5.

Den schönen Worten von Beruhigung zum Trotz hatte es nämlich auch Gustav eilig, weil er schleunigst nach Eichgraben wollte: Es galt, Krieg zu verhindern. Er nahm ein Taxi. Es regnete stark. Die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren, doch die Sicht blieb miserabel. Der Taxifahrer meinte, das komme davon. Früher hätte man bei diesem Wetter keinen Hund vor die Tür gejagt. Aber heutzutage nehme keiner mehr Rücksicht. Heutzutage denke jeder nur noch an sich. »Ja, die Ichsucht«, sagte er, »ist an allem schuld.« Offenbar gefiel ihm der Satz. Er wiederholte ihn und begann sogar, damit ein Lied zu improvisieren, das ihn so sehr beschäftigte, dass sie immer langsamer vorwärts kamen.

Das Lied, die Scheibenwischer und der Regen verdichteten sich für Gustav zu Zeichen des Unheils und der Bedrohung, und allmählich geriet er in Panik, dass er zu spät kommen werde. »Beeilen Sie sich«, bat er den Fahrer, aber der ließ sich nicht beirren. »Ja, die Ichsucht«, schmetterte er aus vollem Hals.

Gustav war schweißgebadet, als sie endlich Eichgraben erreichten.

An der »Post« hing noch immer das Schild mit der Aufschrift »Urlaubssperre».

Gustav klopfte. Die Tür ging sofort auf.

»Kehrt der verlorene Sohn heim«, fragte der Wirt, »oder hat man Sie geschickt?« Er stand groß und schwer vor Gustav und schaute ihn lange und eindringlich an.

»Niemand hat mich geschickt«, sagte Gustav. Er wusste nicht, woher die Ruhe kam, die ihn plötzlich erfüllte.

»Dann kommen Sie herein«, meinte der Wirt, »was wollen Sie? Kaffee, Punsch, Glühwein?«

Einen Glühwein würde er gerne nehmen, antwortete Gustav.

Am Stammtisch saßen Oskar und die vier Burschen. Gustav setzte sich auf den Platz, den man ihm zuwies. Wenn er aufschaute, sah er direkt in die Augen von Hongkong, dem Rotfeuerfisch, der wie immer bewegungslos im Wasser stand und ihn unverwandt anzustarren schien.

»Dann sind wir ja jetzt alle da«, sagte Oskar, als der Wirt den Glühwein servierte.

Gustav erklärte, er sei hier, um zu warnen. Sein Freund André habe wüste Drohungen gegen den Wirt ausgestoßen. Er glaube zwar nicht, dass André diese Drohungen wahrmachen werde, aber er habe trotzdem ein schlechtes Gefühl. »André kann ungeheuer stur sein«, erklärte er, »er kann ungeheuer impulsiv sein. Er ist kein schlechter Mensch, aber wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat ... Er will ein Nein einfach nicht akzeptieren. Er nimmt das persönlich, müssen Sie wissen, und er weiß nicht, wann er aufhören muss.«

Der Wirt lachte so laut auf, dass der ganze Raum mitzuschwingen schien. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mich vor diesem Würstchen fürchte?«, lärmte er.

Gustav widersprach. Wenn es einer so weit gebracht habe wie André, dann müsse er zweifellos über Fähigkeiten verfügen, meinte er.

»Das lassen Sie mal meine Sorge sein«, dröhnte der Wirt. »Sie sollten sich vielmehr überlegen, wie Sie aus dem Ganzen wieder herauskommen.«

»Sie haben ja inzwischen gemerkt, was für einen Bockmist Sie mit Ihrer Idee angerichtet haben«, ergänzte Oskar. Er fragte, ob Gustav das englische Sprichwort kenne: Never wrestle with a pig, you get both dirty and the pig likes it?

Gustav nickte. »Leider«, sagte er, »habe ich überhaupt keinen Einfluss auf André und auf die Sache.« Daher sei er mit einer Bitte hergekommen, mit einer großen, einer gewaltigen Bittesogar. Er wandte sich den Burschen zu. Er bat sie, ihren Trainingsgrund anderswohin zu verlegen.

Karl sprang auf, Kurt sprang auf. Auch die beiden anderen Burschen sprangen auf. Sie hoben die Fäuste, als wollten sie Gustav verprügeln. Der Wirt stand ebenfalls auf. Zornesröte schoss in sein Gesicht. »Judas!«, brüllte er und schwenkte seine Pranke.

Nur Oskar blieb ruhig. »Jetzt wartet einmal ab, was er zu sagen hat«, meinte er, »immerhin hat er den Mut aufgebracht, herzukommen. Das hätte nicht jeder gewagt. Das muss man anerkennen.«

Gustav hatte das Gefühl, dass die Zeit stehen blieb. Niemand bewegte sich. Die Spannung brachte die Luft zum Sirren. Alle hielten den Atem an.

