11.

Gerlinde erschlug ihn nicht. Sie ließ ihn reden, ohne ihn auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen. Nachdem er alles erzählt hatte, saßen beide lange, lange still. Sie hörten dem Regen zu, wie er vor dem Fenster in die Pfützen schlug, sie hörten einander atmen und sie spürten die Verzweiflung im ganzen Haus.

Die Verzweiflung war so umfassend, dass Gustav vermeinte, in eine abgrundtiefe Bewusstlosigkeit zu stürzen. Schon wollte er sich dem Gefühl ergeben, schon wollte er loslassen und nur noch fallen, fallen, da schoss ihm durch den Kopf, dass immerhin er der Mann war, und dass ein Mann seine Frau zu beschützen hatte, und dass das alles für Gerlinde noch viel schrecklicher sein musste, weil sie ganz und gar unschuldig war an diesem ungeheuren Schlamassel.

Das riss ihn vom Rande des Abgrunds zurück. »Wir brauchen einen Anwalt«, sagte er.

»Wir brauchen eine ganze Anwaltskammer«, antwortete Gerlinde düster. Sie erhob sich und ging zum Fenster. »Meer wolltest du haben«, sagte sie, »komm her, Gustav, schau aus dem Fenster. Da ist dein Meer.«

Ihr Garten und die Felder dahinter standen knietief unter Wasser. Die Baugrube war ersoffen. Einige wenige Bäume hatten dem Ansturm des Unwetters widerstanden und ähnelten einer gedemütigten Armee. Am jämmerlichsten sahen Gerlindes Rosen

aus. Der Orkan hatte die Zweige geknickt, und was aus dem Wasser ragte, glich einem verwahrlosten Gestrüpp.

»Meer ist Meer, Gustav«, sagte Gerlinde.

Sie standen nebeneinander und schauten aus dem Fenster. Sie sahen, wie aus der Ferne ein Reiher heranglitt, sich herabließ und elegant ins Wasser stellte.

»Wir brauchen keinen Anwalt, Gustav«, sagte Gerlinde, »wir brauchen ein Wunder.«

»Vielleicht kannst du mit ihnen reden«, meinte Gustav zögernd, »vielleicht ...«

»Du meinst, ich müsse das gebrochene Weibchen geben, mit Tränenstürzen und Hysterie? Darauf warten die doch, Gustav. Diese Leute lieben es, Menschen zu vernichten. Das macht sie stark, das gibt ihnen Kraft, weil sie sich gut fühlen, wenn sie sich über andere erheben können. Nein, Gustav, das tue ich nicht.«

Der Reiher stakste durchs Wasser. Er bewegte seinen Kopf ruckartig vor und zurück.

»Wir verschwinden«, sagte Gerlinde, »irgendwohin.«

»So sind wir also wieder am Anfang der Geschichte?«, fragte Gustav.

»Ja. Ich habe von Tante Hedwig doch einiges geerbt. Das Geld liegt an einem sicheren Ort, Gustav, ich habe es im Urlaub nicht vertan. Jetzt ist der Moment gekommen, es zu nützen. Lass uns mit der Eisenbahn fahren, mit dem Orientexpress zum Beispiel, und ein Schiff nehmen, Gustav. Wir könnten nach Istanbul oder Kalkutta fahren, wir könnten dort auf einen Dampfer umsteigen, vielleicht bringt er uns nach Afrika oder auf die Seychellen oder bis in die Südsee, zweiter Klasse natürlich, weil wir unser Geld strecken müssen, wir werden alle Zeit der Welt zum Reden haben und wir werden uns überlegen, wo wir unser neues Leben beginnen wollen. Lass uns das tun, Gustav, lass uns reisen, angezogen und nackt, essend und trinkend, Gustav, lachend und redend und schweigend und im Schlaf.«

»Ach Gerlinde«, seufzte Gustav. Sie kenne jemanden, der sie gerne berate, meinte Gerlinde.

