8.

Bei Tag sah man erst, wie schwer die Schäden waren, die der Sturm in der Siedlung angerichtet hatte. Überall waren Dachstühle abgedeckt, zahllose Fensterscheiben zu Bruch gegangen oder ganze Häuser eingestürzt. Mancherorts wurde repariert oder Unrat weggeräumt, aber es schien, als ob die Leute nicht mit letzter Entschlossenheit zu Werke gingen. Man hatte sich vom Schock noch nicht erholt. Gustav musste über einige entwurzelte Bäume hinwegklettern, um nach Hause zu kommen.

Die »Augenweide« war fast das einzige Haus, das den Sturm ohne einen einzigen Kratzer überstanden hatte. Es gab sogar wieder Strom, und auch das Telefon funktionierte.

Gustav versuchte vergeblich, mit der ABG zu telefonieren. Niemand nahm ab. Noch nicht einmal ein Anrufbeantworter war eingeschaltet. »Das ist doch!«, rief er, während er hektisch immer und immer wieder alle möglichen Nummern wählte. Es fiel ihm ein, dass er irgendwo die private Telefonnummer von Chefingenieur Steiner haben musste. Es dauerte eine Weile, bis er sie fand, aber dann hatte er Steiner sofort am Apparat.

Nein, der Chefingenieur wusste nicht, wo die anderen steckten. Nein, er habe von nichts eine Ahnung. Selbstverständlich sei er heute noch nicht im Büro gewesen, bei diesem Unwetter sei ja an Arbeit auch nicht zu denken. Nein, von einem Unfall habe er nichts gehört.

Er war sehr verwundert über Gustavs Fragen und über die Heftigkeit, mit der Gustav sie mehrmals wiederholte. »Was ist denn eigentlich los?«, wollte er schließlich wissen.

»Nichts«, sagte Gustav. Er habe ein seltsames Gefühl.

»Aber nun beruhigen Sie sich doch«, mahnte Steiner, »Sie haben wahrscheinlich die guten Nachrichten noch nicht gehört?« Die Wetterprognosen seien ausgezeichnet, man dürfe eine entscheidende Verbesserung noch vor Anfang der nächsten Woche erwarten. »Wir werden uns an dieses elende Scheißwetter bald nicht einmal mehr erinnern«, behauptete er. Ob er sonst noch etwas für Gustav tun dürfe.

»Sie wissen also nicht, wie oder wo ich André oder die anderen erreichen kann?«

»Keine Ahnung«, sagte Steiner.

»Sie finden es nicht seltsam, dass alle wie vom Erdboden verschluckt sind?«

»Aber nicht im Geringsten, Gustav, das ist doch bei dieser ungewöhnlichen Situation ganz normal, wahrscheinlich sind sie dabei, Hilfe zu leisten, wo doch jetzt jede Hand gebraucht wird.« Gustav merkte, dass es keinen Sinn hatte, weiter in Steiner zu dringen. Steiner wusste nichts, und falls er doch etwas wusste, würde er es nicht verraten.

Gustav versuchte noch Andrés Mutter zu erreichen, aber auch dort nahm niemand ab. Er setzte sich vor den Bildschirm. Auf allen Kanälen liefen Berichterstattungen über die Unwetter, die allgemein als »Jahrhundertunwetter« und als die »furchtbarsten seit Menschengedenken« bezeichnet wurden. Dann schalteten sich die Sender zusammen, um eine außerordentliche Ansprache des Bundespräsidenten zu übertragen. »Ich rede zu Ihnen«, hob dieser an, »aus S. Die Stadt ist menschenleer, sie steht noch immer zum Teil unter Wasser und wartet darauf, dass Leben und Hoffnung zurückkehren.« Zehntausende von Leben seien von einem grausamen und zerstörerischen Sturm getroffen worden, meinte er, und man habe Mitbürger gesehen, die schockiert und entwurzelt ihre Liebsten suchten, ihre Toten betrauerten und einen Sinn in dieser Tragödie, die so blind und willkürlich zuschlug, zu finden versuchten. »Wir haben Leid und Verzweiflung erlebt, wie sie kein Bürger unseres schönen Landes jemals kennen lernen sollte. Aber wir haben in diesen Stunden der Trauer und des Zorns auch Akte des Mutes und der Hilfsbereitschaft, der Tapferkeit und der Selbstlosigkeit gesehen, die uns alle mit großem Stolz erfüllen.« Der Bundespräsident erläuterte ferner, welche Hilfsmaßnahmen er angeordnet habe und welche Notprogramme bereits umgesetzt seien, um dann darauf hinzuweisen, dass es jetzt oberste Bürgerpflicht eines jeden Einzelnen sei, zusammenzustehen und zu helfen. »Noch jedes Mal«, sagte er, »haben wir Katastrophen zu überwinden verstanden, seien es nun Feuersbrünste, Kriege, Hungersnöte, Seuchen oder Hochwasser und Stürme gewesen, um das Land wieder aufzubauen und es schöner und besser zu bauen als zuvor.« Alle diese Katastrophen erinnerten daran, beschwor er, dass die Bürger zusammen stärker seien, als sie glaubten, wenn sie sich nur hilfsbereit die Hände reichten. Sie erinnerten jeden Einzelnen daran, dass es über allem Schmerz und Tod immer die Hoffnung gebe und einen Gott, der denjenigen, welche die Katastrophe nicht überlebten, ein Haus anbiete, das nicht von Menschenhand geschaffen sei. »In diesem Sinne, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger«, schloss der Bundespräsident, »wünsche ich Ihnen Kraft, damit der menschliche Geist wieder über den Tod triumphieren kann.«

Nach dem Bundespräsidenten traten verschiedene Meteorologen vor die Kameras, um zu versichern, dass das Schlimmste überstanden sei und eine Wetterbesserung unmittelbar bevorstehe.

