10.
Am nächsten Morgen stand Gerlinde am Schlafzimmerfenster. »Regnet es noch?«, fragte Gustav. »Ein bisschen, es nieselt«, antwortete sie. »Komm her, das musst du dir anschauen!« Gustav sah, dass einige Dutzend Arbeiter damit beschäftigt waren, die schweren Geräte von der Baustelle wegzuschaffen. Man war gerade dabei, einen abgesoffenen Bulldozer aus dem Dreck zu ziehen.
Gustav zog Stiefel an und ging hinaus aufs Feld. Er erkannte einen der Tiefbauingenieure. Er konnte sich zwar nicht an dessen Namen erinnern, aber er stellte sich trotzdem zu ihm.
Sie begrüßten sich. Der Tiefbauingenieur meinte dann, er würde lieber noch ein paar Tage zuwarten, bis sich das Wasser vielleicht doch verlaufe, aber Befehl sei nun einmal Befehl. Ob Gustav den Bericht der meteorologischen Zentralanstalt gesehen habe? Zweihundertfünfundfünfzig Liter Niederschlag pro Quadratmeter! Das sei absoluter Jahrhundertrekord. Das seien um hundertzwanzig Liter pro Quadratmeter mehr als in den Spitzenjahren dieses und des letzten Jahrhunderts. Damit habe niemand rechnen können, mit einer derart verrückten Laune der Natur. Er hoffe nur, dass die ABG versichert sei. Weil der Schaden ...
Gustav gestand, dass er sich weder um Versicherungen noch um die Finanzen gekümmert habe. Er fragte, wie es mit der Arbeit weitergehe.
»Weitergehen?«, antwortete der Tiefbauingenieur. »Von Weitergehen kann keine Rede sein! Ihr schönes Meer ist im Wasser ersoffen! Wir räumen die Baustelle. Das Projekt ist abgesagt.«
Davon wisse er aber nichts, protestierte Gustav.
Der Tiefbauingenieur zuckte nur die Achseln und wandte sich seinen Arbeitern zu, die den Bulldozer inzwischen halbwegs auf festeres Terrain gebracht hatten.
Gustav ging ins Haus zurück. Gerlinde hatte ein Frühstück zubereitet. »Das Projekt ist abgesagt!«, sagte Gustav. Er verstehe das nicht. Er halte den Entschluss zwar für richtig, aber man hätte ihn doch informieren müssen.
»Vielleicht hat man versucht, dich telefonisch zu erreichen«, meinte Gerlinde.
»Immerhin bin ich der Präsident des Stiftungsrates«, sagte Gustav. Er überlegte, ob man ohne seine Zusage einen Entschluss von dieser Tragweite überhaupt fassen konnte. »Man hätte mich informieren müssen«, rief er und sagte nach einer kurzen Pause, er werde jetzt sofort aufbrechen und in die Stadt fahren, um mit den Leuten Klartext zu reden. Gustav meinte, er schaffe das schon alleine, Gerlinde möge in der Zwischenzeit ein schönes Abendessen vorbereiten. »Mit Kerzenlicht«, sagte Gustav und zwinkerte dabei.
Als er das Haus der ABG betrat, hatte er das Gefühl, in Feindesland zu geraten. Wo man ihn bisher fröhlich und wie einen Freund begrüßt hatte, begegnete man ihm jetzt mit Abweisung und Kälte.
Er möge sich ins Büro von Herrn Novak begeben, Herr Novak erwarte ihn.
Herr Novak stand nicht auf, als Gustav das Zimmer betrat. Er wies nur flüchtig auf einen Sessel, dann wandte er sich wieder dem Telefon zu, mit dem er sich noch mindestens eine Viertelstunde lang beschäftigte. Die Telefonate klangen alle ungeheuer nichtssagend, aber Herr Novak trug eine Miene zur Schau, als verhandle er das Schicksal der Welt. Sein weißer Bart war wie immer exakt gestutzt. Die wettergegerbte Haut war vielleicht eine Spur dunkler als sonst und wirkte, als habe Herr Novak die letzten Tage an der Sonne verbracht. Er trug einen Nadelstreifanzug mit Weste über einem blütenweißen Hemd und glich darin weniger einem alten Seebären, als vielmehr einem Industriekapitän.
Gustav kam sich in seiner braunen Hose und dem blauen Hemd schäbig vor.
