9.

Gustav verdrängte die Erinnerung an die unangenehme Auseinandersetzung in der »Post« so gut es ging, und er unterdrückte die Sehnsucht nach Gerlinde mit dem Argument, dass er ihr ruhig ein bisschen böse sein dürfe, weil sie ihn in diesen entscheidenden Momenten seines Lebens im Stich gelassen hatte. Das gelang ihm umso leichter, als er andauernd vom Gefühl begleitet wurde, die Grenzen zwischen dem Möglichen und dem Tatsächlichen seien flüchtig abgetastet und hurtig verwischt worden. Wie von selbst war er in ein Inneres geraten, das sich vor ihm aufklappte und umdrehte und nach außen kehrte. Alles, was Wirklichkeit gewesen war, hatte seine alten Bedeutungen verloren und hatte sich auf neue Zusammenhänge eingelassen.

Dieses Gefühl verstärkte sich im Laufe der nächsten Tage, die Gustav von einer Sitzung zur nächsten und von dieser Besprechung in die andere jagten. Er erlebte sich als hochgeschätzter Teil einer hervorragend geölten Maschine, die mit konzeptuellen Ansätzen, neuen Formen und zeitübergreifenden Strukturen spielte und mit Dimensionen des Denkens und Schaffens jonglierte, welche sich bald linear, bald flächig, bald als Formen oder Farben und immer als Wörter verstanden, die stets größer wirkten, als es ihrer eigentlichen Bedeutung entsprach. Gustav verlor sich an die Ekstase der Beschleunigung, welche die üblichen Gesetze der Zeit außer Kraft zu setzen und ihn in einen irrsinnigen Wirbel hineinzutreiben vermochte.

»Wir suchen das Offene«, erklärte man ihm, »das Unbeweisbare. Wir kreieren eine Linie, die das Diesseits mit dem Jenseits verbindet.«

Einen berauschenden Höhepunkt fanden diese ekstatischen Gefühle zu Beginn des Wochenendes. Gustav war zu Hause, er hatte gefrühstückt und wollte sich gerade ein paar Notizen zur Gestalt seines Meeres machen, als es klingelte. Gustav öffnete. Vor der Tür standen vier Männer mit einer gewaltigen Schachtel, die sie waagrecht hielten.

Neben den Männern stand Frau Schneider. »Hinten herum!«, befahl sie. »Sie gehen mit dem Paket hinten herum und bringen Sie es durch die Verandatür herein.«

Zu Gustav sagte sie: »Wenn Weihnachten wäre, Gustav, dann wäre das jetzt kein Weihnachtsmärchen, sondern ein Weihnachtsmeerchen. Sie werden begeistert sein, Gustav, unsere Künstler und Architekten haben sich selbst übertroffen.« Dann umarmte sie ihn und küsste ihn links und rechts auf die Wangen.

Die Männer hatten inzwischen die Schachtel ums Haus herum getragen. Sie packten aus und arrangierten, bis auf dem Tisch ein mit einem weißen Tuch verhülltes Etwas stand.

»›Fluch sei der Hoffnung, Fluch dem Glauben und Fluch vor allem der Geduld‹, heißt es bei einem unserer größten Dichter«, schmunzelte Frau Schneider. Dann zog sie mit imposanter Geste das Tuch weg und enthüllte ein Modell.

Gustav war auf der Stelle verzaubert. Auf einer quadratischen Fläche breitete sich ein eleganter Komplex aus, den ein silberheller Dom beherrschte. Dieser Dom wirkte zart und zerbrechlich und glich in der Form einer Eierschale. Fast um den ganzen Dom herum und bis hin zu einem Häuschen, das Gustav als sein eigenes erkannte, erstreckten sich Wasserlandschaften, Sandfelder und Dünen. Im Vergleich zu seinem eigenen Heim war der Dom gewaltig. Ein Steg verband die beiden Bauten, den an manchen Stellen Palmen säumten. »Das hier«, sagte Frau Schneider und deutete auf die Wasserlandschaften, »ist das kühlere Meer mit Temperaturen um die zwanzig Grad und Lebensformen, die dem Atlantik oder der Nordsee entsprechen.«

Nur um das spitzere Ende des Domes herum gab es kein Wasser. Dort ballte sich ein schwarzer Gebäudekomplex, hinter dem sich Parkplätze und Zufahrtsstraßen erstreckten.

»Diese dunklen Gebäude wirken wie ein Kliff, nicht wahr«, schwärmte Frau Schneider, »unsere Künstler und Architekten haben wirklich Wunder vollbracht. Das sind übrigens Leuchtschriften.« Sie wies auf die Buchstaben hin, die türkisfarben auf der Stirnseite der dunklen Gebäude standen: »Central Ocean Park«.

