4.

Man bestieg die Limousinen, um zum Hauptsitz der ABG zu fahren. André, Frau Schneider und Steiner nahmen das eine, Gustav und Gaby das andere Automobil. Gustav war froh, dass er nicht bei André sitzen musste. Dessen Gesicht war noch immer hochrot, und es schien, als könne er jeden Moment platzen. Gaby hingegen wirkte, als ob die Auseinandersetzung mit dem Postwirt sie nicht im Geringsten betroffen habe. »’S wird besser gehen, ’s wird besser gehen, die Welt ist rund und muss sich drehen«, trällerte sie vor sich hin. Als sie Gustavs besorgtes Gesicht sah, lachte sie hell auf. Er dürfe das alles nicht ernst nehmen, sagte sie, das sei typisch Mann. Hahnenkämpfe und Machoallüren. Haben nur den Zweck, Positionen zu markieren. »Sie werden’s noch erleben«, sagte sie, »am Schluss sind sie die besten Freunde und auch noch stolz darauf, dass sie sich so prächtig aufplustern konnten.«

Die ländlichen Gebiete, durch die sie fuhren, waren düster. Je näher sie allerdings der Stadt kamen, desto heller und heiterer wurde alles um sie herum. Überall brannten Lichter. In ein paar Geschäftsstraßen hatte man sogar Weihnachtsbeleuchtungen aufgehängt, obwohl diese Saison in weiter Ferne lag. Der nasse Asphalt wirkte wie ein Spiegel. Alles funkelte und glitzerte, glänzte und leuchtete, dass einem warm ums Herz werden musste.

Gustav merkte, wie auch ihn diese Lichtorgien verzauberten. Schon erreichte der Konvoi die ABG. André stürmte voran in den Sitzungssaal, die anderen folgten nach. »Steiner!«, bellte André, »präsentieren Sie Alternativen!« Chefingenieur Steiner blätterte in den Papieren, räusperte sich und meinte, man könne allenfalls den Kanal zwischen Eichgraben und der Siedlung hindurchführen, in der sich Gustavs Haus befinde. Es gebe auf diesem Weg zwei natürliche Hindernisse, die zu bewältigen seien, ohne dass man allzu viel investieren müsse. »Allerdings gibt es ein Problem«, meinte Steiner, »das mir Kopfzerbrechen bereitet.« Genau zwischen Eichgraben und der Siedlung befinde sich nämlich eine vor etlichen Jahren stillgelegte Sondermülldeponie. »Das ist ein Giftsumpf«, erklärte Steiner, »Sie können sich vorstellen, was auf uns zukäme, wenn wir ihn mit unserem Wasser queren.«

»Andere Möglichkeiten?«, fragte André, der sich nicht gesetzt hatte und wie ein gefangenes Raubtier hin und her und her und hin hetzte.

»Wenn wir das Wasser nicht wie geplant in den Eichgrabenbach leiten wollen ...«, begann Steiner.

»Wie sehen die Wetterprognosen aus?«, unterbrach André.

»Gar nicht schlecht«, sagte Frau Schneider. »Es ist möglich, dass es im Laufe der nächsten Tage zu einer Aufheiterung kommt. Allerdings bildet sich über den Azoren ein nächstes Tiefdruckgebiet. Aber das sollte uns erst in zwei Wochen erreichen.«

»Wir erschießen ihn!«, bestimmte André. »Ich nehme das persönlich in die Hand.«

»Aber das geht nicht, André«, widersprach Gustav. Er zitterte und seine Stimme drohte zu kippen. »Wir können nicht einen Mord begehen, nur um unsere Ziele zu erreichen ...«

»Und ob wir das können«, schnaubte André. »Die ganze Weltgeschichte ist voller Gewalt, die dem Zweck dient, Hindernisse aus dem Weg zu räumen auf dem Weg zum richtigen Ziel.«

»Das können wir nicht tun!«, schrie Gustav. »Da mache ich nicht mit, so wichtig ist mir mein Meer nun auch wieder nicht, dass jemand umgebracht werden muss. Hören wir auf, André! Lass uns einfach aufhören!«

André lachte. »Du willst aufhören, Gustav? Ausgerechnet jetzt willst du aufhören? Leider geht das nicht, Gustav, es ist schon viel zu viel passiert, es sind schon viel zu viele Leute beteiligt, und es wurde schon viel zu viel Geld investiert. Man nennt das Sachzwang, Gustav, ob es dir nun passt oder nicht.«

Gustav schüttelte den Kopf. Er war sprachlos vor Entsetzen. Er zitterte am ganzen Körper und glaubte, ersticken zu müssen. »Nein, André, das geht nicht, das darf man nicht tun«, stammelte er und schaute hilfesuchend von André zu Chefingenieur Steiner und zu Frau Schneider.

