, sondern zogen an, sie waren in ihrer vollkommenen Hässlichkeit unglaublich schön. »Wer hat diese Bilder gemalt?«, fragte er schließlich.

»Du würdest ihn eh nicht kennen«, entgegnete André leichthin. »Bleiben wir bei Gerlinde. Ich denke, dass es sich vielleicht

gar nicht so ungünstig trifft, wenn sie gerade jetzt ein paar Tage verreisen will. Jeder Mensch braucht einen Freiraum. Gönn ihn ihr, sie wird bestimmt wiederkommen. Aber eines rate ich dir: Nütze die Zeit. Tu, was du willst. Das sei dein ganzes Gebot. Von Gattin Numero zwo habe ich nämlich gelernt, dass es am besten ist, wenn man Frauen vor vollendete Tatsachen stellt. Das hält sie zwar nicht vom Meckern ab, doch sie fügen sich meistens schnell.«

Er fragte, ob Gustav eine Zigarre akzeptiere. Gustav lehnte ab. Er wolle, meinte er, jetzt aber doch noch einmal ganz, ganz ernsthaft und eine wirklich ehrliche Antwort erwartend fragen, ob André dieses Gerede ums Meermachen ernst meine. Er habe nämlich das Gefühl, es handle sich um einen Traum, aus dem er bald erwachen werde, oder um ein Märchen, dem er jeden Augenblick entwachsen müsste.

»Kein Märchen, Gustav«, antwortete André, »sondern ein Meerchen! Ich baue dir ein feines, kleines Meer.« Das Projekt sei deshalb so gut, weil es mit großer Präzision in eine Lücke hineinstoße, die danach lechze, gefüllt zu werden. »Weißt du, Gustav«, sagte André, »was die Machbarkeit betrifft: die Menschheit kann alles. Wir könnten, wenn wir wollten, die Alpen zum Glühen bringen, wir könnten den Mond grün anstreichen, wir könnten von der Milchstraße den Rahm abschöpfen. Im Vergleich dazu ist dein Meer eine simple Sache. Geld, Vermarktung, Logistik. Wenn du diese drei Eckwerte in den Griff kriegst, hast du schon gewonnen.« Auf einem ganz anderen Blatt stehe allerdings, dass er Gustav überhaupt beteilige. »Wenn ich dich nicht leiden könnte«, gestand er, »hätte ich die Idee gestohlen. Im Handumdrehen hätte ich dir dein Meer gestohlen, so schnell kannst du gar nicht schauen, mein Lieber. Aber ich mag dich. Wir sind Freunde. Wir haben eine gemeinsame Geschichte. Darüber hinaus gefällt mir der Gedanke, dir einen Gefallen zu tun. Du bist naiv, hast dir ein kindliches Gemüt bewahrt. Aber genau diese Kindlichkeit, diese Harmlosigkeit, die Unschuld im Denken brauchen wir, damit in der Welt etwas weitergeht.«

André erhob sich aus seinem Sessel. Er bat Gustav, ihm zu folgen. Sie gingen durch eine Flucht von Räumen, die Gustav das Gefühl vermittelten, an Nestern der Geschäftigkeit vorbeizukommen. Er merkte schnell, dass sich all diese Geschäftigkeiten ausschließlich mit seinem Meer befassten. Man begrüßte ihn, man zeigte ihm erste Entwürfe und man erklärte, dass als Rechtsform für das Projekt nur eine Stiftung in Frage komme, weil sie allein im Stande sei, den Geist von Gustavs Vision zu wahren. Die praktische Umsetzung werde natürlich ausgelagert und an Spezialisten und Fachunternehmungen delegiert. Aber die Stiftung, sie sei der ideelle Kern.

Schließlich erreichten André und Gustav den Festsaal, in dem es außer einem enormen Spiegel mit goldenem Rahmen nur noch einen langen Tisch gab, an dem neben Frau Schneider, die er schon kannte, ein Dutzend Damen und Herren saßen. Alle erhoben sich, als er eintrat. Alle applaudierten.