»Gut«, lenkte der Wirt schließlich ein. »Fünf Minuten, dann lasse ich die Burschen von der Leine.«

Gustav räusperte sich. »Wenn einmal die Waffen sprechen«, sagte er, »ist noch das klügste Wort verschwendet.« Er verstehe den Wirt, er verstehe dessen Bedenken und er empfinde, wenn er es sich genau überlege, im Grunde fast schon selber so. Weil er den Eindruck habe, dass das, was André und seine ABG planten, seinem Traum kaum mehr entspreche. »Aber das nützt nichts«, sagte er, »weil es inzwischen nicht mehr um die Sache geht, sondern nur noch um ein Prinzip.«

Er machte eine Pause, überlegte, räusperte sich wieder. »Wenn es einmal nur noch ums Prinzip geht«, sagte er, »ist die Sache schon verraten.«

»Drei Minuten!«, mahnte der Wirt.

»Schauen Sie«, sagte Gustav, »da haben wir also zwei Männer, die beide überzeugt sind, dass ihr Standpunkt der richtige sei, obwohl sich die beiden Standpunkte komplett widersprechen. Beide sind durchdrungen von der Mission, ihrem Standpunkt Nachdruck zu verleihen. Keiner hat die Absicht, auch nur ein bisschen einzulenken. So kommt es zum Krieg. Das ist ein uraltes Motiv, nicht wahr, ein ehrenwertes und wohl auch hehres Motiv, nicht wahr, aber Hand aufs Herz, Herr Wirt, ist es ein gutes Motiv? Warum sagen Sie nicht einfach: Ich habe recht und er hat unrecht, trotzdem will ich keinen Krieg? Könnten Sie nicht sagen: Ich will meinen Frieden haben? Könnten Sie André nicht die größte Niederlage bereiten, indem Sie gar nicht erst zur Schlacht antreten? Nicht, weil Sie nicht recht hätten. Nicht, weil sie der Schwächere wären. Nein, sondern weil Sie der Klügere sind und weil Sie wissen, dass Sie das, was Ihnen wichtig ist, nämlich die Ruhe und den Frieden, vergessen müssten, wenn Sie in den Krieg ziehen, wohingegen Sie alle Ruhe und allen Frieden dieser Welt genießen könnten, wenn Sie nachgäben, weil ja die Beeinträchtigung Ihres Anwesens nur ein paar Wochen anhalten würde, und danach wäre alles wieder so, wie es vorher war. Sie hätten nicht nur bewiesen, dass Sie der Klügere sind, sondern darüber hinaus hätten Sie auch erreicht, dass es um Sie und Ihre Person und Ihren Gasthof keine Aufregung gibt. Der Krieg wäre vorbei, bevor er angefangen hat, und in einem Jahr gäbe es kaum mehr ein Erinnern an das, was uns alle jetzt so ungeheuer wichtig dünkt.«

»Und wieso sagen Sie das alles nicht Ihrem André?«, warf Oskar ein.

»Es gibt Leute, die den Krieg lieben«, antwortete Gustav, »weil sie ihn für eine willkommene Abwechslung, ein Abenteuer, eine Mutprobe, einen Nervenkitzel oder eine Art nützliches Reinigungsinstrument halten. André hingegen liebt den Krieg, weil er sich selbst für unverwundbar hält. Er liebt die Todesschreie und den Blutgeruch, weil er davon überzeugt ist, dass sein Blut und sein Tod nicht zur Debatte stehen. Weshalb ich das alles nicht André erzähle? Ich habe keinen Einfluss auf ihn und ich kann nicht verhindern, dass er tut, was ihm Spaß macht. Aber Sie, Herr Wirt, kann ich vielleicht umstimmen, wenn ich verspreche, persönlich dafür zu sorgen, dass es zu keiner wie auch immer gearteten Behinderung der sportlichen Tätigkeit Ihrer Burschen kommt. Überlegen Sie es sich bitte, ich flehe Sie an. Die Burschen dürfen Forderungen stellen. Wenn nämlich André seinen Kopfdurchsetzt, ist er in allem anderen zu jedem Entgegenkommen bereit. Nur kein Krieg! Kein Krieg um eine Sache, die keinen Krieg wert ist, Herr Wirt, weil ... Sie sind ein vernünftiger Mann, Herr Wirt, und Sie wissen, dass Krieg der größte Feind der Vernunft ist.« Gustav stand auf. Er hatte gesagt, was zu sagen war. Jetzt wollte er gehen.

Bevor er die Tür erreichte, rief ihn Oskar zurück: »Kommen Sie, Gustav, setzen Sie sich, warten Sie einen Moment.«

Gustav zögerte.