»Dein Kurschatten?«, lächelte Gustav. Er war erschöpft, er war verzagt und er wusste, dass der Scherz nicht gelingen konnte, weil er zu dämlich war.

Aber Gerlinde schien zu verstehen. Sie umarmte ihn. »Ja, mein Kurschatten. Er ist übrigens wirklich nett.«

»Du meinst, wir sollten alles aufgeben hier?«, fragte Gustav.

Da gebe es nichts mehr zum Aufgeben, antwortete Gerlinde, weil schon alles verloren sei. »Das Haus gehört nicht mehr uns, Gustav, du hast es verspielt. Wenn wir meinem Plan folgen, setzen wir uns ins Unrecht. Und wenn wir schon im Unrecht sind, können wir es ruhig noch vergrößern. Wir könnten eine Hypothek aufnehmen auf das Haus, das uns nicht mehr gehört, damit wir mehr Kapital für die Zukunft haben. Wahrscheinlich werden wir eh nie mehr zurückkehren dürfen. Wir werden auf der Flucht sein, und wir werden hoffen müssen, dass André und seine Leute es gut sein lassen und uns nicht durch die Welt hetzen, wie man es aus gewissen Filmen kennt.«

»Würdest du das wirklich tun?«, fragte Gustav.

»In guten und in schlechten Zeiten, Gustav, erinnerst du dich?«, antwortete Gerlinde. Sie sagte, auch wenn heutzutage ein Versprechen rein gar nichts mehr gelte und man Meinungen mit Willkür und Überzeugungen mit Launen verwechsle, so fühle sie sich trotzdem zu dem, was sie geschworen habe, verpflichtet. »Im Guten und im Schlechten, Gustav«, wiederholte sie, »im Guten und im Schlechten.«

Und dann sei die Welt ja so übel auch wieder nicht, es scheine mancherorts die Sonne, es gebe weite Himmel und Meer genug, die Unendlichkeit kristallklaren Wassers, das sei doch in jedem Fall etwas anderes als dieser trübe Tümpel da draußen, den er und seine sauberen Freunde sich ausgedacht hätten, und vor allem seien die Leute woanders fröhlich und nicht griesgrämig wie hier.

»Ach Gerlinde«, seufze Gustav noch einmal und nahm seine Frau wieder in die Arme und drückte und küsste sie. Ein wenig schämte er sich dabei, ein wenig würgte es ihn im Hals, aber vor allem empfand er eine unbeschreibliche Erleichterung. Vielleicht

war doch nicht alles verloren? Vielleicht war die Katastrophe eine Chance? Vielleicht würden sie einmal auf diesen Tag zurückschauen können und herzlich lachen dabei?

»Warum, Gerlinde«, fragte er dann, »warum tust du das für mich? In guten wie in schlechten Zeiten, das klingt ja schon ganz prima, aber hier gilt das nicht. Das gilt für Krankheiten, das gilt für unverschuldete Notlagen, das gilt fürs Alter und fürs Sterben. Aber doch nicht, wenn sich einer wie ein vollkommener Idiot aufführt und aus schierem Unverstand alles zerstört, was man gemeinsam geschaffen hat.«

