3.

In Eichgraben verteilten die Chauffeure der Limousinen Regenschirme. Chefingenieur Steiner forderte die Gesellschaft auf, mit ihm zuerst den Verlauf des Eichgrabenbaches zu besichtigen. Sie gingen die schmale Gasse linker Hand der »Post« entlang, passierten den Lederball, mit dem Gustavs Kopf schmerzhafte Bekanntschaft gemacht hatte, und erreichten am Ende der hohen Mauer die Stelle, wo der Bach mit seinem schmutzigbraunen Wasser unter der Erde hätte verschwinden müssen. Stattdessen hatte sich dort ein Tümpel gebildet.

»Der Eichgrabenbach«, erklärte Steiner, »fließt unter dem Weg, den wir gerade gekommen sind, und unter dem Dorfplatz hindurch, um nach fünfhundert Metern wieder an die Oberfläche zu kommen. Dieser Tümpel beweist, dass die Röhre nicht einmal für einen lang anhaltenden Regen groß genug ist. Typisches Beispiel einer Fehlplanung, wenn Sie mich fragen, am besten wäre es, den Bach, wenn er einmal geöffnet ist, auch in Zukunft offen zu lassen und ihm sein natürliches Bett zurückzugeben.«

Man nickte. Man ging den Weg der Mauer entlang zurück zum Dorfplatz und zum Brunnen.

»Wir werden den Dorfplatz aufreißen«, sagte Chefingenieur Steiner, »und den Bach überbrücken.«

»Es gibt einen alten Kupferstich des Dorfplatzes von Eichgraben«, ergriff Frau Schneider das Wort, »auf dem deutlich zu erkennen ist, dass der Bach früher den Dorfplatz offen querte und von einer niedlichen, gedeckten Holzbrücke überwunden wurde. Wir nehmen an, dass Heimat- und Denkmalschutz uns nicht nur ideell, sondern auch finanziell unterstützen werden, wenn wir Eichgraben wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzen.« Zu Gustav sagte sie: »Das ist das Schöne an unserem Projekt, dass es bezaubernde Nebenwirkungen zeitigt.«

Der Dorfplatz lag verlassen. Hinter keinem der Fenster der Häuser, die sich um den Platz scharten, brannte Licht. Es war, als hätten die Bewohner ihre Behausungen aufgegeben, um andernorts ein besseres Leben zu finden.

An der Tür der »Post« hing ein Schild. »Urlaubssperre» stand darauf, und es war dem Schild des Weiteren zu entnehmen, dass der Gasthof zur Post den ganzen Monat geschlossen bleibe.

Chefingenieur Steiner drückte die Klingel, dann hämmerte er gegen die Tür.

Nichts. Es blieb still, als sei auch dieses Haus seit langem verlassen.

»Das ist ein Witz!«, brüllte André. »Wir haben einen Termin!« Er schlug mit den Fäusten auf die Tür ein.

»Das hat keinen Sinn«, meinte Gustav. Er ging in die Gasse rechts vom Gasthof und zum Seiteneingang. Die Metalltür war verriegelt.

Als er zurückkam, wiederholte er: »Ich habe gesagt, es hat keinen Sinn.«

André hörte nicht auf ihn, sondern schlug nur immer weiter mit voller Kraft gegen die Tür.

Nach einer Viertelstunde öffnete sich über ihnen ein Fenster. »Können Sie nicht lesen!«, brüllte der Wirt herab.

»Nun machen Sie schon auf, Mann«, lärmte André zurück, »wir haben einen Termin.«

»Schön für Sie«, höhnte der Wirt, »aber nicht mit mir. Und nicht hier. Urlaubssperre ist, können Sie nicht lesen?«

»Das ist eine Unverschämtheit!«, tobte André.

»Nun seien Sie doch bitte vernünftig«, versuchte Frau Schneider zu beruhigen, »Sie brauchen sich ja bloß anzuhören, was wir Ihnen vorzuschlagen haben, mehr nicht, und es wird bestimmt nicht Ihr Schaden sein.«

»Gut, dann reden Sie«, antwortete der Wirt.