»Nun kommen Sie schon, Gustav«, wiederholte Oskar, »tun Sie mir den Gefallen.«

Gustav setzte sich an den Tisch. Der Rotfeuerfisch glotzte, die Burschen starrten ihn an. Der Wirt stand auf. Er werde jetzt einmal in die Küche gehen und ein paar Schinkenbrote machen.

Gustav kam in den Sinn, dass er nie die karierte Hose und die weiße Jacke zurückgegeben hatte. »Ich habe noch immer die Hose und die Jacke«, sagte er.

»Ich weiß«, antwortete der Wirt. Er winkte die Burschen zu sich.

Sie standen auf und verließen mit ihm die Gaststube.

Oskar deutete auf den Rotfeuerfisch. »Prächtiger Bursche, dieser Hongkong«, meinte er. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, das er mit einer schnellen Geste wegwischte. »Sind Sie sehr gläubig?«, fragte er dann Gustav.

»Wieso?«, entgegnete dieser.

»Sind Sie bibelfest?«, fragte Oskar weiter. Es gebe nämlich ein Problem. Ziemlich am Anfang, in einem der Bücher Mose, sei als Einleitung zur Geschichte um Noah und seine Arche von Riesen der Vorzeit die Rede und von Gottessöhnen, welche die Welt beherrschten. »Das ist ja nun doch ein krasser Widerspruch«, erklärte Oskar. »Gibt es nun einen Gott von Anfang an oder gibt es andere Götter samt Söhnen vor diesem Gott? Ich meine, es steht ja nicht: zu einer Zeit, als die Menschen noch glaubten, es gebe Riesen und Söhne von Gottessöhnen, sondern klar und deutlich: zu einer Zeit, als es sie noch gab. Wo sind sie hingekommen? Sind sie in Pension gegangen? Wie auch immer, es zeigt, dass unser Gott nicht allmächtig, sondern relativ mächtig ist. Er ist in der Zeit begrenzt.«

Gustav warf ein, dass er das mit den Gottessöhnen schon einmal von den Burschen gehört habe. Er habe es allerdings nicht ernst genommen, sondern für eine Phantasterei gehalten.

»Das Problem ist nämlich«, nahm Oskar seinen Faden wieder auf, »dass das erschreckende Konsequenzen haben könnte ...«

»Ja, nun«, meinte Gustav.

»Nichts ja nun«, widersprach Oskar. »Hat nun Gott Noah versprochen, die Menschheit nie wieder zu ersäufen, oder ist das auch nicht ganz so ernst zu nehmen? Hat dieser erste Bund, dieses eherne Versprechen zwischen Gott und seinem Volk eine Laufzeit, gibt es eine Kündigungsfrist? Ist unser Gott vielleicht gar nicht in der Lage, ein derart absolutes Versprechen abzugeben? Wenn ich mir nämlich diesen ewigen Regen anschaue ... Halten Sie das für normal oder gehören Sie auch zu denen, die glauben, dass Gott seinen Bund mit der Menschheit aufgekündigt haben könnte?«

»Ja, nun«, wiederholte Gustav. Er habe sich das noch nie so genau überlegt, er sei leider kein sehr gläubiger Mensch, aber ... »Wenn ich mir einen Gott vorstelle«, meinte er, »dann wird er doch nicht etwas erschaffen, das seinen Ansprüchen nicht genügt. Und wieso sollte ein allmächtiger, allwissender Gott den gleichen Fehler zweimal machen?« Nein, das halte er alles für ... für doch ein wenig weit hergeholt. Er verlasse sich lieber auf naturwissenschaftliche Erklärungen, da wisse man wenigstens einigermaßen, woran man sei. Er überlegte, ob er es wagen dürfe, Oskar zu fragen, welcher Sekte sie angehörten, aber in der Küche wurde es plötzlich sehr laut. Karl brüllte und schrie. Dann hörte Gustav den tiefen Bass des Wirts und das helle Gekreisch des kleinen Kurt, der sich unglaublich zu empören schien.

