Kapitel 2
»Das muss ich mir erst einmal überlegen«, sagt Ilse Küpper gedehnt. »Es kommt etwas überraschend.«
»Natürlich, natürlich«, versichert Oskar Michalski und fährt sich nervös durch das dunkle Haar. »Es muss ja nicht gleich morgen sein, Frau Küpper. Denken Sie in Ruhe darüber nach.«
Nach Arbeitsschluss hat er die Fabrikbesitzerin um ein kurzes Gespräch gebeten, und sie sind in ihr Büro gegangen, das schon halb ausgeräumt ist, weil sie in einigen Tagen drüben im Neubau mehrere Verwaltungsräume beziehen wird. Nur der Schreibtisch und zwei Stühle sind noch übrig, dazu ein Rollwagen mit den wichtigsten Akten. Morgen kommt jemand von der Telefongesellschaft, um den Anschluss zu verlegen.
»Ich lasse es mir durch den Kopf gehen«, verspricht sie.
»Ich danke Ihnen, Frau Küpper«, sagt er und steht auf. »Es wäre für uns alle eine gute Lösung, hab ich mir gedacht.«
»Vielleicht …«
Er lächelt sie rührend hoffnungsvoll an, wünscht ihr einen »angenehmen Feierabend« und geht hinaus. Ilse bleibt mit einem beklommenen Gefühl zurück. Was für eine verrückte Idee! Er hat sie um ein Stück Land gebeten, fünfhundert Quadratmeter von ihrem Park, der zwar momentan zu Ackerland umgewandelt ist, aber demnächst – wenn die Geschäfte weiter so gut laufen – wieder in alter Schönheit auferstehen soll. Oskar hat vor, ein Haus für sich und seine Helga zu bauen, um dort mit ihr zu leben, wenn sie erst verheiratet sind.
Der Vorschlag erscheint Ilse eher wie eine Verzweiflungstat. Ein Stück Land kaufen. Ein Haus bauen. Wovon will er das bezahlen? Er wird sich verschulden müssen. Und wie wird es ausgehen? Was, wenn seine Hoffnung trügt? Oskar Michalski lebt seit über einem Jahr in einer extrem belastenden Situation, schwankt zwischen mühsam gefasster Geduld und übereilten Aktionen, die ihr oft den Schweiß auf die Stirn treiben. Sie kann ihn ja so gut verstehen. Es ist unsagbar schwer für ihn, so lange auf die Frau, die er liebt, warten zu müssen. Ein Wunder, dass er es überhaupt durchgehalten hat, ein anderer wäre längst davongelaufen. Nicht so Oskar Michalski. Er ist gekommen, um seine Helga zu erobern und heimzuführen, und das wird er tun, wie schwer es auch immer für ihn sein wird. Ilse ist gerührt von seiner Treue, und nicht selten steigt in ihr der Zorn auf diese Frau auf, die so hart und unbarmherzig mit ihm ist. Weil Helga ihren Sohn nicht verlassen will, hat sie beschlossen, in Dingelbach zu bleiben. Ehrlich und anständig soll es zugehen, hat sie verlauten lassen. Erst wenn sie geschieden ist, wird sie zu Oskar kommen und die Seine werden. Vorher nicht. Auf keinen Fall will sie mit ihm in »wilder Ehe« leben, denn dann wäre sie in Dingelbach endgültig »unten durch«.
»Die glaubt allen Ernstes, die Dingelbacher würden sie wieder in ihrer Mitte aufnehmen, wenn sie erst mit dem Oskar verheiratet ist«, hat Ilses Haushälterin Carla gesagt und sich an die Stirn getippt. »Die wird sich schön wundern, die Helga. Eine geschiedene Frau bleibt eine geschiedene Frau. Auch wenn sie sich wieder verehelicht hat. Und eine kirchliche Hochzeit gibt das sowieso nicht.«
Carla ist der Meinung, die Helga wäre besser mit dem Oskar von hier fortgegangen – Kind hin oder her. Einem Mann so etwas zuzumuten, das ist nicht anständig. Ilse neigt inzwischen ebenfalls zu dieser Ansicht. Oskar geht es nicht gut, zweimal hat er im Winter mit einer schweren Bronchitis gekämpft, im Frühjahr hat ihn die Grippe aufs Krankenlager geworfen. Dünn ist er geworden. Faltig und hohläugig schaut er aus, findet keine Ruhe und verbringt die Wochenenden drunten beim Killinger Hannes, wo er angeblich in der Schmiede mithilft. Dass er sich dort ein paar mal mit der Helga getroffen hat, will er nicht sagen, aber sie vermuten es. Spät am Abend muss das gewesen sein, weil die Helga tagsüber von hundert neugierigen Augen bewacht wird und weil sie selbst so große Sorge um ihren Ruf hat. Dabei ist der sowieso schon restlos ruiniert.