Gustav wurde wieder rot.

André stellte die Anwesenden der Reihe nach vor, aber Gustav konnte sich nicht einen einzigen Namen merken. Immerhin begriff er, dass es sich um Anwälte und Architekten, um Bankiers und Biologen und um Chemiker, Computerspezialisten und andere Fachleute handelte. Man begrüßte ihn und erklärte, wie sehr man sich freue, mit ihm in einer Mannschaft zu stehen.

Gustav strahlte und schwitzte, er wurde rot und blass. Als ihm jedoch endlich dämmerte, dass man ihn zum Präsidenten der erwähnten Stiftung wählen werde, da stockte sein Herzschlag.

Schon überreichte man ihm eine Kopie der Stiftungsurkunde und bat ihn, sie durchzulesen. Gustav las, bis er von jemandem unterbrochen wurde, der von ihm wissen wollte, ob er eine massive Verkürzung des Gezeitenrhythmus, den man aus praktischen Gründen erwäge, akzeptieren könne.

Gustav antwortete, das werde bestimmt in Ordnung gehen.

Ein anderer mischte sich ins Gespräch mit der Behauptung, es gebe auf der ganzen Welt nur noch zwei Seekuhkolonien.

»Und?«, fragte Gustav.

Nun, man könnte eine dritte Kolonie aufbauen, um das Aussterben dieser einzigartigen Tiere zu verhindern.

Gustav entgegnete, er habe sich mit Seekühen noch nicht wirklich beschäftigt.

Schon wollte ein nächster Interpellant wissen, was er davon halte, wenn man dem Meer einen Aquapark angliedere, wo sich die zweifellos zahlreichen Kinder vergnügen könnten.

Gustav lachte. Er hob die Hände, um zu beschwichtigen, um abzuwehren und um ein bisschen Distanz zu gewinnen. »Bis vor kurzem«, sagte er, »war das alles nur ein Traum. Gebt mir Zeit, bitte, ich weiß nicht, ob ich schon in der Wirklichkeit angekommen bin.«

Man nickte. Man versprach, ihm eine Atempause zu gönnen. Man sagte, das Wichtigste sei ja jetzt in jedem Fall, das Brachland hinter Gustavs Haus zu erwerben. Man sei zwar nicht willens, jeden Preis zu bezahlen, erläuterte einer, aber man werde ein Angebot vorlegen, das überzeugen sollte.

Gustav erkundigte sich, wie man in kurzer Zeit die notwendigen Bewilligungen beschaffen könne. Das Projekt tangiere ja ganz offensichtlich eine große Anzahl öffentlicher Interessen.

Die Rechtsabteilung, entgegnete man, sei damit bereits befasst. Im Prinzip handle es sich um ein Stufenverfahren, wobei die Kunst darin bestehe, auf jeder Stufe dem Verfahren einen Schritt voraus zu sein, um Tatsachen zu schaffen, die fast nicht mehr rückgängig zu machen seien.

»Aha«, sagte Gustav. Schon schlug jemand an ein Glas. Sofort wurde es still im Saal. André führte Gustav an die Stirnseite des langen Tischs und

forderte ihn auf, Platz zu nehmen. Gustav bemerkte, dass der große Spiegel den Raum, den Tisch und die Gesellschaft verdoppelte und ihr dadurch eine ungeahnte Tiefe verlieh.

André blieb stehen. Trotz seiner geringen Körpergröße beherrschte er den Saal. »Zu Beginn dieser Gründungsversammlung«, sagte er, »mag vieles verschwommen wirken. Eines allerdings ist wasserklar: Wir werden Meer daraus machen!«

Die Versammlung lachte.

