6.

Kaum war Gustav zu Hause angekommen, griff er zum Telefon. Er erwartete, dass André die Neuigkeit erfreut aufnehmen würde, aber André reagierte erstaunlich gleichgültig. Weder gratulierte er Gustav zu seinem Erfolg, noch drückte er in irgendeiner Form seine Zufriedenheit aus. Er meinte nur: »Dann werden wir halt unsere Pläne wieder ändern müssen.«

Gustav fragte, ob etwas nicht in Ordnung sei.

»Nein«, sagte André, »es ist alles so, wie es ist.« Er fragte, ob Gustav gedenke, heute noch ins Büro zu kommen.

»Braucht ihr mich?«

»Nein«, antwortete André, »nimm dir ein paar Tage Urlaub. Wir melden uns.«

Gustav war irritiert. So kannte er André nicht. Wo war das Feuer? Wo war die Begeisterung? »Was ist los?«, beharrte er.

»Nichts, nein, alles bestens«, behauptete André, »nur die Börse macht im Moment ein bisschen Probleme. Die Kurse purzeln. Nicht alle, aber doch ein paar sehr wichtige. Du wirst davon wohl nichts mitgekriegt haben.« Damit hängte er auf.

Gustav schaute zum Fenster hinaus auf die gefällten Silbertannen. Der Anblick war trostlos, und er hatte den Eindruck, auf das Feld eines vor kurzem zu Ende gegangenen Schlachtens zu schauen. Mein Traum, dachte er, hat sich in einen Alptraum verwandelt.

Er rief noch einmal den Hauptsitz der ABG an und bat, mit Frau Schneider verbunden zu werden. Man sagte, sie habe das Haus bereits verlassen. Auch Gaby war unerreichbar, sie sei in dringenden Angelegenheiten unterwegs.

Schließlich hatte er Herrn Novak am Telefon. Wenigstens Herr Novak schien sich zu freuen, als Gustav ihm von seiner Unterredung mit dem Wirt des Gasthofs zur Post berichtete.

»Das ist nicht übel«, lobte Herr Novak, »das haben Sie gut gemacht.«

Als Gustav drängte, dass man sofort den Vertrag für die Burschen aufsetzen müsse, meinte er: »Unbedingt, unbedingt!« Doch dann empfahl auch er Gustav, sich jetzt einmal ein paar Tage Ruhe zu gönnen. »Ihr Projekt«, meinte er, »ist im Moment in eine Phase der Entspannung getreten, die notwendig ist, um neue Kräfte zu sammeln.«

In dieser Nacht schlief Gustav schlecht. Er träumte wirres Zeug. Er musste sich vor gesichtslosen Verfolgern verbergen. Überall lärmten Sirenen, Schatten huschten über kahle Mauern, er sah Mündungsfeuer, hörte aber keinen Knall, stattdessen wieder Sirenen, ohrenbetäubend, bis er merkte, dass sie nicht zu seinen Träumen gehörten, sondern von draußen kamen, aus der Nacht.

Orkanartige Stürme tobten, der Regen prasselte mit brutaler Heftigkeit gegen das Fensterglas.

Oh mein Gott, dachte Gustav, oh mein Gott, hört das nicht auf! Er wollte Licht machen, aber offenbar hatte das Unwetter zu einem Stromausfall geführt. So verharrten er und seine Angst allein in einem Dunkel, das immer wieder von Blitzen zerrissen wurde. Unmittelbar danach krachte Donner. Das Gewitter schien sich direkt über seinem Haus zu entladen.

Als der Sturm ein wenig weitergezogen war und Gustav endlich wagte, aus dem Fenster zu schauen, sah er, wie gewaltig das Ausmaß der Zerstörung war. Es erschien ihm wie ein Wunder, dass er und sein Haus heil geblieben waren.

Dem Nachbarhaus hatte es das Dach weggerissen. Wahrscheinlich war niemand zu Schaden gekommen, weil das Haus leer stand. In der Nähe war eine Pappel umgestürzt und hatte einem anderen Haus die Flanke eingedrückt. Ein paar Leute standen um das Chaos aus Spanplatten, Glas, Blech und Ziegeln herum. Die Männer stocherten mit ihren Schuhen in den Trümmern. Die Frauen schauten mit langen Hälsen, ob etwas Interessantes zu entdecken sei. Die Leute glichen Aasgeiern. Gustav

schauderte. Er wusste, dass in dem Haus ein älteres Ehepaar lebte. Er überlegte hinzugehen und nachzuschauen, ob die beiden unter den Trümmern lagen. Dann fiel ihm ein, dass er sie schon seit Monaten nicht mehr gesehen hatte. Sie seien in ein Altersheim gezogen, hatte ihm irgendwann doch Gerlinde erzählt.