Ilse schüttelt den Kopf und beschließt, die Angelegenheit mit Richard Goldstein zu besprechen. Er war ein paar Tage in Frankfurt, um irgendwelche wichtigen Bankangelegenheiten zu regeln, doch heute Abend wird er wieder in seine gemietete Wohnung in der Villa zurückkehren, und vermutlich hat er vor, sie zum Essen auszuführen. Seit über einem Jahr wohnt und arbeitet Richard nun schon hier, er hat sich oben ein Atelier eingerichtet und – wie sie schon gehofft hat – wieder zu malen begonnen. Ihr Verhältnis ist freundschaftlich, kollegial, von gegenseitigem Respekt, aber auch von einer gewissen Anziehung geprägt.
Ilse macht sich nichts vor. Richard Goldstein ist ein gut aussehender Mann, er wird in Frankfurt vermutlich die eine oder andere Dame besuchen, allerdings ohne sich binden zu wollen. Sie selbst ist ihm eine gute Freundin, eine geduldige Zuhörerin und Ratgeberin, der er vieles anvertraut, das er weder mit seiner Mutter noch mit irgendwelchen anderen nahestehenden Personen besprechen mag. Vor allem seine lange unterdrückte Neigung für die Kunst ist Thema ihrer abendlichen Gespräche, aber auch Intimeres, Persönliches, wie seine Erlebnisse im Krieg, die er wie so viele Männer nicht vergessen kann und die ihn belasten. Nur über sein seltsam distanziertes und doch anhängliches Verhältnis zu seiner Mutter hat er sich niemals geäußert.
Ilse empfindet seine Gegenwart als eine große Bereicherung. Die Begegnungen mit ihm sind ein anregender Ausgleich zu ihrem harten Tagesgeschäft als Fabrikchefin, ein Einblick in eine für sie neue, bisher fremde Welt, die sie fasziniert und an der sie nun mit Eifer teilnimmt, indem sie das ihr eigene praktische Organisationstalent beisteuert. Richard Goldstein hat sein Atelier schon bald nach seinem Einzug auch für andere Künstler geöffnet, er veranstaltet kleine Ausstellungen, zu denen er Freunde und Bekannte aus der Umgebung einlädt. Auch Vorträge, Musikabende und Lesungen sind geplant. Seine Absicht dabei ist, Geld und Kunst zusammenzubringen, um begabten, noch unbekannten Künstlern zu einem Einkommen zu verhelfen, das ihnen erlaubt, ohne Geldsorgen zu leben und zu arbeiten. Er selbst hält sich nach Ilses Meinung viel zu bescheiden im Hintergrund; sie hat ihn bisher nicht überreden können, seine eigenen Werke der Öffentlichkeit zu zeigen.
»Sie sind zu schlecht«, hat er behauptet. »Ich bin kein Künstler, nur ein begabter und fleißiger Handwerker. Zum Glück bin ich nicht eitel genug, um mir darüber Illusionen zu machen.«
»Mir gefallen Ihre Bilder«, sagt sie und meint es ernst.
»Darüber bin ich sehr glücklich!«
Wenn er sie auf diese warme und herzliche Art anlächelt, ist sie verwirrt und dicht daran, sich falschen Hoffnungen hinzugeben. Er ist ein Freund, ein guter Kamerad – nichts weiter. Dieses anziehende Lächeln gönnt er auch anderen Menschen, vor allem den Künstlern, die er in die Villa einlädt, den Männern ebenso wie den Frauen. Auch Carla, die ihn mit großem Respekt behandelt und sogar einen angedeuteten Knicks macht, wenn er sie begrüßt, ist schon in den Genuss dieses Lächelns gekommen.
