5.
Nach dem Essen ging die Runde zurück in den Hauptsitz der ABG. Gustav schaute sich mit einigen Entwerfern »Die besten Riffs der Südsee« an, um ihnen genauer erklären zu können, wie er sich sein Meer vorstelle. Als der Film zu Ende war, entbrannte eine hitzige Diskussion, ob man Wildwuchs oder eine strenge, vielleicht sogar abstrakte Ordnung anzustreben habe, ob man also Natur vortäuschen oder sich ganz dem Künstlichen und der Kunst verpflichten wolle.
Gustav diskutierte anfänglich noch heftig mit, aber bald bewegten sich die Auseinandersetzungen in Bereichen, zu denen er nichts beitragen konnte, weil sie für ihn viel zu theoretisch waren. Lieber erinnerte er sich an den Businesslunch und an Frau Schneider, deren Nähe und Wärme er so intensiv gespürt hatte, dass es ihn jetzt noch überlief. Diese Frau Schneider, dachte er, sie ist aber auch wirklich ...
Nach Sonnenuntergang, den allerdings niemand bemerkt hatte und beim herrschenden Wetter auch gar nicht bemerken hätte können, wurde der Streit der Entwerfer kurz unterbrochen, als man Mineralwasser und belegte Brötchen brachte. Danach ging es munter weiter, und es dünkte Gustav, dass die Fraktion des Abstrakten allmählich zu mächtig wurde.
»Man darf es nicht zu weit treiben«, warf er ein, »weil das Extreme sich immer selbst zerstört.«
Erst gegen Mitternacht löste sich die Gruppe auf. Gustav hatte den Eindruck, dass man in diesen vielen, langen Stunden nicht wirklich vorangekommen war.
Da lud ihn Frau Schneider ein, sie auf einen Night Cup in die Bar des »Goldenen Schlüssels« zu begleiten.
Sie bestand darauf, die Schirme in der ABG zu lassen und zu Fuß zu gehen. »Die Stadt, die Nacht und ein milder Regen«, sagte sie, »das ist Freiheit, das ist mein größtes Glück.« Sie zog ihre Schuhe aus und lief mit nackten Füssen über die nassen Straßen.
Gustav meinte, er befinde sich im Allgemeinen lieber im Trockenen, aber heute könne man gut eine Ausnahme machen. Die Schuhe allerdings ließ er an.
Frau Schneider lachte. Er müsse doch nicht immer ein so steifer Stock sein, sagte sie und forderte ihn auf, wenigstens die Krawatte zu lockern.
Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, dann fragte sie, wann er zum ersten Mal ein Meer gesehen habe.
Jetzt musste Gustav lachen. Tatsächlich hatte er noch nie im Leben ein Meer gesehen. Seine Eltern waren am liebsten in die Berge gefahren, also fuhr man während seiner ganzen Kindheit und Jugend bei jeder Gelegenheit in die Berge. Daraus habe sich wohl eine Gewohnheit entwickelt, meinte Gustav, jedenfalls sei er später auch mit Gerlinde am liebsten in die Berge gefahren.
Frau Schneider schaute ihn verdutzt an. »Woher stammt denn Ihre Obsession mit dem Meer?«, fragte sie.
Das wisse er auch nicht so genau, entgegnete Gustav. Vielleicht liege es daran, dass er als Kind von einer Tante zu einem Tierfilm mitgenommen worden sei, einem Unterwasserfilm. Er erinnere sich wahrscheinlich deshalb so gut, weil er nur elf Jahre alt gewesen sei, der Film aber erst ab vierzehn zugelassen war. Das Ganze sei ihm wohl als riskantes Abenteuer erschienen, jedenfalls habe er sogar noch einzelne Szenen präsent, vor allem eine mit einer Gruppe von Tauchern, die in eine Unterwasserhöhle eindrangen, weil sie dort einen Schatz vermuteten. Seither habe er immer gehofft, auch einmal so etwas Schönes zu erleben. Aber aus irgendwelchen Gründen sei es einfach nie dazu gekommen.
Frau Schneider hängte sich bei ihm ein. Sie war auch ohne Schuhe größer als er, und trotzdem gab sie ihm das Gefühl, dass er sie beschütze. Gustav bemerkte weder den Regen noch die Kühle der Nacht. Ihm war heiß und leicht und wunderbar zumute.
Es war schon sehr spät, als sie die Bar erreichten, aber den Pianisten schien es nicht zu kümmern. Er spielte seine Lieder, als ob jedes eines jungen Abends erstes sei.
Frau Schneider bestellte einen Irish Coffee und Gustav tat es ihr gleich.