»Aber so lassen Sie uns doch bitte ins Haus«, flehte Frau Schneider, »es regnet, und wir werden alle nass.«

»Ich nicht«, entgegnete der Wirt, »also reden Sie, wenn Sie etwas zu sagen haben.«

Die Gesellschaft stand unter ihren schwarzen Regenschirmen und wirkte wie eine Schar Krähen am Rande einer Novemberbeerdigung.

»Wir bieten Ihnen zehntausend dafür, dass wir den Kanal neben Ihrem Gasthaus öffnen dürfen«, schrie André nach oben, »und weitere zehntausend für jeden Monat, den er offen bleibt! Sobald der Aushub des ›Zentralmeers‹ beendet ist, wird der Kanal wieder überdeckt.«

»Soso, zehntausend«, knurrte der Wirt, »wie wär’s mit zehntausend pro Woche?«

»Das ist doch verrückt, Mann ...« »Oder zehntausend pro Tag? Zehntausend pro Stunde?« »Ich erschieße den Kerl«, zischte André. Offenbar musste er alle Kraft aufwenden, um nicht auf der Stelle zu explodieren. »Hören Sie«, schrie er dann, »Sie versuchen, ein Projekt von überragender Bedeutung zu behindern. Sie legen sich mit Ihrer hinterwäldlerischen Haltung nicht nur mit uns an, sondern mit der Wirtschaft, mit der Politik, Sie betreiben Arbeitsplatzvernichtung, Sabotage, Sie sind ein Schädling ...« André schrie sich so sehr in Rage, dass er beim Schreien spuckte.

»Und?«, fragte der Wirt von oben herab.

»Wenn es sich bei unserem Ansinnen nicht um eine lächerliche Kleinigkeit handelte, um eine zeitlich begrenzte lächerliche Kleinigkeit, wohlverstanden, dann würden wir Ihnen ein Enteignungsverfahren an den Hals hängen, das sich gewaschen hat. Am Ende müssten Sie froh sein, wenn Sie für ihren jämmerlichen Weg überhaupt etwas kriegen ...«

»Sie drohen mir?«, fragte der Wirt.

Frau Schneider trat neben André und legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. Zum Fenster hinauf sagte sie: »Bitte nehmen Sie es ihm nicht übel. Er hängt mit seinem ganzen Herzen an dem Projekt, da kann es schon mal passieren, dass man übertreibt. Natürlich drohen wir Ihnen nicht. Wir möchten Ihnen ein vernünftiges Angebot machen, es geht ja nur um ein befristetes Wegnutzungsrecht.«

Steiner mischte sich ein. »Wir könnten unseren Kanal auch um Ihr Grundstück herumführen«, rief er zum Fenster hinauf, »das wäre ein wenig komplizierter, ein wenig aufwändiger, es wäre mit zusätzlichen Kosten verbunden, deshalb haben wir gedacht, bevor wir das Geld im Boden vergraben, geben wir es lieber Ihnen.«

»Das geht nicht«, antwortete der Wirt. Er habe nämlich den Weg seinen Burschen überlassen, die dort trainierten, und er könne beim besten Willen nicht zulassen, dass seine Burschen in ihren Übungen gestört oder gar behindert würden.

Was denn das für ein Training sei, fragte Frau Schneider.

»Das kann Ihnen Ihr lieber Gustav erklären«, antwortete der Wirt und schloss das Fenster.

Die Gesellschaft sah Gustav an.

»Der Ball ...«, sagte Gustav. Er überlegte, ob er seinen Freunden verraten solle, dass der Wirt und die Burschen Mitglieder einer Endzeitsekte seien. Er entschied sich dagegen. Die Freunde hatten in letzter Zeit so wenig auf ihn gehört, dass er sich nicht verpflichtet fühlte, ihnen alles zu sagen. Stattdessen führte er sie ums Haus herum in die Seitengasse zu dem Sportgerät, das an der Mauer klebte. »Der Wirt hat vier junge Burschen adoptiert«, erklärte Gustav, »Straßenkinder oder so. Sie trainieren hier.«

André lachte auf. Es war ein ganz kurzes, ganz trockenes und irgendwie irr klingendes Lachen. »Ich glaub das nicht«, sagte er dann, »ich glaub’s nicht! Ich erschieße den Kerl, ich erschieße ihn!« Er rannte zur Haustür zurück und schlug dagegen.