Endlich legte Herr Novak das Telefon weg. »Gaby wird gleich bei uns sein«, sagte er, »sie wird unser Gespräch protokollieren, damit keine Missverständnisse entstehen.«
In diesem Moment trat Gaby ein. Sie gab Gustav nur kurz die Hand und setzte sich dann auf einen Sessel neben dem Schreibtisch.
»André und Frau Schneider mussten in einer dringenden geschäftlichen Angelegenheit nach Singapur«, hub Novak an, »sie haben mich gebeten, bis zu ihrer Rückkehr Ihren Akt zu betreuen.« Er machte eine Kunstpause, dann holte er aus einer Schublade einen dünnen Ordner, den er vorsichtig vor sich auf den Schreibtisch legte.
André und Frau Schneider in Singapur? Sein Akt? Gustav war einen Augenblick lang sprachlos. Ausgerechnet Novak sagte ihm das, den er irgendwie verehrt hatte, weil er ihm wie eine Autorität in einer Sache erschienen war, von der er selbst leider viel zu wenig verstand.
»Ich habe mir Ihren Akt übers Wochenende angeschaut, Gustav«, nahm Herr Novak den Faden wieder auf. Er öffnete den Ordner und schaute ihn lange an, als könne er darin vielleicht doch noch etwas Neues entdecken. »Das sieht ja nun wirklich nicht sehr gut aus«, sagte er schließlich, »gar nicht gut, aber ich werde natürlich alles versuchen, um zu retten, was zu retten ist.« Und zu Gaby meinte er: »Wir wollen daraus das Beste machen, nicht wahr, das Beste für unseren lieben Freund.«
Gaby lachte ein kurzes, freudloses Lachen, das in Gustavs Ohren bedrohlich klang.
Er sprang auf. Was das zu bedeuten habe, rief er, und für wen man ihn hier eigentlich halte.
Gaby hob die Hand. »Nun beruhigen ...«, sagte sie, aber Gustav wischte den Einspruch weg. Er lasse sich weder von ihr noch von sonst jemandem den Mund verbieten. Er habe genug von der Posse. Er wolle jetzt und auf der Stelle wissen, was hier gespielt werde und wieso.
»Wenn Sie das so sehen wollen«, antwortete Herr Novak. Er schob Gustav den Ordner hin. »Das sind Ihre Unterschriften, nicht wahr«, sagte er und deutete auf drei Unterschriften unter drei Dokumenten.
»Was ist damit?«, fragte Gustav.
»Nun«, meinte Herr Novak mit einem ganz dünnen Lächeln.
»André hat auch unterschrieben«, erinnerte Gustav.
»Als Zeuge«, entgegnete Herr Novak, »sehen Sie: hier und hier und hier. Er hat als Zeuge unterschrieben. Sie hingegen haben unterschrieben, weil Sie bereit waren, Verantwortung zu übernehmen.«
Gustav verstummte auf der Stelle.
»Sie sind eine ganze Reihe von Verpflichtungen eingegangen, mein Herr«, erklärte Herr Novak, »für die Sie sich persönlich verbürgten. Persönlich und mit Ihrem gesamten Eigentum. Mit Ihrem Haus also und allem, was Sie besitzen. Sie werden Ihre Konten offen legen müssen, weil Sie sich sonst straffällig machen, und, falls Sie mit Ihrer Frau nicht Gütertrennung vereinbart haben, auch die Konten Ihrer Frau ...«
Aber davon wisse er rein gar nichts, empörte sich Gustav. Er erinnere sich sehr wohl, dass er ein paar Verträge unterschrieben habe, aber sie betrafen doch ausschließlich seine Funktion als Ehrenvorsitzender einer »Stiftung Zentraler Ozean« und enthielten keinesfalls irgendwelche finanziellen Abmachungen ...
»Sie irren, mein Herr«, unterbrach Novak, »hier zum Beispiel, dieser Passus betrifft die Eventualität, dass das Projekt »Zentralmeer« nicht zu Ende geführt werden kann, aus irgendwelchen Gründen, unter die auch höhere Mächte fallen«, sagte er und strich liebevoll mit dem Zeigfinger über einige Zeilen auf einem der Papiere, »am soundsovielten um soundsoviel Uhr gezeichnet Ihr Gustav. Oder hier! Und hier! Persönliche Haftung, Gustav, gesamtes Privatvermögen. Seien Sie froh, dass Sie über Eigentum in Form Ihres Hauses verfügen, sonst müssten Sie noch mit einer Anklage wegen Betrugs rechnen, wegen schweren Betrugs in diesem Fall ...«
Gustav war wie vor den Kopf geschlagen. Sie seien doch Freunde, meinte er schwach.