Ilse schließt das Büro ab und geht hinüber zur Villa, um sich ein wenig zurechtzumachen, bevor er eintrifft. Nur die verschwitzte Bluse wechseln und mit dem Kamm durch das Haar fahren – sonst nichts. Schließlich kennen sie sich nun schon über ein Jahr, wohnen im gleichen Haus, und sie hat mit Vergnügen festgestellt, dass auch er wenig Wert auf korrektes Aussehen legt, wenn er dort oben an der Arbeit ist. Im Sommer findet sie ihn oft mit einer hellen Hose und einem Sommerhemd bekleidet, barfüßig mit hochgekrempelten Ärmeln vor seiner Staffelei stehen. Er ist schmal, eher sehnig als muskulös, wenn die oberen Hemdknöpfe offen stehen, kann sie seine dunkle Brustbehaarung sehen. Er trägt eine feine Goldkette um den Hals, an der ein Medaillon hängt. Wahrscheinlich ein Familienerbstück.
Carla öffnet ihr die Haustür, sie hat eine frische blütenweiße Schürze umgebunden, weil sie weiß, dass »Herr Goldstein« heute zurückkommt.
»Ich habe Tee vorbereitet«, flüstert sie Ilse zu. »Den Kandiszucker hat mir Marthe Haller extra bestellt.«
»Sehr schön, Carla. Ob wir hier oder auswärts essen, weiß ich leider nicht …«
»Herr Goldstein hat vorhin angerufen. Er will Sie nach Bad Homburg in das Restaurant Ihres Bruders ausführen. Nun ja – er will sicher nachschauen, wie Ihr Bruder das Geld angelegt hat …«
»Was für eine nette Idee«, sagt Ilse und wirft Carla einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Genau das habe ich am Telefon auch gesagt, gnädige Frau.«
»Dann muss ich mich umkleiden. Du kannst ihm ja schon einmal Tee servieren, falls er inzwischen ankommt.«
»Sehr gern, Frau Küpper.«
Während Ilse die Treppe hinauf in ihre Räume geht, ärgert sie sich über Carlas Bemerkung. Es hat ihr von Anfang an nicht gefallen, dass Richard ihrem Bruder Josef vor einem halben Jahr einen günstigen Kredit vermittelt hat, den Josef ohne diesen Freundschaftsdienst nirgendwo bekommen hätte. Inzwischen weiß sie, dass ihr Bruder rettungslos verschuldet ist – hätte Richard Goldstein ihm nicht hilfreich unter die Arme gegriffen, dann wären Gasthaus und Landbesitz in Bad Homburg längst versteigert, und ihr Bruder samt Familie fiele ihr zur Last. Trotzdem hat sie Richard abgeraten, da sie fürchtet, dass auch dieses Geld in den hochfliegenden Plänen ihres Bruders versickern wird. Doch Richard hat sich nicht von seinem großmütigen Vorhaben abhalten lassen. Allerdings hat er ein langes und offensichtlich hartes Gespräch mit Josef geführt, sich dessen Finanzen offenlegen lassen und gemeinsam mit ihm einen Plan erstellt, wie und in welche Projekte das Geld zu investieren ist. Ilse war bei dieser Verhandlung nicht anwesend, was sie sehr verunsichert, denn sie kennt ihren Bruder, der nicht gern mit der Wahrheit herausrückt und eine Neigung zu krummen Touren hat. So muss sie einfach auf Richards geschäftliches Geschick vertrauen und hoffen, dass er weiß, was er tut.
Als sie im hellblauen Sommerkleid in den zweiten Stock hinaufsteigt, steht Richard dort an einem der hohen Fenster, um über die Landschaft zu blicken. Es ist immer noch unerträglich heiß, aber der Gewitterguss vor einigen Tagen hat die gemähten Wiesen ergrünen lassen, allerdings auch etliche Dellen und Einbrüche in Korn und Gerste verursacht. Richard sieht diese unregelmäßigen Muster in den ockergelben und mattgrünen Feldern mit dem Blick des Künstlers; vermutlich wird er morgen eine Skizze davon anfertigen. Ilse hingegen weiß, dass es für die Bauern einen empfindlichen Ernteverlust bedeutet, wenn sich die Ähren nicht durch eine günstige Wetterlage wieder aufrichten.