Im Folgenden erklärte André in einer launigen Rede, die mehrmals von Applaus unterbrochen wurde, er habe von dem Moment an, da er seinen alten Freund Gustav endlich und zum Glück wieder getroffen habe, gewusst, dass etwas ganz Spezielles auf ihn zukommen werde. Sein Freund Gustav habe immer einen Hang zum Exzentrischen gehabt, und seine, Andrés, Aufgabe habe schon zu Studentenzeiten darin bestanden, Gustavs Ideen umzusetzen und sie von der Idee in die Praxis überzuführen. Diesmal allerdings handle es sich bei Gustavs Idee um eine wahrhaft großartige, um ein Unterfangen, das alles bisher Dagewesene weit übertreffe. »Wir wissen«, rief André in die Runde, »dass alle großen Unternehmungen eine Bezeichnung, einen Titel, einen Namen brauchen, der sich auf der Stelle einprägt. Ich habe mir überlegt, wie wir Gustavs Meer taufen könnten. Ich glaube, dass ich eine Lösung gefunden habe, die allen gefallen wird. Ich schlage ›Zentralmeer‹ oder ›Zentraler Ozean‹ vor. Was hältst du davon, Gustav, könnte dir das gefallen?«

Aber noch bevor Gustav antworten konnte, sprangen alle auf und applaudierten so heftig, dass sich eine Debatte über diesen Namen von alleine erledigte.

André hob die Hand. Er bat um Ruhe. Man setzte sich wieder. André ließ seinen Blick über die Versammlung schweifen, er schaute jeden Einzelnen an und schließlich Gustav direkt in die Augen. Die Kosten, fuhr André in die Stille hinein fort, seien exorbitant. Aber er, André, sei überzeugt, dass sich der Aufwand lohne, weil das »Zentralmeer« den Menschen Freude und die Welt zu einem schöneren Ort machen werde. »Es handelt sich«, dröhnte er, »um ein Jahrhundertereignis, das Stoff für Bücher und Filme liefern und schnell zur Legende werden wird. Weshalb bin ich mir so sicher? Weil es sich um nichts Geringeres handelt als um Weltwunder Nummer acht.« Wieder sprangen alle auf, und wieder applaudierten sie wild.

André deutete eine knappe Verbeugung an und ging dann zu Gustav, um ihm die Hand zu schütteln.

Gustav vermutete, dass es jetzt an ihm sei, ein paar Worte zur Versammlung zu sprechen. Er hatte keine Übung im öffentlichen Reden, es hatte ihn immer verschreckt. Er hatte entsprechende Situationen vermieden, wann immer es ging. Mit Schaudern erinnerte er sich an die Beerdigung seines Vaters. Er hätte am offenen Grab ein paar Worte sagen sollen. Er hatte es nicht über sich gebracht, und das Versagen hatte ihm nicht nur den Tag, sondern noch viele Träume verdorben.

Jetzt allerdings stand er auf. Er merkte, wie leicht er sich daran gewöhnen könnte, im Mittelpunkt zu stehen. Er wunderte sich zwar, aber er dachte auch, dass jeder Mensch das Recht habe, aus dem Schatten der Bedeutungslosigkeit herauszutreten, und dass jedem Menschen ein Moment des Ruhms gebühre.

»Verehrte Damen und Herren«, begann Gustav nach kurzem Zögern, »zuerst muss ich gestehen, dass ich mir nicht einen einzigen Ihrer Namen habe merken können.«

Man lachte.

»Das tut mir umso mehr leid«, fuhr Gustav fort, »als Sie mir den schönsten Traum schenken, den man sich denken kann. Gleich wird mich jemand kneifen, ich wache auf und es wird wieder alles sein wie immer.«

Man lachte wieder, Frau Schneider applaudierte.

»Falls dieser Traum andauern sollte, hätte ich nicht das Geringste dagegen. Ein Mensch, der nicht träumen kann oder darf, ist schon verloren, und eine Welt ohne Träume wäre eine öde, leere Welt. Ja ... Wenn Sie mich fragen, wo die Wurzeln zu diesem Traum liegen, dann kann ich dazu nur sagen, dass ich eigentlich mit meiner Frau in die Südsee fahren wollte, um zu tauchen. Aber dann ist mir die Frau davongelaufen, und hernach ist André aufgetaucht ...«

»Sie brauchen ihn ja nicht gleich zu heiraten«, rief jemand dazwischen. Wieder lachten alle.