Er zuckte zusammen. Er hätte sich am liebsten verkrochen. Sie werden mich zum Teufel jagen, dachte er, wenn sie mich nicht vorher noch verprügeln. Wie ein Film zogen Episoden aus seinem Leben an ihm vorbei, in denen er auch gewartet hatte, gewartet, bis man über sein Schicksal entschied. Eine Szene sprang ihn mehrmals an. Darin ist er Gymnasiast und hat bei einer Reihe von Prüfungen erbärmlich versagt. Er hätte eine Ermahnung von seinem Vater unterschreiben lassen müssen und hat dessen Unterschrift gefälscht. Der Betrug ist aufgeflogen, man hat ihn und seinen Vater zur Direktion bestellt. Er muss im Vorzimmer warten, während der Vater und der Direktor über Strafe und Konsequenz beraten. Gustav konnte sich weder an die Strafe noch an die Konsequenz erinnern, doch umso besser an das Gefühl, das ihn während des Wartens erfüllt hatte, dieses Gefühl, an einem seidenen Faden zu hängen, der jeden Moment reißen würde. Der Faden muss reißen, er weiß es, er wird jetzt gleich reißen, aber er ist noch nicht gerissen, er hält und trägt noch; noch kann Gustav sich Hoffnungen machen ... Wie damals zitterte Gustav jetzt abermals, und klammerte sich an die eine, kleine Hoffnung, dass der Faden doch nicht reißen wird, aus irgendeinem vollkommen unwahrscheinlichen und ganz und gar unerklärbaren Grund nicht reißen muss. Gustav merkte, dass er betete. Er flehte zu einem Gott, den er eben noch verleugnet hatte.

Da wurde es still in der Küche, und es blieb still, bis sich die Tür öffnete.

Der Wirt trug ein Tablett in den Gastraum, auf dem Schinkenbrote lagen. Eines gab er Gustav. In ein anderes biss er herzhaft hinein. »Es gibt Kriege«, mampfte er, »die müssen geführt werden, und es gibt Kriege, die müssen nicht geführt werden. Über die kann sich ein vernünftiger Mensch tatsächlich hinwegsetzen. Aber jetzt essen Sie mal. Sie sehen ja ganz verhungert aus.«

Gustav atmete auf. Ein Strahlen ging über sein Gesicht. »Danke«, sagte er, »ich weiß gar nicht ...«

Der Wirt hob die Hand. »Die Burschen sind in Ordnung, auch wenn sie manchmal ein bisschen impulsiv wirken mögen. Es schlagen warme weiche Herzen in ihrer Brust. Jedenfalls haben sie mich ermächtigt, Ihnen Folgendes mitzuteilen: Sie sind bereit, Ihnen persönlich, Gustav, den Weg für die Dauer eines Monats zu überlassen. Sie wollen kein Geld. Allerdings verlangen sie, dass Sie sich ihnen am Ende des Monats zum Zweikampf stellen, und zwar in einer ganz bestimmten Disziplin. Die Burschen sagten, Sie wüssten schon, was sie damit meinten. Sie lassen ausrichten, dass sie Eifer und Einsatz verlangen. Sie sagten, dass diese Bedingung nicht verhandelbar sei, es werde kein Wenn und Aber geben, vielmehr habe exakt das zu geschehen, was sie verlangten.«

Gustav war schockiert. Seine Augen wurden weit. »Ich bin ... das ist ... großartig ...«, stammelte er.

Oskar schmunzelte. Er nehme an, sagte er, dass ein Monat bei weitem genug sei, weil ja höchstwahrscheinlich kein Mensch mehr Lust auf irgendein Meer habe, wenn sich das Wetter bis dahin nicht drastisch gebessert habe.

Gustav nickte. Er sei glücklich, sagte er, er sei begeistert, er sei sprachlos. Er möchte nur, wenn er dürfe, noch fragen, was denn beim Wirt und den Burschen den Meinungsumschwung bewirkt habe.

»Das wird, verehrter Gustav«, antwortete der Wirt, »vorläufig unser Geheimnis bleiben. Geben Sie sich einfach mit der Erklärung zufrieden, dass ein Aquarianer den anderen nicht im Stich lässt.«

Gustav bedankte sich und wollte aufstehen, um die gute Nachricht weiterzuleiten.

Aber wieder hob der Wirt die Hand. »Da ist noch etwas«, sagte er. Er beschrieb, wie sich die Burschen seit einiger Zeit damit beschäftigten, im Schuppen hinter dem Gasthaus ein Boot zu bauen.

»Ein Schiff vielmehr, einen ziemlich großen Kahn«, ergänzte Oskar.

»Die Burschen verlangen einen Vertrag. Schriftlich und unterfertigt von Ihnen persönlich, Gustav, und von allen Ihren Freunden, in dem steht, dass die Burschen mit ihrem Kahn auf Ihrem Meer fahren dürfen, so oft sie wollen. Haben Sie das verstanden?«

Gustav entgegnete, ein schönes Schiff auf seinem Meer dünke ihn jetzt schon geradezu eine Notwendigkeit, und er müsse sich eigentlich wundern, dass er nicht selber darauf gekommen sei. »Ich bestehe darauf, dass sie unter einer Piratenflagge segeln«, lachte er. Dann schüttelte er Oskar und dem Wirt die Hand, bedankte sich noch einmal und eilte davon.