»Strenge Rechnung, gute Freundschaft«, antwortete Herr Novak, »das Sprichwort kennen Sie bestimmt, Gustav. Die Freundschaft hatten wir, jetzt kommt die Rechnung.«
»Aber Sie waren mir ...«, stammelte Gustav, »Sie haben mir Ihre Leidenschaft für das Meer geschildert, Sie sind ...«
»Und es stimmt auch«, unterbrach Herr Novak, »dass ich ein Enthusiast des Mehrs bin und der Vermehrung, der Geldvermehrung vor allem, mein lieber Herr.«
»Aber es geht doch nicht immer nur ums Geld«, protestierte Gustav.
»Aber selbstverständlich geht es nur ums Geld«, widersprach Herr Novak, »Geld ist Wasser, Luft und Leben. Und dann ist Geld vor allem geil, Gustav, weil Geld alles ermöglicht, es verhilft zu Macht und Besitz und Luxus und Sex, es verschafft Lust und Freiheit und, und, und. Ohne Geld hat das Leben keinen Sinn, Gustav, und es hat keinen Wert, es ist eine Peinlichkeit und ein Ärgernis. Und eine Qual, nicht wahr, weil es keine Entschuldigung für Armut gibt. Und da wir nur ein Leben haben, ein einziges Leben nur, müssen wir es nützen und gut nützen, dieses eine, einzige Leben, was nur möglich ist, wenn man Geld hat oder erwirbt. ›Reiß dich um Millionen‹, pflegt unser Freund André gerne und oft zu sagen, ›bis du sie hast, dann jag Milliarden.‹ Aber wir wollen es nicht übertreiben, nicht wahr, eine Million ist gut, mit einer Million kann sich ein Mensch schon fast ein neues Gewissen kaufen, und Ihr Häuschen und das, was Sie gespart haben, Gustav, wird wenigstens einen schönen Teil zu dieser einen Million beitragen.«
Gustav war fassungslos. Er werde, stammelte er, er brauche Bedenkzeit, er wisse nicht, er werde sich mit seiner Frau besprechen müssen ...
»Ihre Frau ist wieder im Land?«, fragte Gaby zuckersüß. »Aber wie schön für Sie, Gustav, da werden Sie viel zu besprechen haben.«
Gustav nickte. Er fühlte sich wie der sprichwörtliche geprügelte Hund. Jetzt habe ich alles vermasselt, dachte er, weil mir Gerlinde das nicht verzeihen kann.
Als er schon in der Tür war, rief ihn Herr Novak zurück. »Hier«, sagte er, »ein Brief von Ihrem Freund André, den ich Ihnen aushändigen soll.« Er überreichte Gustav ein Couvert.
Gustav öffnete das Couvert noch während er das Gebäude verließ. Der Brief, den es enthielt, war ein Schlag ins Gesicht. »Guter Gustav«, stand darin in der schnellen, steilen Handschrift Andrés, »das hast du nun davon! Du hast deine Chance gehabt, eine einmalige Chance. Aber du hast sie nicht genützt. Hemmungen, Skrupel, Kleinmut! Das führt nirgends hin. Hättest du auf mich gehört. Hättest du mir vertraut. Es gäbe keine Fesseln, keine Ketten mehr für dich. Du könntest von Fest zu Fest schreiten. Du könntest etwas bewegen in unserer Welt. Stattdessen fällst du wieder hinab in deine kleine, jämmerliche, ganz und gar unbedeutende Existenz. Aber wahrscheinlich ist für dich einfach mehr nicht drin, wahrscheinlich hast du einfach nicht mehr verdient. In diesem Sinn: gut, dass es so gekommen ist. Dein André.«
Gustav erstarrte. Fast so sehr wie der Verlust seines kleinen Vermögens verletzte ihn der Verrat, den sein Freund André an ihm beging. Er überlegte, ob er sich betrinken und dann von einer Brücke stürzen solle, aber er merkte schnell, dass es ihm sowohl zum Betrinken als auch für einen Todessprung an Kraft gebrach. Vielleicht erschlägt mich Gerlinde, dachte er, und sicher ist es gut, wenn alles schnell erledigt ist.