»Ja«, sagte Gustav, »jetzt stehe ich da und weiß nicht, was ich denken und noch viel weniger, was ich sagen soll. Wahrscheinlich ist das für den Träumer typisch. Man ist mittendrin im Geschehen und weiß nicht, wie man jemals wieder herauskommen könnte. Nicht, dass ich herauskommen wollte, Gott bewahre, aber die Vorstellung, dass ich eines nicht allzu fernen Tages vor meiner Haustür in ein Meer einund zu einem Korallenriff hinabtauchen kann, ist so phantastisch, dass ... ich weiß nicht. Obwohl ich kürzlich zu meiner Frau gesagt habe: Immer nur dasselbe ist nicht gut genug, man muss mehr haben, und wenn man mehr haben will, muss man mehr machen, man muss Meer machen ... Aber ein Zentralmeer? Einen zentralen Ozean? Das klingt wirklich zu gut, nicht wahr. Wie man das macht und wie der Traum weitergehen wird, das allerdings weiß ich nicht. Nur eines möchte ich Ihnen raten: Ein lieber Bekannter hat vor kurzem behauptet, es hänge alles von der Folienrückwand ab. Möglicherweise verstehen Sie das nicht. Aber im Wesentlichen geht es um die Tiefe, um die Ewigkeit und um die Unendlichkeit. Es geht immer um die Unendlichkeit. Wenn wir das einmal begriffen haben, dann können wir nicht mehr zurück. Wir werden uns nie mehr mit etwas Geringerem zufrieden geben, sondern immer das Ganze, das Absolute verlangen. Wir wollen ja schließlich mit unserem Meer nicht nur eine Illusion kreieren, sondern Kunst, und zwar eine Kunst, die sich allen Begrenzungen entzieht. Wenn Sie mir dabei helfen wollen ...«

»Bravo«, rief Frau Schneider, und wieder applaudierten alle. André schüttelte ihm die Hand, und Frau Schneider erhob sich und stellte sich neben ihn. »Gustav«, sagte sie, »wenn Sie wollen, können Sie bis zum Ende Ihrer Tage in Ihren Träumen verharren. Für uns hingegen sind Sie nicht nur der Meermacher, für uns sind Sie jetzt schon eine Legende.« Sie wandte sich den anderen zu. »Gustav, lieber André, meine Damen, meine Herren«, sagte sie, »ich habe mich in aller Eile ein wenig kundig gemacht. Korallenriffe zählen zu den wichtigsten und kompliziertesten Ökosystemen unserer Erde, sie rangieren in ihrer Bedeutung für unser Fortbestehen deutlich vor den tropischen Regenwäldern. Korallenriffe kann man sich am besten als die komplexesten und differenziertesten Großstädte vorstellen, die von den unterschiedlichsten Arten bewohnt werden. Das fein eingespielte System ist damit aber auch eines der am meisten gefährdeten, und zwar nicht erst in der heutigen Zeit. Ein Blick in die Erdgeschichte zeigt, dass die Lebensgemeinschaft Riff bereits mehrere Katastrophen überstanden hat. Was allerdings die Gegenwart betrifft, befürchten viele Forscher eine ungeheure Beschleunigung des Verfalls, weil die vielen negativen Einflüsse einfach zu schnell und zu umfangreich aufeinandertreffen. Unser ›Zentraler Ozean‹ ist offensichtlich von überragender Bedeutung, man könnte als Vergleich vielleicht Naturreservate und zoologische Gärten heranziehen, die ja auch eine wesentliche Bedeutung für die Erhaltung bedrohter Tierarten spielen. Der ›Zentrale Ozean‹ wird aber nicht nur einzelne oder vereinzelte Tierarten erhalten, sondern ein ganzes System, eine Lebensgemeinschaft, nämlich die Lebensgemeinschaft Riff.«

