1.
Bald schloss sich die Wolkendecke vor dem Himmel. Trübsinnig rann Regen auf ein Land, in dem sich Erschöpfung breitzumachen begann. Hört denn das nie auf, klagten viele. Manche versuchten sich damit zu trösten, dass es irgendwann ausgeregnet haben müsse. Wenn man wenigstens ab und zu einen Regenbogen sehen könnte, jammerten einige. Es war, als habe ein missgünstiger Gott jede Fröhlichkeit aus der Welt vertrieben. Die Feuchtigkeit kroch allen in die Knochen.
Gustav schaute vom Schlafzimmerfenster im ersten Stock seines Hauses aus über die Felder und sah Bulldozer, die vor allem Schlamm aufzuwühlen schienen, während sie ein paar Gräben ins Erdreich rissen, welche sich sofort mit Wasser füllten.
Immer wieder blieb schweres Gerät stecken. Die Bauleitung hatte Pumpen heranschaffen lassen, aber sie vermittelten nicht den Eindruck, als vermöchten sie etwas zu bewirken. Die Arbeit ging mühsam voran, gequält brüllten Motoren auf, wenn sich die Maschinen aus dem Dreck zu befreien versuchten. Gelang es nicht, fuhren Traktoren heran, um aus der Grube zu ziehen, was sich selber hineingegraben hatte.
Gustav schüttelte den Kopf. So wird das nichts, dachte er. Er griff zum Telefon und rief André an. »So wird das nichts, André«, sagte er, »es ist sinnlos, wir müssen warten, bis sich das Wetter bessert.«
André entgegnete, er habe eben mit dem leitenden Ingenieur gesprochen. Man werde im Nordwesten des künftigen Ozeans einen Damm errichten und das Fließwasser um das Gelände herum südwärts und nach Eichgraben lenken, wo sich ein Bach befinde.
»André! Du hast nicht zugehört«, fuhr Gustav dazwischen, »ich bin der Meinung, dass wir warten sollten. Einfach ein paar Tage warten, André, irgendwann muss die Sonne herauskommen, das ist ein Naturgesetz.«
André ging auch darauf nicht ein. Eine Umleitung südostwärts ums Gelände herum komme hingegen nicht in Frage, sagte er, weil die Kosten zu groß wären. »Da gibt’s eine lästige Geländestufe«, betonte er, »wir würden Sammelbecken brauchen und Pumpen und einen Tunnel, das ist alles viel zu umständlich. Nein, es ist entschieden, wir schaffen das Wasser in den Eichgrabenbach, das kostet fast nichts.«
»André«, rief Gustav ins Telefon, »als Präsident der ›Stiftung Zentralmeer‹ verlange ich ...«
Man werde, unterbrach André, Gustavs Vorschläge anlässlich der nächsten Stiftungsratssitzung gerne prüfen, und hängte auf. Gustav schäumte. »Mit mir nicht!«, schrie er und riss den
Regenmantel vom Kleiderständer. Er war drauf und dran, aus dem Haus zu stürmen, um André zur Rede zu stellen.
Da rief Frau Schneider an. »Es gibt gute Nachrichten«, sagte sie im harmlosesten Plauderton, »man hat mir eben berichtet, dass ein Hochdruckgebiet im Anmarsch ist. Wir können schon in zwei Tagen mit einer endgültigen Aufhellung rechnen.«
»Was soll das?«, fragte Gustav scharf. Er war über alle Maßen verärgert und hätte nur zu gern seinen ganzen Zorn über Frau Schneider ausgegossen, aber es ging ihm wie immer, wenn er verärgert war: Die Angst, vor Wut weinen zu müssen, verschlug ihm die Stimme.
Trotzdem merkte Frau Schneider, dass etwas nicht in Ordnung war. »Verlieren Sie jetzt bloß nicht die Nerven, Gustav«, bat sie ihn. Es gebe in jedem Projekt schwierige Augenblicke, aber diese Schwierigkeiten seien dazu da, überwunden zu werden. »Sie müssen André verstehen«, mahnte Frau Schneider, »er war mitten in einer Sitzung mit dem Bankenkonsortium. Ihr Anruf kam im denkbar ungünstigsten Augenblick. Erinnern Sie sich, dass ich mit Ihnen über die Zeit gesprochen habe und über den richtigen und den falschen Moment? Der richtige Moment für Ihre Bedenken wird kommen, Gustav. Aber jetzt bitte ich Sie: Werfen Sie nicht die Flinte ins Korn! Fassen Sie sich in Geduld!« Im Übrigen finde am Nachmittag in Eichgraben eine Besichtigung statt, er werde doch hoffentlich teilnehmen? »Dieser Termin ist jetzt das Wichtigste«, beschwor Frau Schneider.
»Das wird kein Spaziergang werden«, orakelte Gustav. Er hatte das Gefühl, dass die Probleme in Eichgraben erst richtig beginnen würden.
»Ach, machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, entgegnete Frau Schneider.
Er mache sich aber Sorgen, widersprach Gustav, ganz gewaltige Sorgen sogar, weil er ziemlich sicher sei, dass die Bewohner von Eichgraben ihrem Projekt nicht gerade positiv gegenüberstünden.
»Die Leute sind am Anfang immer gegen das Neue«, erklärte Frau Schneider, »sie sind dagegen, weil es sie ängstigt. Sie möchten am liebsten, dass immer alles so bleibt, wie es ist, damit sie sich an nichts Neues gewöhnen müssen. Aber sie sind immer nur so lange dagegen, bis sie merken, dass sie vom Neuen profitieren. Dann sind sie Feuer und Flamme. Man muss ihnen manchmal ein bisschen auf die Sprünge helfen, man muss ihnen zeigen, wie man das macht, wie man richtig profitiert, man muss sie führen, muss ihnen die richtigen Ideen vermitteln, man muss ihnen sozusagen eine Betriebsanleitung in die Hand drücken und den Arm lenken, aber wenn das gelingt, dann sind sie kaum noch zu bremsen und wollen um nichts in der Welt mehr auf das Neue verzichten müssen.«
»Wenn Sie meinen«, sagte Gustav. Natürlich hatte Frau Schneider recht, wenn sie auf den Opportunismus der Allgemeinheit verwies. Und vielleicht war André tatsächlich zu beschäftigt gewesen, um auf ihn einzugehen. Trotzdem hatte er das Gefühl, er werde über den Tisch gezogen. Man beachtete seine Einwände nicht. Man beschwichtigte. Man hielt ihn hin. Ihm war klar, dass Frau Schneider André verteidigen musste, schließlich war sie seine Partnerin und arbeitete seit vielen, vielen Jahren mit ihm zusammen. Trotzdem hätten sie auf mich hören sollen, dachte er, ich kenne Eichgraben, ich kenne die Leute dort.
Außerdem war da noch etwas. Gustav wusste, dass er sich vor Frau Schneider fürchtete. Irgendwann würde sie es ihm heimzah-len und sich rächen, weil er sie zurückgewiesen hatte. Rache ist das Kokain der Gefühle, dachte er und konnte sich gut vorstellen, dass Frau Schneider dem Genuss dieser Droge nicht abgeneigt war. Ihn schauderte. Auf was, dachte er, habe ich mich eingelassen!
»Wir sind Freunde, Gustav«, sagte in diesem Augenblick Frau Schneider. Hatte sie seine Gedanken durchs Telefon wahrgenommen? »Wir müssen Meer machen, Gustav«, beschwor sie ihn, »und wir müssen gerade in schwierigen Zeiten mehr leisten, damit sich unser Traum erfüllt.«