»Seien Sie herzlich gegrüßt, liebe Ilse!«, ruft er ihr gut gelaunt entgegen. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, dem staubigen Frankfurter Pflaster zu entkommen und wieder hier bei Ihnen sein zu dürfen.«
Sie reichen einander die Hände. Einmal, ein einziges Mal, hat er den Versuch gemacht, ihr zur Begrüßung den Arm auf die Schulter zu legen. Sie ärgert sich heute noch darüber, dass sie bei dieser Berührung zusammengezuckt ist und am ganzen Körper erstarrte. Warum ist sie ihm nicht entgegengekommen? Es wäre doch nichts dabei gewesen! Seine Künstlerfreunde und etliche der Bekannten grüßt er oft mit einer kurzen, herzlichen Umarmung. Nun ja, sie ist ein gebranntes Kind und außerdem eine alte Jungfer. Das ist leider nicht mehr zu ändern, damit muss sie leben. Immerhin nennen sie einander inzwischen beim Vornamen, bleiben jedoch beim »Sie«.
»Ich freue mich auch, dass Sie wieder hier sind, Richard«, meint sie lächelnd. »Das Haus kam mir recht verlassen vor ohne Ihr geschäftiges Treiben hier oben.«
Vor allem haben ihr die Abende in seiner Gesellschaft gefehlt, aber das will sie nicht so unverblümt sagen. Tagsüber sehen sie sich kaum: Sie ist in der Fabrik zugange, und er arbeitet oben in seinem Atelier. Allerdings hat sie oft von ihrem Bürofenster zum zweiten Stock der Villa hinaufgeschaut, und nicht selten stand er dort oben, den Pinsel zwischen den Zähnen, und winkte ihr zu. Dann hat sie lachend zurückgewinkt und sich hastig wieder in die Arbeit vertieft. Wie schade – von dem neuen Büro aus wird diese nette Kontaktaufnahme nicht mehr möglich sein, die Fenster gehen nach Osten, zum Dorf hin.
Er begibt sich zu dem runden, eingelegten Tisch, der von marokkanischen Sitzen umgeben ist, und schenkt Tee ein. Er bevorzugt eine Mischung, die er direkt aus England bezieht – ein starkes, aromatisches Getränk, das Ilse nur mit Milch und viel Zucker trinken kann.
»Ich hoffe, es ist Ihnen recht, dass ich heute Abend einen Tisch im Restaurant ›Zum König‹ bestellt habe«, meint er und setzt sich bequem in einen Sessel. Sein heller Leinenanzug ist tadellos gebügelt und sitzt wie angegossen. Er hat einen guten Schneider in Frankfurt, über den Preis schweigt er sich aus.
»Natürlich ist es mir recht. Ehrlich gesagt hatte ich schon ein schlechtes Gewissen, weil ich meinen Bruder so lange nicht besucht habe. Aber ich denke, sie waren sehr beschäftigt. Zumindest hat auch Josef nichts von sich hören lassen.«
»Familienbande soll man nicht abreißen lassen«, findet er und schaut sie mit leicht verlegenem Blick an, bevor er fortfährt. »Ich habe mir die Freiheit genommen, auch meine Mutter für diesen Abend einzuladen. Wobei ich kühn Ihr Einverständnis vorausgesetzt habe, liebe Ilse.«
In seinem Lächeln liegt ein kleines bisschen Schuldbewusstsein, zugleich aber Wärme und Überzeugungskraft. Sie weiß inzwischen, dass er seine Wünsche gern auf diese Weise durchsetzt. Höflich, charmant, rücksichtsvoll und doch mit beharrlicher Willenskraft.
»Was für eine nette Überraschung«, gibt sie stirnrunzelnd zurück. »Dann sollte ich mich vielleicht umziehen – Ihre Frau Mutter bevorzugt elegante, damenhafte Kleidung, und dieses Fähnchen ist eher etwas für einen zwanglosen Sommerabend …«
»Aber nein!«, ruft er aus. »Ich liebe dieses Kleid an Ihnen. Das Blau steht Ihnen wundervoll. Bleiben Sie um Himmels willen so, wie Sie sind, Ilse!«
»Also gut. Wenn Sie meinen …«
Sie trinkt den Tee in kleinen Schlucken und überlegt, was ihn wohl dazu bewogen haben mag, die Frau Mama einzuladen. Seit jenem seltsamen Abend vor über einem Jahr, als sie im Gasthof ihres Bruders die Kellnerin spielte, hat es keine Begegnung mehr zwischen ihr und Frau Goldstein gegeben. Sie hat das nicht bedauert, da die Dame ihr nicht gefallen hat und sie kein Bedürfnis verspürte, sie wieder zu treffen. Nun also wird sich ein Wiedersehen nicht umgehen lassen. Sie freut sich nicht gerade darauf. Aber ihm zuliebe wird sie sich höflich und zuvorkommend verhalten und sich alle Mühe geben, einen guten Eindruck zu machen.