Sie führte aus, dass die Gründung der ›Stiftung Zentralmeer‹ umso wichtiger sei, als das ganze Projekt natürlich eine große Anzahl von Neben-, Unter- und Teilprojekten umfasse, die zusätzlich zu den eigentlichen Bau- und Betriebstätigkeiten eine Fülle anderer Möglichkeiten im Umfeld der Meeresaquaristik abdeckten und von experimentellen Tiefseesiedlungen über holographische Datenbanken bis zu einer schier uferlosen Produktpalette für den Endverbraucher reichen könnten. Eine Kontrollinstanz in Form der eben erwähnten Stiftung sei deshalb unbedingt notwendig, weil man nur damit die absolute Seriosität des Projektes garantieren könne. »Wir haben natürlich nichts gegen Familienvergnügen«, sagte sie, »aber bitte mit Niveau.«

Frau Schneider redete noch mindestens eine halbe Stunde lang weiter, aber Gustav folgte dem Inhalt ihrer Worte nicht. Lieber betrachtete er sie, trank ihren Anblick in sich hinein, lauschte dem Klang ihrer Worte, und es dünkte ihn nichts bloße Sprache, vielmehr alles Musik.

Diese Frau Schneider war aber auch wirklich ... Wie sich ihr Busen hob, wenn sie atmete! Wie sich das Becken verschob, wenn sie vor der Versammlung hin und her schritt! Gustav begriff, dass ihn im Moment mehr als das Meer die Frage beschäftigte, in welcher Beziehung André zu dieser Frau Schneider stand.

Indessen kam Frau Schneider zum Schluss ihrer Rede. »Wir werden«, sagte sie, »vom Riff- zum Wracktauchen alles anbieten können; und wir wollen verschiedene Abschnitte unseres Meeres bis auf eine Tiefe von dreißig Meter hinab verglasen für die For schungslaboratorien, aber auch für Unterwasserrestaurants und andere Örtlichkeiten, von denen aus man Meer sehen wird. Sie merken schon, verehrter Gustav, meine Damen und Herren, das ›Zentralmeer‹ ist das Gefäß, in dem die Phantasie unbegrenzt walten kann. Und wenn ich mir zum Schluss noch eine ganz persönliche Bemerkung erlauben darf: Selten ist mir ein Projekt begegnet, das in diesem hohen Ausmaß sowohl ein ganz bedeu tender Dienst an der Menschheit ist, als auch ein gutes Geschäft zu werden verspricht.«

Wieder waren alle auf den Beinen. Wieder applaudierten sie.

André meinte, es fehlten jetzt nur noch die Unterschriften des Präsidenten und seiner Wenigkeit unter der Stiftungsurkunde, und dann könne man frisch an die Arbeit gehen. Er bat Gustav, noch einmal am Tisch Platz zu nehmen. Ein Diener brachte in Leder gebundene Dokumente herein und legte sie vor André und Gustav zur Unterschrift hin.

Frau Schneider reichte Gustav einen Füllfederhalter. »Hier und hier und hier«, sagte sie und deutete auf die Stellen, wo Gustav zu unterschreiben hatte.

Gustav war feierlich zumute. Es kam ihm in den Sinn, dass er verabsäumt hatte, die Dokumente durchzulesen. Dann dachte er an Gerlinde, und er stellte sich vor, wie stolz sie auf ihn wäre. Wenn sie nur hier sein könnte! Aber natürlich war der Anlass zu bedeutend, als dass man warten durfte, bis es ihr behagte, wieder aufzutauchen.

Mit Schwung setzte Gustav seinen Namen unter das Dokument. Nachdem auch André unterschrieben hatte, erklärte er die Gründungsversammlung für beendet.

Die Türen wurden geöffnet, man brachte Champagner herein.