Wenn Gustav aus dem Fenster schaute, hatte er allerdings nicht den Eindruck, dass diese Besserung schon am Eintreten war. Zwar waren die wuchtigen Entladungen der Gewitter weitergezogen, aber es nieselte ohne Pause.

Er kochte Kaffee und versuchte noch etliche Male, André oder Frau Schneider zu erreichen – umsonst.

Später legte er »Die besten Riffs der Südsee« in den Videorekorder. Allmählich verdrängten die Bilder der bunten Korallen und Fische den bösen Verdacht, der die ganze Zeit an ihm nagte. Gustav entspannte sich und schlief ein.

Er erwachte, weil ihn jemand schüttelte. Als er die Augen aufschlug, sah er Gerlinde über sich. Zuerst fiel ihm auf, wie braun gebrannt sie war. Dann bemerkte er, dass ihre Augen blitzten. Dann hörte er, wie sie ihn anschrie: »Wach auf, Gustav, wach auf!«

Er stemmte sich mühsam aus dem Sessel hoch. »Gerlinde«, rief er, »ich habe dich gar nicht ...«

Sie meinte, sie sei drauf und dran gewesen, ihm einen Eimer Wasser über den Kopf zu schütten. »Hast du etwas genommen, Gustav?«, fragte sie. »Und überhaupt: wie sieht es hier aus! Du musst meine Abwesenheit ja ziemlich gefeiert haben! Und da draußen! Das ist ja grauenhaft! Die Silbertannen! Unser Garten!«

»Na ja, wir hatten ein ziemlich böses Unwetter hier«, sagte Gustav und wurde trotzdem über und über rot. Er versicherte schnell, er habe nicht gefeiert und auch nichts genommen, allerdings gebe es viel zu erzählen, sehr, sehr viel sogar, vor allem aber sei er froh, sehr, sehr froh, nein, er sei unglaublich erfreut und glücklich und erleichtert, dass sie wieder hier sei und wieder bei ihm.

Während er sich noch aufrappelte, war sie schon dabei, Putzzeug zu holen, um, wie sie es nannte, wenigstens den gröbsten Dreck zu beseitigen. »Man kann aber auch nicht einen Moment lang aus dem Haus«, seufzte sie, »und wie es erst draußen ausschaut! Das ist ja grauenhaft.«

Gustav meinte nur noch, zum Glück sei das Schlimmste überstanden, dann rannte er ins Badezimmer und warf sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er kämmte sich und rückte die Krawatte zurecht. Endlich stellte er sich vor Gerlinde und schloss sie in die Arme. »Ich habe dich so vermisst!«, flüsterte er.

»Das kann ich mir lebhaft vorstellen«, antwortete sie.

Gustav spürte, wie ihr Herz an seiner Brust klopfte. Es klopfte schnell wie das Herz eines kleinen Vogels. Er hörte sein eigenes Herz, es schien zu dröhnen, und er merkte, wie sein Blut heiß den ganzen Körper überschwemmte. In seiner Brust brachen Dämme, und all seine Kräfte wurden fortgespült. Er klammerte sich fest an Gerlinde, um nicht vor ihr in die Knie zu sinken. »Verzeih mir, Gerlinde«, flüsterte er, »ich glaub, ich hab einen Riesenblödsinn gemacht.«

Gerlinde küsste ihn aufs Kinn, auf die Nase, die Wangen und auf den Mund. Sie küsste ihn mit vielen schnellen, kleinen Küssen, die bald sein ganzes Gesicht bedeckten, die Augen, Schläfen, Ohren und die Stirn. »Wenn du mich nur liebst, Gustav«, murmelte sie, »wenn du mich nur liebst ...«

Auf diese Worte hin vergrub Gustav sein Gesicht an ihrem Hals und weinte los. Er heulte und schluchzte und flennte, bis ihm der Rotz aus der Nase lief. »Ich habe ...«, stammelte er dazwischen, »ich habe die längste Zeit nicht gemerkt, wie sehr ich dich vermisste.« Sie hielten einander, sie umfassten einander und sie drückten einander, als wären sie Kinder, die sich im Wald verlaufen hatten.

»Willst du denn gar nicht wissen, wo ich war?«, fragte Gerlinde dann.

»Braun bist du«, antwortete Gustav, »der Urlaub hat dir gut getan.«

Er bekam einen Schluckauf, und beide mussten lachen. Sie lachten über sich und über die Heftigkeit ihrer Gefühle und über eine Welt, die sich entfesselt hatte, bis ihnen der Atem ausging und sie mühsam nach Luft rangen.

»Braun bist du«, sagte Gustav noch einmal.

Gerlinde schlug vor, die ganze Unordnung einfach stehen zu lassen und nach W. und in die »Weinstube« zu fahren, ein kleines, gemütliches Lokal, wo Gustav und Gerlinde in der ersten Zeit ihrer Ehe oft gesessen waren.