»Fahren Sie?«, fragt er, als sie unten vor seinem Wagen stehen.
»Sehr gern.«
Seit er hier eingezogen ist, kommt er ohne Chauffeur. Er hat schnell bemerkt, dass Ilse eine begeisterte Autofahrerin ist, und überlässt ihr, sooft es möglich ist, das Steuer. Es ist eine nette Geste von ihm; überhaupt hat er ein feines Gespür dafür, wie er ihr eine Freude machen kann, und sie hat gelernt, solche Angebote anzunehmen. Was ihr zu Anfang nicht leichtgefallen ist. Die Enttäuschungen und Demütigungen ihrer Jugend haben dazu geführt, dass sie einen Panzer aus Misstrauen um sich gebaut hat. Dass ein Mann ihr ohne jegliche Hintergedanken einen Gefallen tun möchte, konnte sie zuerst nicht glauben.
Sie nimmt die Autoschlüssel aus seiner Hand und startet den Wagen. Richard hat das Verdeck zurückgefahren, sodass der warme Fahrtwind in ihr Haar greift und er vorsichtshalber den Strohhut absetzt, damit das gute Stück nicht davongeweht wird. Behutsam lenkt sie den Wagen über die holprige Dorfstraße, Staub wirbelt auf, Hühner flüchten, aus den Fenstern und Hofeingängen werden sie neugierig beobachtet. Vor dem Grossmannhof stehen Anni Christ und Lenchen Grossmann; beide nicken dem vorüberfahrenden Paar zu. Es ist nicht das Nicken, mit dem sie sich untereinander grüßen, sie senken die Köpfe langsam, auf eine untertänige Weise. Ilse weiß, dass es im Dorf allerlei Gerüchte über Richard und sie gibt, aber sie stört sich nicht daran, denn die Dörfler messen sie mit anderen Maßstäben als ihresgleichen. Sie ist »die Frau Küpper von der Villa«, da gelten andere Regeln, weil sie letztlich eine »Städtische« ist.
Während der Fahrt erzählen sie sich gegenseitig die Ereignisse der vergangenen Woche – er hat in Frankfurt an langwierigen Sitzungen seiner Bank teilgenommen, aber auch zwei Künstlerinnen aufgetan, die er bei passender Gelegenheit in die Villa einladen möchte. Ilse verkneift sich die Frage, ob die Damen jung und hübsch sind; stattdessen berichtet sie über den bevorstehenden Umzug in das neue Fabrikgebäude, das neben einer Produktionshalle auch einen Verwaltungsteil bieten wird. Natürlich hat sie alles genau durchgeplant, damit Arbeitsablauf und Produktion so wenig wie möglich unterbrochen werden.
Dann macht sie Richard den Vorschlag, Frieda Haller zu einer szenischen Lesung einzuladen. »Sie ist eine begabte Schauspielschülerin, und ich denke, sie hat es nicht leicht. Die Mutter ist mit ihrer Berufswahl nicht einverstanden und gibt sich alle Mühe, der Tochter Steine in den Weg zu legen. Das Mädchen darf nur ausnahmsweise bei seiner Großmutter in Frankfurt über Nacht bleiben, ansonsten hat es am Abend zu Hause in Dingelbach zu sein.«
Er lacht und meint, es sei für ein junges Mädchen keineswegs von Übel, am Abend zu Hause zu bleiben. Er hat Frieda bisher nicht zu Gesicht bekommen, da er sich nur in der Villa aufhält und niemals hinunter ins Dorf geht.
»Sie ist die Enkelin von Frau Haller aus Frankfurt, die so eifrig in Ihrem Kunstverein mitwirkt«, ergänzt Ilse.