Die Anwesenden fanden sich schnell in kleinen Gruppen, und natürlich bildete sich eine um Gustav. Man redete zuerst über das Meer, geriet dann aber doch auch in eines dieser Streitgespräche, die sich inzwischen allgemeiner Beliebtheit erfreuten und in denen es darum ging, die Verantwortung für das miese Wetter zu klären. Handelte es sich dabei um eine Veränderung des Klimas? War diese Veränderung menschengemacht? Würde sie der Welt zum Nutzen oder zum Schaden gereichen? Erst als einer meinte, er könne jetzt bald kein Wasser mehr sehen, entstand ein kurzes, peinliches Schweigen im allgemeinen Geplapper. Irgendeiner rettete sie daraus, indem er den Vorteil des Sauwetters darin sah, dass man wenigstens das Wasser fürs »Zentralmeer« nicht herankarren müsse.

Man lachte. Einer stellte sich als Chefentwerfer vor und bat Gustav, sich bald mit ihm zusammenzusetzen und ihm zu beschreiben, wie er sich sein Meer vorstelle. Ein anderer sagte, er arbeite an einem Katalog des Wasserlebens. Er wolle von Gustav wissen, ob er dazu auch mythologische Wesen zählen würde, worauf ein dritter einwarf, man solle sich generell nicht nur auf die Wissenschaften verlassen, sondern habe auch Parawissenschaftliches, Übersinnliches und sogar Religiöses in Betracht zu ziehen. Ein vierter lachte auf und rief: »Wo kommen wir da hin! Jetzt stehen praktische Fragen im Vordergrund!« Dazu gehöre zweifelsfrei, dass man aus Kostengründen nicht nur tropische und subtropische Varianten durchrechnen dürfe, sondern auch gemäßigte und kalte Meereszonen einbeziehen müsse. Er sei überzeugt, dass Gustav diese Meinung teile.

Ihm gehe es um ein Gefühl, erklärte Gustav. Ein Gefühl des Selbstverlusts, des Sich-Verlieren-Könnens in einer vollkomme nen Welt. »Das Unwirkliche«, sagte er, »wenn man das Unwirk liche wirklich macht, so dass es einem nicht mehr zwischen den Fingern zerrinnt ...«

Man nickte. Zum Glück sei dank der Technik alles möglich, sagte einer. »Eigentlich gibt es überhaupt nur zwei Fixwerte«, meinte er, »nämlich die Wassertemperatur und die Wasserqualität.« Darüber hinaus könne man tun und lassen, was man wolle.

»Die Budgetabteilung wird ein Wort mitreden«, widersprach ein anderer.

»Wasser und Geld«, seufzte Gustav, »ist alles, was zählt.«

»Aber nein, im Gegenteil! Sie dürfen Ihren Visionen keine Grenzen setzen, Gustav!« Frau Schneider hatte sich zur Gruppe gesellt. Sie flüsterte Gustav zu, man erwarte ihn in einer Stunde im »Goldenen Schlüssel«. Man wolle in intimer Runde den Aufbruch zum »Zentralen Meer« begießen. Sie drückte seine Hand, dann wandte sie sich der Gruppe zu. »Gustavs Gedanken sind frei. Wer kann sie erraten«, erklärte sie, »sie fliehen vorbei wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen. Herrschaften, es bleibt dabei: Gustavs Gedanken sind frei.« Sie nickte der Gruppe freundlich zu, wandte sich ab und verließ den Raum.

Gustav schaute ihr nach. Was für ein Weib, dachte er. Er fragte die anderen, ob sie wüssten, was ein Rotfeuerfisch sei. Kürzlich habe er einen kennen gelernt. Der lebe in einem Aquarium. Er bewege sich nie von seinem Platz. Er verhalte sich absolut still und scheine in seinem Glasgefängnis ganz und gar zufrieden zu sein. Trotzdem könne Gustav sich nichts Schöneres vorstellen, als dieses Tier in Freiheit zu erleben. »Vielleicht verharrt er dann auch die ganze Zeit bewegungslos am selben Platz. Aber er tut das nicht, weil er muss, sondern weil er will. Und das, meine Damen und Herren, ist der ganze Unterschied.«