Sie habe, antwortete Gerlinde, oben in den Bergen viel übers Wünschen, über die Sehnsucht und über das Schicksal nachgedacht. Dabei sei ihr aufgefallen, dass alle in einem permanenten Zustand des Mangels lebten, in einem Zustand, der mit dem Kinderreim vom Hansdampf, der habe, was er nicht wolle und wolle, was er nicht habe, so trefflich umschrieben sei. »Ist es nicht so?«, fragte sie, »uns ist es immer recht gut gegangen, wir waren meistens gesund, hatten meistens genug Geld, konnten meistens tun und lassen, was wir wollten, und waren dennoch kaum jemals glücklich und nur selten wirklich zufrieden.« Das sei vielleicht die Erbsünde, die mit der Vertreibung aus dem Paradies begonnen habe: Dass man sich ständig nach einem anderen Zustand sehne als dem, in dem man sich befinde. »Wie ich so da oben saß in dem Dorf und bei diesen Leuten, die bewusst auf dies und das und jenes verzichten und damit automatisch zahllose unnütze Begehrlichkeiten aus ihrer Mitte schaffen«, sagte sie, »da wurde mir plötzlich klar, dass, so wie ein Ozean nur einen Geschmack hat, nämlich den Geschmack von Salz, unsere Ehe nur auf ein Gefühl gebaut sein sollte, nämlich auf das Gefühl einer unbedingten Zuneigung. Alles andere ist nebensächlich. Alles andere ist Beiwerk, das können Verzierungen sein, die man hinnehmen und genießen kann, aber auf die man sich unter keinen Umständen verlässt. Stell dir vor, Gustav, je mehr ich darüber nachdachte, desto stärker stellte sich dieses Gefühl der bedingungslosen Zuneigung ein; und ich merkte, dass ich es immer gewollt und nur

nicht zugelassen hatte. So wie es schließlich in mich trat, von einer tiefen Freude und von einer hellen Freundlichkeit begleitet, von Geistesruhe und Selbstvertrauen. Klarheit, Gleichmut, Gelassenheit und Kraft erschienen mir unversehens als die natürlichsten Gemütszustände, und ich merke, dass sie bei weitem ausreichen, um mit einer Situation wie dieser umgehen zu können.«

Die folgenden Stunden verbrachte Gerlinde damit, das Haus in Ordnung zu bringen. »Man darf sich nicht gehen lassen«, meinte sie, »auch wenn die Lage zum Verzweifeln ist.« Sie befahl Gustav, das zusammenzutragen, was er mitnehmen wolle.

So ging Gustav durchs Haus und nahm dies und jenes in die Hand, nur um es im nächsten Moment wieder wegzulegen. Er merkte, dass es nichts gab, was er für unverzichtbar hielt. Am längsten zögerte er bei den »besten Riffs der Südsee«. Er beschloss, die Kassette zu verbrennen. Sie erschien ihm wie ein letztes und äußerstes Kompendium seiner Eitelkeiten und wie das zentrale Symbol seines Versagens. Welch ungeheure Vermessenheit, dachte er, zu glauben, man könne diese natürlichen Schönheiten künstlich erschaffen.

Er fragte Gerlinde, ob er ihr helfen dürfe, aber sie meinte, er stehe ihr nur im Weg. Er solle sich in die Küche setzen und einen Kaffee trinken. Aber es gab nach wie vor keine Milch und gerade noch genug Pulver, um das Wasser hellbraun zu färben.

Gustav drehte das Radio an. Die Nachrichten galten noch immer den Aufräumarbeiten nach dem Orkan. Die Schäden waren gigantisch, aber die Bevölkerung stand wie ein Mann zusammen, um zu helfen, wo es nur ging, fast wie ein Mann jedenfalls, es war offenbar vereinzelt zu abscheulichen Verbrechen gekommen, aber inzwischen seien Armee und Polizei wieder Herr der Lage. Der Stabschef der Armee verlautbarte, dass man bis jetzt eine gewisse Milde habe walten lassen, in Zukunft aber rücksichtslos gegen Plünderer vorgehen werde. Schusswaffen würden nach einem einzigen Warnruf gezielt eingesetzt. Die Wetterprognosen boten Anlass zu einer gewissen Zuversicht. Zwar braute sich ein nächstes Tief zusammen, doch zwischenzeitlich war mit Aufhellungen und

Sonnenschein zu rechnen. Die Regenmengen würden in naher Zukunft eher zu- als abnehmen, und weil die Böden mit Wasser gesättigt seien, werde es wahrscheinlich zu neuen Hochwassern und möglicherweise wieder zu Überschwemmungen kommen. Allerdings seien die Behörden dabei, alle nötigen Vorkehrungen zu treffen, um die Bevölkerung effizient zu schützen, insbesondere sei bereits eine Verordnung erlassen, die jegliches Bauen in gefährdeten Gebieten verbiete.