Gustav nickte.

»Der Dom ist im Übrigen der größte, der jemals von Menschenhand errichtet wurde, die berühmten Pyramiden von Gizeh hätten in ihm mehrmals locker Platz«, sagte Frau Schneider, als sie ihn wie einen Deckel abhob, »man wird ihn, wie versprochen, vom Mond aus sehen können. Seine Innenseite ist so beschichtet, dass unser Meer eine Weite erhält, die endlos wirkt. Das Meer selber ist natürlich tropisch.«

Das Ufer des Meeres unter dem Dom war nicht oval wie der Dom, sondern hatte Einbuchtungen, die es einer Acht ähnlich machten.

»Uns allen gefällt das hier am besten«, sagte Frau Schneider und deutete auf eine kleine Insel, die inmitten des einen Kreises der Acht auf dem Wasser zu tanzen schien.

Gustav hatte sie bereits bemerkt. Sie diente offenbar als Stütze für einen schmalen Pfeiler, der den Dom tragen half. Ein anderer Pfeiler ragte in der Mitte des zweiten Kreises aus dem Wasser. Gustav schaute sich die Insel genauer an. Er sah, dass auf ihr Blumen blühten – es waren drei Rosenstöcke.

»Wir haben gedacht, wir könnten die Insel ›Gerlinde’s Island‹ taufen«, meinte Frau Schneider.

Gustav nickte wieder. Er war gerührt, er war, wenn er ehrlich sein wollte, zu Tränen gerührt.

»Natürlich liegt die Entscheidung bei Ihnen«, fügte Frau Schneider hinzu.

Während Gustav noch überlegte, meinte sie: »Aber jetzt müssen Sie zuerst einmal Ihr Meer genauer kennen lernen. Sie haben bemerkt, dass es nicht rund ist, sondern eher einer Acht gleicht. Das liegt daran, dass wir zwei Strömungskreisläufe brauchen. Die Technik ist übrigens im Osten untergebracht, am Westufer befinden sich die Stege für die Schnorchler und Taucher.«

Sie hob die blaue Glasplatte ab, die den Wasserspiegel markierte. »Sie sehen«, sagte sie, »dass der Meeresgrund von Süden nach Norden in mehreren Stufen abfällt. Die erste Stufe bleibt recht seicht und verliert lediglich einen guten Meter. Sie reicht bis zur Insel, danach fällt der Boden schnell um mehr als zehn Meter ab. Die nächste Stufe ist wieder recht flach, aber dann geht es wieder über zehn Meter hinunter auf eine nächste Stufe, die bis zu einer zweiten Insel reicht, welche zwar fast dreimal so groß ist wie ›Gerlinde’s Island‹, die man aber nicht sieht, weil es sich um eine Unterwasserinsel handelt. Zwischen dieser Insel und dem Nordufer fällt der Boden noch einmal ganz steil ab, um unserem Meer undurchdringliche Tiefen zu verleihen.«

Die Unterwasserinsel trug den zweiten Dachträger, aber vor allem war sie der Boden für ein spektakuläres Korallenriff, das in den buntesten Farben schillerte.

Gustav sah, dass das Nordufer über und unter dem Wasserspiegel zahllose Fenster aufwies.

»Hinter der größten Glasfront befindet sich ein Restaurant«, erklärte Frau Schneider. »Die Gäste werden während des Essens das Treiben am Riff beobachten können, sie werden Haien und Tauchern zuschauen und in einen Abgrund hinab spähen, der sich tief unter ihren Füssen verliert.«

Das ist zweifellos grandios, dachte Gustav. Er war auf einmal ein wenig verlegen, weil er den Eindruck hatte, dass das, was er hier sah, unendlich viel bezaubernder, lieblicher und berückender war als sein eigener Traum, der im Grunde aus nicht viel mehr als aus ein paar bunten Bildern eines alten Films bestand.