»Ach so? Ja natürlich. Gut, dass Sie es ansprechen. Dann wäre das wohl in Erwägung zu ziehen.«
In Bad Homburg bietet sich ihnen ein gemischter Anblick. Das »Restaurant zum König« hat durch die Anbauten wenig gewonnen: Die kastenförmigen Erweiterungen rechts und links des alten Gasthofs lassen das Ensemble unharmonisch, geradezu »zusammengestoppelt« erscheinen. Die Bäume, die das Haus früher beschattet haben, sind einem freien Platz mit Parkmöglichkeiten für betuchte Gäste gewichen. Immerhin hat man eine kleine Grünfläche angelegt und mit Blumen bepflanzt, die jetzt bei der sommerlichen Hitze allerdings matt und vertrocknet aussehen. Hinter dem Anwesen, wo nach den Vorstellungen ihres Bruders das Gästehaus des zukünftigen Hotels und ein romantischer Park entstehen sollten, liegt noch alles im Chaos. Das geplante Parkgelände ist teilweise Gemüsegarten, teilweise Wildnis, und von dem künftigen Gästehaus ist nur eine Ausschachtung vorhanden, die von der Schwägerin inzwischen als Müllkippe benutzt wird.
»Ich habe Wert darauf gelegt, dass zuerst einmal das Restaurant fertig wird, damit sie wieder zu Einnahmen kommen«, erklärt Richard, als müsse er sich für diesen hässlichen Anblick bei ihr entschuldigen.
»Vollkommen richtig«, stimmt sie zu.
Drinnen werden sie von ihrem Bruder Josef empfangen, der sie schon mit Ungeduld erwartet hat.
»Das ist aber recht, dass ihr beide endlich einmal vorbeischaut. Die Irma hat schon gemeint, meine Schwester wolle gar nichts mehr von mir wissen. Haha … Ja, da schaut euch nur um bei uns. Da hat sich vieles zum Guten verändert, wir sind recht stolz darauf …«
Er überschlägt sich beinahe vor Höflichkeit und Dienstfertigkeit, öffnet eine Flasche Sekt zum Willkommen und führt sie durch die neu entstandenen Gasträume, die durch Schiebetüren zu einem großen Saal vereinigt werden können. Ilse entgeht nicht, dass er einen funkelnagelneuen Maßanzug trägt und auch seine Schuhe aus teurem Leder gefertigt sind. Er hat das Geld also nicht nur in den Bau gesteckt, sondern auch seinen Kleiderschrank erweitert. Vermutlich hat sich auch die Schwägerin neu ausgestattet.
Aber nun ja – sie wollen ja jetzt die adeligen und wohlhabenden Gäste bedienen, da muss man auf sich halten.
Die schönen alten Möbel aus der Villa, die die Schwägerin unbedingt hat haben wollen, sind bis auf wenige Stücke verschwunden. Auch das Meissener Service und die silbernen Bestecke gibt es nicht mehr.
»Das alte Zeug haben wir verkauft«, erklärt Josef. »Meine Irma hat gemeint, wir brauchen etwas Neues, Zeitgemäßes. Weil wir ja jetzt anspruchsvolle Gäste bedienen.«
Ilse ärgert sich über seine Schwindelei. Sie haben die Sachen aus Geldnot verkaufen müssen, so sieht die Wahrheit aus. Jetzt tut es ihr leid, dass sie all diese Erbstücke damals so großzügig der Schwägerin überlassen hat. Es waren liebe Erinnerungen an die Kindheit im Elternhaus, die nun für immer verloren sind.
Stattdessen hat man neue Tische und gepolsterte Stühle angeschafft und die Fenster mit schweren dunkelroten Portieren verhängt. Die exotischen Gewächse, die in Kübeln im Raum verteilt stehen, sehen traurig aus; bei dem fehlenden Licht werden sie vermutlich bald eingehen. Ilse sieht, dass Richard das Inventar ebenso wenig gefällt wie ihr, doch er lässt sich nichts anmerken und nimmt mit freundlichem Dank an dem für sie reservierten Tisch Platz.