»Sie kennen diese Leute?«, fragte Frau Schneider Gustav.

»Oberflächlich«, entgegnete Gustav. Er sei ein paar Mal im Gasthof eingekehrt, weil er das Stammlokal der örtlichen Aquarianer sei.

»Warum haben Sie uns das nicht erzählt?«, wollte Frau Schneider wissen.

»Weil ich den Eindruck habe, dass seit einiger Zeit sowieso niemand mehr auf mich hört«, antwortete Gustav.

»Sind Sie etwa beleidigt?«, fragte Frau Schneider. Sie wisse zwar, fügte sie hinzu, dass eine Beleidigung nicht nach den Maßstäben dessen zu beurteilen sei, der sie zufüge, sondern nach dem Empfinden des Beleidigten, aber sie halte sein Empfinden denn doch für ziemlich übertrieben. »Sie haben uns nicht die Wahrheit gesagt«, meinte sie, »Sie haben wesentliche Tatsachen verschwiegen, obwohl Sie wissen, dass sich Täuschung, Betrug und Korruption auf Dauer nicht verbergen lassen. Gerade von Ihnen, Gustav, hätte ich in Sachen Moral Glaubwürdigkeit erwartet. Für ziemlich unglaubwürdig halte ich es hingegen, wenn man sich ethische Werte auf die Fahnen schreibt, die man in der Praxis nicht einhalten will.«

Während der ganzen Zeit hatte André auf die Tür eingedroschen. Bevor Gustav Frau Schneider jetzt eine Antwort geben konnte, öffnete sich das Fenster wieder.

»Was wollen Sie noch?«, fragte der Wirt.

»Hören Sie, Sie ... Sie ...«, schäumte André, »Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie wegen der zweifelhaften Vergnügungen von ein paar kriminellen Halbwüchsigen ein Unternehmen behindern, das nicht nur eine gewaltige kulturelle Leistung darstellt, sondern darüber hinaus auch ...«

»Nun halten Sie mal die Luft an«, dröhnte der Wirt, »Ihre kulturellen Leistungen können Sie sich nämlich sonstwohin stecken, mich lassen Sie damit bitte in Frieden.«

»Aber ... aber ...«, krächzte André. Er war rot vor Zorn, er kochte, er dampfte, er hüpfte wie besessen auf und ab.

»Ich will Ihnen mal was sagen«, brummte der Wirt, »vielleicht muss es Leute wie Sie und vielleicht muss es Ihre kulturellen Leistungen geben, und vielleicht sind Sie und Ihre kulturellen Leistungen sogar ein Höhepunkt dessen, was man Evolution nennt. Vielleicht sind Sie tatsächlich etwas Besonderes, und vielleicht verdienen Sie es, dass man Ihnen Hochachtung und Respekt zollt und sogar Bewunderung. Ja, wer weiß, vielleicht haben Sie sogar das Zeug in sich, irgendwann ganz, ganz groß herauszukommen, und Sie haben vielleicht nicht nur Hochachtung, Respekt und Bewunderung verdient, sondern sogar Verehrung und vielleicht sogar irgendeine Art von Unsterblichkeit. Aber das ändert nichts an dem, was ich meinen Burschen versprochen habe. Die dürfen den Weg und ihr Sportgerät so lange benützen, wie sie wollen. Und wenn ich mein Wort einmal gegeben habe, dann halte ich es auch. Da fährt die Eisenbahn drüber, und Sie, mein Teuerster, beißen auf Granit. Meine Damen, Gustav, meine Herren: Ich wünsche allen einen sonnigen Tag.«

Der Wirt schloss das Fenster, und er öffnete es nicht wieder, obwohl André und Steiner wie Berserker gegen die Holztüre schlugen.

»Abmarsch!«, befahl André schließlich. »Abmarsch!«, sekundierte Steiner.