In der Nähe der Ruine hatte sich einer der Wege in einen Bach verwandelt, in dem ein Kühlschrank, ein Kinderwagen und ein Kasten voller Schuhe trieben. Das Bild war grotesk, es hätte zum Lachen reizen können, wenn nicht alles andere furchtbar traurig gewesen wäre.

Wieder vernahm Gustav die Sirenen von Feuerwehr- oder Krankenwagen, aber sie schienen sich nicht zu nähern, sondern nur wie irr von dort nach dort zu rasen.

Gustav ging in den Salon hinunter und schaute durch die Glastüren in den Garten. Das schmale Wäldchen, das sein Grundstück vom freien Feld abgetrennt hatte, war verschwunden. Wie Streichhölzer hatte der Sturm jene Bäume, die von den Arbeitern noch nicht gefällt worden waren, umgeknickt. Sie hatten als Leichen nichts Schönes an sich. Die Baustelle des »Zentralmeeres« war ein einziger gewaltiger Morast. Die mächtigen Maschinen lagen hingestreckt oder waren halb im Schlamm ersoffen.

Gustav fror. Er hatte Angst. Er ging in die Küche. Der Stromausfall war noch nicht behoben, also drehte er Gerlindes kleinen Transistor an, der zum Glück mit Batterien lief. Man spielte ein paar Minuten lang klassische Musik, dann folgten die Nachrichten. »Auch in diesen Stunden höchster Not«, sagte der Sprecher, »ist eine Beruhigung der Situation leider noch nicht in Sicht. Noch immer toben orkanartige Stürme durchs ganze Land.« Die Präsidentschaftswahlen seien abgesagt respektive auf einen späteren Zeitpunkt verschoben worden. Der amtierende Bundespräsident habe den Ausnahmezustand ausgerufen. Das wahre Ausmaß der Schäden könne im Moment noch nicht abgeschätzt werden, meinte der Sprecher, aber es handle sich ohne Zweifel um eine Jahrhundertkatastrophe. Es sei eine nationale Koordinationsstelle geschaffen worden, um der Lage Herr zu

werden, aber die Gleichzeitigkeit der zahllosen schlimmen Ereignisse fordere die Rettungsmannschaften bis zum Äußersten.

Der Sprecher verlas eine Liste von Notfallnummern, die eingerichtet wurden, um Hilfe gezielt und effizient dorthin schicken zu können, wo sie am dringendsten benötigt werde. Danach folgten Kurzmeldungen: Die Flughäfen von T., L. und S. sind geschlossen. Gesperrt ist auch die Ost-West-Transversale, weil sie an mehreren Stellen von Schlammlawinen verschüttet wurde. Zahllose Blitzschläge haben an vielen Orten das Stromnetz lahmgelegt. In S., M. und F. sind die Flüsse über ihre Ufer getreten und haben die Altstädte unter Wasser gesetzt. In B. stürzten Bäume auf ein Zeltlager, fünf Kinder sind tot, die Überlebenden konnten noch nicht geborgen werden, weil die Zufahrtswege verschüttet sind. Zum Glück haben Murenabgänge in F., K. und P. nur Sachschäden verursacht. Der Sturm habe alles niedergerissen, berichtet ein Augenzeuge.

Ein Kommentator schloss seine Ausführungen mit den Worten: »Ein großes Erschrecken. Eine schwarze Nacht. Ein Mond wie Blut. Die Natur verspottet uns. Aber der Mensch weiß, dass er das Schlimmste überwinden kann. Wenn nur alle zusammenhalten. Wenn nur geholfen wird, wo es der Hilfe bedarf.«

Klassische Musik füllte das Vakuum, welches die Schreckensmeldungen hinterlassen hatten.

Gustav fühlte sich klein und allein. Aber er wagte nicht, das Haus zu verlassen. Er setzte sich ins Wohnzimmer und starrte vor sich hin. Schließlich wurde ihm bewusst, dass er das Aquarium fixierte. Es stand so, wie André es eingerichtet hatte. Die Steinhöhle, das Sandsträndchen, das Wäldchen aus Gras. Ein unschuldigeres Bild konnte sich Gustav nicht vorstellen, und dennoch beschlich ihn das Gefühl, dass das Gras und der Sand und die Höhle die Ursache des ganzen Elends seien. Er stand auf, nahm das Aquarium, trug es in den Garten, schüttete es aus und warf das Glas in den Schlamm. Danach war ihm nicht leichter zumute, aber er empfand den Anflug einer grimmigen Befriedigung.