»Sehen Sie übrigens dieses Netz hier«, unterbrach Frau Schneider Gustavs Gedanken, »dieses filigrane Netz? Wir müssen den Wasserkörper in Zirkulation versetzen. Weil es sich um sehr viel Wasser handelt, haben wir zwei Kreisläufe gewählt, um jede Insel einen. Sie sind gegenläufig. Die Wasser treffen sich am Netz, das sie natürlich nicht trennt, sondern ihnen nur den Weg weist. Es handelt sich also um einen einzigen Wasserkörper, aber er empfindet sich als geteilt, und weil der eine Körper relativ flach ist und um eine relativ kleine Insel herumkurvt, der andere aber tief ist und eine viel größere Insel umkreist, entstehen die interessantesten Strömungen, deren Wirkungen wir noch gar nicht abschätzen können. Wir betreten überhaupt mit vielem technisches Neuland, was das Interesse aller Beteiligten vervielfachen wird. Wie gefällt Ihnen übrigens das Casino?«

»Welches Casino?«, fragte Gustav. »Da, der dunkle Komplex.« Von einem Casino habe er nichts gewusst, entgegnete Gustav. Dann solle er sich trotzdem keine Sorgen machen, beschwich-

tigte Frau Schneider, es gehe keineswegs nur um Geld, obwohl ein Casino als Einnahmequelle natürlich nicht zu verachten sei. »Wir hatten nämlich ein Problem, Gustav, ein Fundamentalproblem sozusagen, das wir lösen mussten.«

Er könne sich gewiss vorstellen, sagte sie, dass Bau und Erhaltung einer Anlage dieser Größenordnung ein Heidengeld koste. Dieses Geld müsse verdient werden. Nun könne man, trotz der beachtlichen Ausmaße des Meeres, leider unmöglich mehr als ein paar hundert Leute zugleich ins Wasser lassen. »Jeder geduschte Badegast«, sagte Frau Schneider, »trägt pro Badegang etwa sechshundert Millionen Keime ins Wasser. Bei unseren Tropentemperaturen entstünde schnell eine tödliche Lake. Wenn wir nach der für Schwimmbäder geeigneten Art vorgehen könnten, müssten wir einen geschlossenen Wasserkreislauf herstellen, dem gemäß Vorschrift des Gesetzgebers etwa dreißig Liter frisches Wasser pro Tag und Badegast zuzuführen sind. Am üblichsten wäre eine vollautomatische Chlorelektrolyseanlage, die möglichst schonend dem Wasser eine dreiprozentige Chlorlauge zuimpft. Chlor verbrennt bekanntlich Leben, Chlor plus Sauerstoff vernichtet die Bakterien, mit anderen Worten: Chlor reinigt das Wasser. Allerdings bewirkt Chlor ein Ansteigen des pH-Wertes, und das wiederum vermindert die Desinfektionswirkung des Chlors. Dieses Problem wäre zu lösen, indem wir mittels Schwefelsäure den pH-Wert unseres Wassers auf das gewünschte Maß senkten. Dann hätten wir eine angenehme und gesunde Mischung für unsere Badegäste. Für die vielen zehntausend Fische allerdings und für die Korallen und für alles übrige Leben unter Wasser sind diese Lösungen leider unbrauchbar. Alles wäre in kürzester Zeit tot.«

Gustav nickte wieder. Er kam sich vor, als befinde er sich in einem Lehrgang, dem er nicht ganz zu folgen vermochte, weil er die Hausaufgaben nicht erledigt hatte.

Frau Schneider redete unbeirrt weiter. »Die chemischen Lösungen haben sich als unbefriedigend erwiesen. Es bleibt uns nur die Möglichkeit, beim Menschen einzusparen. Also müssen wir wählen, Gustav, wir müssen auswählen und selektieren. Nicht jeder darf in unser Wasser. Aber wir brauchen trotzdem die Massen, weil wir mit Ihnen, Gustav, an der Spitze des Unternehmens das Ganze nicht als Privatvergnügen für ein paar Superreiche aufziehen können. Sie würden das nie akzeptieren mit Ihrem sozialen Sinn. Wir brauchen die Massen, wir müssen die Massen anlocken, wir müssen sie dazu bringen, dass sie zu uns ins ›Zentralmeer‹ kommen, und wir müssen sie dazu verführen, dass sie immer wieder kommen, obwohl die Chance, ins Wasser steigen zu dürfen, verschwindend gering sein wird.«

Gustav schmunzelte. Wenn er ehrlich war, hatte er sich über den sozialen Aspekt des Unterfangens noch keinen einzigen Gedanken gemacht. Sollen sie mich für einen Heiligen halten, dachte er. Er selber jedenfalls würde dieses Meer bis zu seinem Grund erforschen.