Als der Pianist »Strangers in the Night« intonierte, fragte Frau Schneider, ob Gustav mit ihr tanzen wolle. In diesem Moment sprang Gerlinde aus den Schatten des Gedächtnisses vor Gustavs inneres Auge. Bis anhin war er nicht dazugekommen, sie zu vermissen, und er hatte kaum an sie gedacht. Gustav war ein wenig erschüttert. Er wusste, dass er Gerlinde liebte, und er wusste, dass er ohne sie nicht leben mochte. Trotzdem hatte er sie fast ganz vergessen. Lag es daran, dass er gar nicht das Gefühl hatte, sie sei fort? Spürte er sie, ohne an sie zu denken? Und erschien sie ihm gerade jetzt, weil sie wusste, dass er dabei war, eine Liebe zu verraten, die im Laufe der letzten zwanzig Jahre zwar oft einer Prüfung unterworfen, aber nie grundsätzlich in Frage gestellt worden war?
»Jetzt habe ich gerade an Gerlinde gedacht«, sagte er, »und von Ihnen, Frau Schneider, weiß ich nicht einmal den Vornamen.«
Er drückte ihre Hand, aber sie entzog sie ihm. »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch«, erklärte er. »Wenn man so lange zusammen ist wie Gerlinde und ich, dann hat man sich in die Seele des anderen eingebrannt. Ich glaube, wenn ich auch nur einen Moment lang annehmen müsste, dass sie wirklich weg ist, weil sie mich verlassen will, dann würde mich augenblicklich der grässlichste Schmerz durchschneiden, und ich müsste sterben. So aber ... Ich habe kaum an sie gedacht, weil seit sie weg ist, so wahnsinnig viel passiert ist – atemraubend. Habe ich atemraubend gesagt? Sie duften nach Veilchen, Frau Schneider. Sie duften ganz wunderbar nach Veilchen.«
Ja, antwortete Frau Schneider, sie könne ihn gut verstehen. Sie nehme darüber hinaus an, dass er nicht gerade ein begeisterter Tänzer sei. Eben deshalb scheine es ihr wichtig, das »Zentralmeer« auch jetzt nicht aus den Augen zu lassen. »Wir müssen alles so schnell wie möglich vorantreiben, Gustav«, sagte sie, »damit Sie Gerlinde etwas zu zeigen haben, wenn sie heimkommt.«
Gustav lächelte. »Augen wird sie machen«, sagte er. »Sind Sie mir böse?« fragte er dann.
»Aber im Gegenteil«, erwiderte Frau Schneider, »Sie haben Charakter, Gustav, was mir von allen Eigenschaften am besten gefällt.« Sie habe nämlich manchmal den Eindruck, diese Eigenschaft sei schon fast vollständig ausgestorben. »Jeder nimmt, was ihm unterwegs begegnet«, sagte sie, »und keiner überlegt, ob es ihm auch bekommt.«
Sie meinte, die ABG habe sich die Freiheit herausgenommen, für Gustav im »Goldenen Schlüssel« ein Zimmer zu reservieren. Immerhin habe er sich an ein neues Leben zu gewöhnen, das bestimmt kein geruhsames, dafür umso sicherer ein höchst aufregendes Leben zu werden verspreche.
Gustav war müde. Er war erschöpft. Und er war verwirrt. Diese ganze Anspannung, in die ihn Frau Schneider versetzt hatte, seit er ihr zum ersten Mal begegnet war – hatte sie sich nun aufgelöst oder verlagert oder verstärkt? War er erleichtert oder enttäuscht? Gerne nahm er die Gelegenheit wahr, im »Goldenen Schlüssel« zu übernachten.
Als Gustav sich von Frau Schneider verabschiedete, meinte sie, er solle doch bitte übermorgen gegen zehn Uhr ins Büro kommen, sie hoffe und erwarte nämlich, dass bis dahin die Verhandlungen in Sachen Grundstückerwerb weit genug gediehen seien, um abschätzen zu können, in welche Richtung sich das Projekt entwickle.
Gustav überlegte, ob er sie zum Abschied auf die Wangen küssen solle, gab ihr dann aber doch nur die Hand.
Er ließ sich auf sein Zimmer bringen, das allerdings kein Zimmer, sondern eine Suite war. Es gab einen Salon, dessen Einrichtungsstil Gerlinde wahrscheinlich Louis toujours genannt hätte. Die Wände hatte man zartblau tapeziert, die Seidenüberzüge der Sitzgruppe mit ihren schmalen, geschweiften Beinen waren senfgelb. An drei Wänden hingen Stiche von W., die alt und kostbar wirkten. Die vierte Wand dominierten ein enormer Fernsehbildschirm und eine Eichenkonsole, in der sich ein Videorecorder verbergen musste, denn auf dem Bildschirm lief »Die besten Riffs der Südsee«. Vor den Fenstern hingen schwere Vorhänge aus dunkelgelbem Brokat.
Man hatte einen Kühler mit Champagner bereitgestellt und zwei Gläser. Auf einem zierlichen Beistelltischchen stand ein rundes Glas, in dem zwei Goldfische schwammen.
Wenn nur Frau Schneider nicht böse ist, dachte Gustav.
Aber er war zu müde, um sich wirklich zu sorgen. Er ging ins Schlafzimmer, das ganz in hellen Blautönen gehalten und mit dem größten Himmelbett möbliert war, das er je gesehen hatte.
Er zog die Schuhe aus, legte sich aufs Bett und schlief sofort ein.