»Beruhigen Sie sich, Gustav«, beschwichtigte sie, »André meint das nicht ernst. Er ist wütend, und da sagt er manchmal Sachen, über die er später lacht, Sie kennen ihn doch, Gustav. Er lässt Dampf ab, mehr ist das nicht, das hat nichts zu bedeuten. Wir sind ein anständiges Unternehmen, wir sind keine Räuberbande, keine Verbrecher.«

Gustav wusste nicht, was er glauben sollte. Er schaute André an, er musterte Frau Schneider, er versuchte, André mit seinen Blicken zu durchdringen, und er hoffte, dass sie wussten, was sie da taten. »Ist das wahr, André?«, fragte Gustav schließlich.

André atmete tief durch. Sein Gesicht, das knallrot gewesen war, nahm eine natürlichere Farbe an. Er lächelte, ging auf Gustav zu und umarmte ihn. »Aber selbstverständlich ist das wahr«, sagte er, »wir sind doch nicht die Mafia, Gustav. Wir sind ein ordentliches Unternehmen. Wir haben auch in der Vergangenheit oft genug mit Problemen zu kämpfen gehabt, und wir haben sie immer auf ordentliche, vernünftige und anständige Art gelöst. Tut mir leid, Gustav, das Scheißwetter, die Verhandlungen mit dem Konsortium und dieser Prolet, der Wirt, das geht mir auf den Geist, aber natürlich hast du recht, Mord ist keine Lösung, Mord würde alles nur verschlimmern, nicht wahr, Gaby, unser Gustav hat recht.«

Alle lachten, und auch Gustav hätte sich gerne entspannt. Aber ihm kamen zwei Szenen aus der Studentenzeit in den Sinn. Er und André und zwei Kollegen waren, wie es ihre Gewohnheit gewesen war, spät nachts unterwegs gewesen, sie waren auf dem Weg zu einem Nachtlokal, das sie damals frequentierten, sie schlenderten auf einem Bürgersteig, der von geparkten Automobilen gesäumt war, als André plötzlich auf eines hinaufsprang und dann auf das nächste und das übernächste und immer weiter. Dabei stampfte er Kühlerhauben, Windschutzscheiben, Dächer und Kofferraumdeckel von einem halben Dutzend Fahrzeugen ein und zerstörte sechs Automobile in weniger als zehn Sekunden. Sie waren betrunken gewesen und waren, als André endlich wieder auf die Straße hüpfte, davongerannt, gleichermaßen entsetzt und begeistert von dieser seltsamen Heldentat. Als sie den Klub erreicht hatten, wollte man sie nicht einlassen, weil das Lokal mehr als voll sei. André nahm die Zurückweisung nicht hin. Er provozierte die Türsteher so lange, bis vier große Kerle auf ihn losgingen. Was folgte, dauerte auch nur ein paar Sekunden, aber Gustav erinnerte sich überdeutlich daran: Die Muskelprotze sprangen André an, André hielt sich an ihnen fest und ließ sich vom Schwung des Angriffs über ein geparktes Auto zu Boden stoßen. Als sich der Staub legte, lagen zwei Angreifer auf der Straße, einer mit Andrés Knie auf der Kehle, der andere starrte schreckensbleich auf zwei Finger, die keinen Zentimeter von seinen Augen entfernt zum Zustechen bereit verharrten. Der dritte schrie, weil ihm André den Arm mit einem schmerzhaften Ringergriff auf den Rücken verdreht hatte, während der vierte, ebenfalls schreiend, floh. Der kleine André hatte schon damals in verschiedenen asiatischen Kampfkünsten den schwarzen Gürtel besessen. Gustav hatte ihn bewundert. Er hatte dieses Zusammenwirken von Lässigkeit und Effizienz bestaunt.

Jetzt machte es ihm Angst.

