10.
Gustav war trunken vor Begeisterung, als sich am Sonntagnachmittag die Führungsmannschaft im Konferenzraum der ABG versammelte. Er war schon am Vormittag in die Stadt gefahren, hatte in einem der bekanntesten Kaffeehäuser ausgiebig gefrühstückt und Zeitungen gelesen. Sie waren natürlich voll von den üblichen Katastrophenmeldungen, aber er hatte den Eindruck, dass man sich schon daran zu gewöhnen und aus dem Elend das Beste zu machen schien. »Des einen Unglück, des anderen Glück« oder »den einen nimmt, den andern gibt das Glück«, schien die Devise dieser Tage zu sein, jedenfalls brachten alle Zeitungen, als hätten sie sich miteinander abgesprochen, Bildberichte von Unternehmen, die vom anhaltend schlechten Wetter profitierten, und das waren keineswegs nur die Regenschirm- und Gummistiefelproduzenten. Im Übrigen wurde der »Jahrhundertregen«, wie man ihn inzwischen nannte, zu einem Naturphänomen verklärt, das mit der Erwärmung der Atmosphäre zusammenhänge, die nicht nur die Polkappen abschmelzen und den Meeresspiegel ansteigen lasse, sondern auch eine schnellere Verdunstung des Meerwassers bewirke, welche sich besonders in der gemäßigten Klimazone natürlich in Form von Regen entlade. Der Dauerregen wiederum bewirke allerdings auch eine Abkühlung der Atmosphäre, was sich günstig auf die Verdunstungsrate auswirke: Sie bewege sich in aller Regel bald einmal auf ihr normales Maß zurück. Trotzdem müsse man für die Zukunft davon ausgehen, dass es immer wieder zu längeren Regenperioden kommen werde. Man habe sich damit abzufinden und die entsprechenden Vorkehrungen zu treffen.
Als Gustav in der ABG eintraf, war Frau Schneider gerade dabei, von ihrem Besuch beim berühmten Wetterfrosch zu berichten. Dieser sei optimistisch, das Wetter werde sich schon in wenigen Tagen normalisieren. Gaby warf ein, dass sich andauernder Regen auf die Geschäftsentwicklung des »Central Ocean Parks« nur positiv auswirken könne, weil die Leute dort eine echte Alternative zum schlechten Wetter finden würden.
André ließ sie kaum ausreden. Er drängte darauf, sofort mit den Arbeiten zu beginnen. Gustav hatte das Gefühl, André stehe unter gewaltigem Druck, aber als er ihn fragte, meinte André nur, ihn mache das Warten immer nervös. Er schlug vor, die ganze Diskussion abzukürzen und auf der Stelle darüber abzustimmen, ob man am nächsten Tag mit der Arbeit beginnen wolle.
»Der Mann muss hinaus ins feindliche Leben«, brummte Herr Novak und meinte dann, er sei in jedem Fall dafür, morgen anzufangen.
So schaute denn Gustav am Montag vom Fenster des Schlafzimmers aus zu, wie die Bulldozer Gräben auszubaggern begannen, um den Sumpf zu entwässern, in den der Regen die Felder hinter seinem Haus verwandelt hatte. Die Arbeit ging zügiger als erwartet voran, weil die Niederschläge im Laufe des Vormittags nachließen. Als sie während über einer Stunde ganz ausblieben, und als schließlich sogar die Sonne durch die Wolken blinzelte, da fanden sich, als hätten sie sich abgesprochen, Gustav und André und Frau Schneider und alle anderen auf der Baustelle ein.
Jemand stellte einen Tisch auf, packte Champagner aus und füllte die Gläser. Man stieß an, man gratulierte sich und man wünschte sich einen erfolgreichen Beginn.
»Wo bist du, Sonne, geblieben«, sang Gaby und blinzelte vergnügt in den Himmel.
»Sehen Sie den Dampf über den Feldern?«, fragte Frau Schneider Gustav. »Sehen Sie, wie das Licht die Wassertropfen an den Gräsern zum Glitzern bringt?«
»Das sind freundliche, verheißungsvolle und schöne Zeichen«, entgegnete Gustav.
»Zwei Tage von diesem Wetter, und der Sumpf hat sich von alleine erledigt«, versprach einer der Tiefbauingenieure.
Tatsächlich funkelten die Wiesen rundum, als habe man Diamanten ausgestreut. Der Himmel war zwar noch lange nicht klar und blau, aber die Wolkendecke schien ernsthaft aufzureißen, und plötzlich konnten auch die Vögel nicht mehr an sich halten und zwitscherten ihre Begeisterung in die Luft. »Das ist aber ein Tag!«, lachte Frau Schneider, während sie sich bei Gustav einhängte.
Gustav war froh, dass sich Frau Schneider ihm gegenüber offen und freundschaftlich benahm. Wahrscheinlich findet sie es inzwischen auch besser, dass damals zwischen uns nichts war, dachte er, weil sich alles doch nur unglaublich verkompliziert hätte.
Frau Schneider führte ihn auf einen kleinen Erdhügel am Rande des Areals. »Schauen Sie sich das an, Gustav«, sagte sie, »schauen Sie es sich ganz genau an und prägen Sie sich dieses Bild ein. Bald wird sich hier ein Meer erstrecken. Ist das nicht unglaublich, ist es nicht phantastisch? Ihre Vision wird Wirklichkeit werden. Die Leute werden herkommen, um einfach nur glücklich zu sein. Sie werden sich erzählen: Ich war am Meer und habe Unendlichkeit gesehen. Und auch wenn die Leute eines fernen Tages gar nicht mehr wissen, wem sie dieses Meer verdanken, werden sie sich dennoch immer daran erinnern, dass es einen Schöpfer gegeben hat.«
Gustav schaute vom Hügel hinab über die Äcker und Felder hin zu seinem Haus. Die Arbeiter waren gerade damit beschäftigt, die Silbertannen am Rande seines Gartens zu fällen. Eben stürzte krachend eine um. »Schade um die Bäume«, seufzte Gustav.
»So ist das Leben«, antwortete Frau Schneider, »die einen sterben, um anderen Platz zu machen. Bald werden an der Stelle der Silbertannen Palmen wachsen. Kokospalmen wahrscheinlich, das sind die höchsten.«
»Gerlinde hat die Silbertannen nie gemocht«, sagte Gustav versonnen, »Buchen wollte sie. Sie hat immer von Buchen geträumt.«