Frau Schneider schien das Schmunzeln nicht zu bemerken. »Das ›Zentralmeer‹ wird ein Ort des Schauens und Staunens, es wird eine kontemplative Insel des Lichts und der Ruhe inmitten der Hektik eines grauen Alltags werden, ein Platz für die Seele also und für die Phantasie. Wir bieten den Leuten viel zum Schauen und viel zum Staunen, aber wir müssen sie natürlich auch dazu verleiten, dass sie sich Erinnerungsstücke kaufen, um ein wenig vom Traum mit nach Hause zu nehmen. Vor allem aber müssen wir sie dazu bringen, dass sie wiederkommen. Dafür gibt es im ›Central Ocean Park‹ natürlich eine ganze Reihe von guten Gründen, und es gibt eine reiche Palette von Möglichkeiten, aber die beste Idee hat unsere Gaby gehabt. Ihre Idee ist absolut genial. Sie will, dass wir den Leuten das Gefühl vermitteln, sie hätten eine echte Chance, ins Meer zu kommen, wenn sie es nur oft genug versuchen. Also organisieren wir im Casino Lotterien, Gustav! Wir verlosen die Bade-, die Schnorchel- und die Tauchkarten und die Sonnenplätze auf dem Sand!«

Gustav schaute Frau Schneider ein wenig skeptisch an.

»Diese Lotterien werden der Höhepunkt sein, Gustav, das wird ein absolutes gesellschaftliches Muss. Wir können jedem, der zu uns kommt, die interessantesten Stunden garantieren, in den Restaurants, den Schauräumen, im Museum und so weiter. Aber stellen Sie sich das Gerangel vor, wenn es darum geht, eine Chance aufs Tauchen und aufs Tummeln mit Delphinen zu erhaschen. Die Leute werden uns die Türen einrennen. Sie werden wiederkommen, immer und immer wieder, sie werden süchtig sein. Es geht also wirklich nicht nur um Geld, Gustav, sondern um ein Lebensgefühl, es geht um das Lebensgefühl Meer und um die Möglichkeit, in dieses Meer hinein zu tauchen.«

André sei der Meinung, dass sich auch die Wissenschaft, die Forschung und sogar das Militär Fortunas Richtspruch zu unterwerfen hätten. Sie teile diese Meinung nicht, aber sie denke, dass diese Entscheidung am besten Gustav treffe.

Gustav hatte keine Ahnung, was er antworten sollte. Er sagte, er werde es sich überlegen, und er merkte im selben Moment, wie sehr ihm inzwischen Gerlinde fehlte. Mit ihr hätte er sich besprechen können. Gerlinde wüsste, was in diesem Fall das Richtige wäre.

»Was geschieht eigentlich mit meinem Haus?«, fragte er.

»Sie können darin weiterleben, wenn Sie wollen«, antwortete Frau Schneider, »Sie würden über Ihren eigenen privaten Zugang zum Meer verfügen.« Eine andere Möglichkeit wäre, darin ein Museum unterzubringen, ein meeresgeschichtliches Museum vielleicht oder ein Museum der bizarrsten Fische. Gaby wiederum wolle das Haus in ein exklusives Flitterwochen-Resort verwandeln mit allem denkbaren Luxus und natürlich mit eigenem Zugang zu Sandstrand und Küste. Gaby behaupte, dass gerade auf dem Hochzeits- und Flitterwochenmarkt die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen die Leute inzwischen dazu verführe, jede, aber auch wirklich jede Summe zu bezahlen. »Da werden für die Mär vom schönsten Tag des Lebens ohne mit der Wimper zu zucken halbe Jahressaläre geopfert«, sagte Frau Schneider.

Gustav lachte. Er entschied, vorläufig in seinem Haus zu bleiben, weil er nicht wolle, dass Gerlinde ein vollkommen verändertes Heim vorfinde.

Frau Schneider meinte, das verstehe sie gut. Sie selber müsse jetzt leider los, sie habe einen Termin. »Bei einem berühmten Wetterfrosch«, sagte sie, »von dem ich heitere Aussichten erwarte.«

Das Modell blieb in Gustavs Salon stehen. Gustav musste es immer wieder anschauen. Aus welchem Winkel er es auch betrachtete, er fand es wahnsinnig schön und unglaublich elegant. Es hat etwas von der Anmut eines Taj Mahal, dachte er, und von der Großartigkeit der ägyptischen Pyramiden.

Er nahm eine Lampe und bewegte sie von Ost nach West über das Modell hinweg, um zu sehen, wie sich das Licht veränderte und wie die Schatten fielen. Er merkte, wie in ihm ein Gefühl entstand, bei dem es sich zweifellos um Stolz handelte, und er spürte, wie dieses Gefühl stärker wurde und wuchs, bis es ihn ganz erfüllte. Wenn man sich vorstellt, dachte er, dass das auf meinem Mist gewachsen ist!