Das Wetter, dachte Gustav, ist das eine. Etwas anderes ist die Wut. Ganz offensichtlich hatte es André rasend gemacht, dass der Wirt gewagt hatte, sich seinem Willen mit einer derart offensichtlichen Herablassung zu widersetzen; und ebenso offensichtlich war Andrés Zorn echt gewesen. Gustav erinnerte sich gut daran, dass man mit einem wütenden André nicht spaßte, und ihm war schon zur Studentenzeit ohne den geringsten Hauch eines Zweifels klar gewesen, dass es besser war, sich nicht gegen André zu stellen. André war brillant und böse gewesen, ihm hatte man alles zugetraut. Als wir studierten, dachte Gustav, hat mich das amüsiert, weil André seinen Willen nie gegen mich, sondern immer nur gegen andere durchsetzen musste. Ich habe mich in seinem Schatten aufgehalten, nein, ich war sein Schatten, den sein jäher Zorn niemals traf. Jetzt allerdings ...

Er schaute zu, wie André und Frau Schneider aus dem großen Sitzungssaal schlenderten. Sie glichen, trotz des enormen Größenunterschieds, einem altvertrauten und eleganten Paar, das sich auf dem Weg von der Loge ins Pausenfoyer befindet, grüßt und lächelt und plaudert, als gelte es, einen besonders netten Abend zu genießen.

Ich muss etwas tun, überlegte Gustav, ich muss eine Katastrophe verhindern. Bis jetzt war er von den Ereignissen mitgetragen und fortgespült worden, er hatte vor sich hin geträumt und zugeschaut, wie sich andere seines Traumes bemächtigten und ihn zu verwirklichen begannen. Er war damit mehr als zufrieden gewesen, er hatte das große Los gezogen, er hatte Glück gehabt, und vielleicht war seine Idee wirklich genial. Aber jetzt drehte der Wind. Ich muss diese Katastrophe verhindern, dachte Gustav, weil ich verantwortlich bin. Er war mitgegangen, also war er auch mitgefangen. Er würde dafür sorgen müssen, dass daraus kein Mitgehangen wurde.

Ich trage eine Verantwortung, ermahnte sich Gustav, jetzt hat es sich nämlich ausgeträumt. Er bat Gaby, ihn in ein Nebenzimmer zu begleiten. »Wir sind alle angespannt«, sagte er, »die Lage ist unerträglich, wir sollten unsere Nerven beruhigen und uns an einem Ort zusammensetzen, wo wir alles in Ruhe besprechen können.«

Ihr sei auch alles ein bisschen viel, entgegnete Gaby, am liebsten würde sie nach Hause fahren, um sich ein wenig auszuruhen.

»Dazu«, widersprach Gustav, »ist jetzt nicht die Zeit. Wir müssen etwas tun, und ich rege in meiner Eigenschaft als Präsident des Stiftungsrates an, ein paar Tage lang in Klausur zu gehen.« Er stelle sich ein nettes Hotel vor, abgelegen wenn möglich, in der südlichen Hügellandschaft vielleicht, wo man ausspannen könne. Er habe den Eindruck, dass man sich in eine Hektik habe treiben lassen, die dem ganzen Unterfangen abträglich sei. »Wir müssen uns wieder auf das Wesentliche besinnen«, sagte er, »und dieses Wesentliche hat sehr viel mit Ruhe, mit Weitsicht und mit Geduld zu tun.«

Gaby meinte, sie verstehe auch nicht wirklich, weshalb man nicht einfach abwarte. »Eile, Hast, Wirbel! Das entfernt nur vom Ziel«, betonte sie.

Gustav pflichtete ihr bei. Gelassenheit und Beständigkeit und Beharrlichkeit und vor allem Gleichmut seien jetzt gefragt. Er bat Gaby, das Nötige zu veranlassen, damit man diese Klausur umgehend beginnen könne.

Sie versprach es. Sie habe auch bereits eine Idee. Sie kenne einen Ort, einen magischen Ort, ein wunderschönes Plätzchen ,wo man sich einfach wohlfühlen müsse. Sie werde unverzüglich die Kalender von André und Frau Schneider überprüfen. Sie sei sich allerdings ziemlich sicher, dass das Wochenende frei sei, weil eine große Konferenz wegen des Unwetters abgesagt werden musste.

»Wunderbar, wunderbar«, drängte Gustav, »dann schauen Sie also, dass nichts mehr dazwischenkommt.«