Danach diskutierten Experten, ob es richtig sei, dass die Allgemeinheit die Risiken jener mitzutragen habe, die sich der Gefahr mehr oder weniger bewusst ausgesetzt hatten. »Muss ich wirklich mit meinem Steuergeld dafür aufkommen, dass einer seine Fabrik in eine berüchtigte Hochwasserzone baut?«, fragte einer. Die Mehrzahl der Experten hielt das Problem für erkannt. Wichtig sei jetzt, meinten sie, die am schlimmsten Betroffenen nicht einfach ihrem Schicksal zu überlassen. Und für die Zukunft seien gesetzliche Grundlagen zu schaffen, um dieser Art von Missbrauch Einhalt gebieten zu können. Es wurde an das Wunder des menschlichen Verstandes erinnert und an dessen Fähigkeit, selbst die schlimmste Situation im Sinne einer positiven Entwicklung zu nutzen.

Danach folgten Interviews mit Bürgermeistern, Landeshauptleuten und Feuerwehrkommandanten. Der Tenor aller Aussagen war der, dass die Helfer wüssten, was zu tun sei. Die Frühwarnsysteme stünden bereit, Abwarten und Teetrinken könne angesichts der gewaltigen Herausforderung nicht die Devise sein, vielmehr gelte es, zuzupacken und auf Gott zu vertrauen, der seine Welt bestimmt nicht im Stich lasse.

Gustav drehte das Radio ab. Er begab sich vors Haus, doch weil es wieder heftiger regnete, verzichtete er auf einen Spaziergang. Er stand da und schaute hinaus in die Trostlosigkeit dieses bösen Tages. Eine Reise irgendwohin weit weg, dachte er, ist wahrscheinlich das Beste, was man jetzt unternehmen kann.

Da bemerkte er Gerlindes Rosenstöcke. Er schaute sie an, überlegte eine Weile, dann stieg er in den Keller hinab, um einen Spaten zu holen. Sorgfältig grub er die Stöcke samt Wurzeln aus dem Schlamm. Die Arbeit war mühsam. Die nasse Erde schmatzte und wollte nicht hergeben, was er ihr zu entreißen versuchte. Aber irgendwie schaffte er es doch. Er beschnitt die Stöcke, wickelte sie in Säcke und trug sie vors Haus. Das bin ich Gerlinde schuldig, dachte er. Er fühlte, wie ihn eine Welle des Stolzes auf seine Frau überspülte. Wo auch immer wir hinfahren, dachte er, die Rosen nehmen wir mit.

Er wollte gerade ins Haus zurückkehren, als ein Auto vorfuhr. Die Polizei, dachte Gustav.

Aber es waren Karl und Kurt und die beiden anderen Burschen. Kurt ließ das Fenster herab und rief Gustav zu, er habe ihm etwas zu sagen.

Gustav war nicht wohl in seiner Haut. Er hatte an diesem Tag noch nicht an den Wirt und an die mysteriösen Umstände seines Todes gedacht. Vielleicht habe ich kein Herz in der Brust, dachte er, sondern einen kalten Stein. Kurt bat Gustav, einzusteigen, er müsse ihn in die »Post« bringen, wo man ihn erwarte.

Gustav entgegnete, er könne nicht weg. Seine Frau sei eben erst von ihrer Reise ...

»Umso besser«, meinte Kurt, »nehmen Sie doch bitte Ihre Frau gleich mit, weil es sie nämlich auch betrifft.«

Mehr wollten die Burschen nicht verraten.

Gustav zögerte, bevor er ins Haus ging. Insgeheim fürchtete er, dass Gerlinde nun doch explodieren würde, wenn er sie wieder mit dieser verkorksten Geschichte belästigte.

Aber Gerlinde willigte sofort ein. »Was wollen die von uns?«, fragte sie nur, als sie sich einen Mantel überzog. Sie machte den Eindruck, als könne sie überhaupt nichts mehr erschüttern.