Josef überreicht ihm frisch gedruckte, goldverzierte Menükarten. Man hat auf Richards Empfehlung hin einen französischen Koch eingestellt, der die Herrschaft der Schwägerin über die Küche rasch beendet hat. Die Kinder bekommen sie nicht zu Gesicht, aber Ilse ist klar, dass die drei schon seit dem Nachmittag in der Küche stehen, um nach den Anweisungen des Kochs Gemüse zu putzen. Angestellte sind teuer, schon der Koch kostet vermutlich ein Vermögen.
»Das ist halt was ganz anderes als die Hausmannskost, die wir früher serviert haben«, meint Josef. »Seitdem sich das in Bad Homburg herumgesprochen hat, können wir uns vor illustren Gästen kaum noch retten. Auch zwei französische Offiziere von der Garnison Königstein sind schon hier gewesen …«
Immer noch sitzen französische Besatzungstruppen auf rechtsrheinischem Gebiet bis in den Taunus hinein – man hat sich mit ihnen abgefunden und versucht, sich so gut es geht zu arrangieren. Die wohlhabenden Kurgäste zumindest scheinen nicht wirklich etwas gegen die französische Küche und die Besatzungsoffiziere zu haben.
Einstweilen sind sie die einzigen Gäste, Frau Goldstein ist noch nicht erschienen. Als Josef sie endlich von seiner aufdringlichen Gegenwart befreit hat, sitzen sie beieinander, studieren die Menükarte, und Ilse spürt auf einmal, dass Richard angespannt ist. Wie es scheint, sieht er der anstehenden Begegnung mit seiner Mutter nicht ganz so unbefangen entgegen, wie er vorgegeben hat. Auch sie wird langsam nervös. Wo bleibt die Frau Mama? Eigentlich ist es unhöflich von ihr, sie warten zu lassen.
Frau Goldstein erscheint gute zwanzig Minuten später, sie hat sich von ihrem Chauffeur herfahren lassen und wird von Josef bereits an der Tür mit größter Höflichkeit begrüßt.
»Willkommen, gnädige Frau. Welche Freude, dass Sie uns wieder einmal beehren. Der Herr Sohn und meine Schwester erwarten Sie bereits.«
Frau Goldstein ist deutlich gealtert seit der letzten Begegnung, auch die Schminke und die perfekte Frisur können diese Tatsache nicht verbergen. Während Josef sie übereifrig zu ihrem Tisch geleitet, stützt sie sich auf einen Stock und muss den Kopf heben, um die beiden Personen, die dort sitzen, in Augenschein zu nehmen. Richard springt auf, um seine Mutter mit einer Umarmung zu begrüßen, dann stellt er ihr Ilse vor.
»Frau Ilse Küpper. Eine liebe Bekannte, in deren Villa ich – wie du weißt – eine Wohnung gemietet habe …«
»Angenehm«, sagt die Mama, ohne Ilse anzusehen.
Die alte Dame lässt sich von Richard den Stuhl zurechtrücken und setzt sich. Vermutlich hat sie Schmerzen dabei, aber ihre Züge bleiben unbeweglich. Sie sitzt steif und gerade aufgerichtet, ohne sich anzulehnen, während sie das Lorgnon aus dem Handtäschchen nimmt, um die Menükarte zu studieren.
Da sie schweigsam bleibt und auch Ilse nicht recht weiß, was sie sagen soll, übernimmt Richard das Gespräch. Er berät seine Mama bei der Auswahl des Menüs, bestellt einen Aperitif und erzählt von seiner Absicht, im Herbst verschiedene kleine Veranstaltungen in der Villa zu organisieren.
»Es ist ein Ort, der eine ungemein passende Atmosphäre bietet, Mama. Ländliche Umgebung mit romantischen Ausblicken, helle Räume in einem anmutigen Gebäude und dazu eine wunderbare, kunstsinnige Gastgeberin, die mich in meinen Aktivitäten tatkräftig unterstützt …«
»Frau Küpper, nicht wahr?«, lässt sich jetzt Frau Goldstein vernehmen und schaut Ilse scharf an. »Wir sind uns hier schon einmal begegnet, wenn ich mich recht erinnere.«
»Ganz richtig, gnädige Frau. Damals half ich meinem Bruder aus der Not, da einige seiner Angestellten ausgefallen waren.«
»Sie leiten eine Fabrik, habe ich gehört?«
»Ich habe das Werk Pilz & Küpper in der Nachfolge meines Vaters übernommen.«
»Warum tat das nicht Ihr Ehemann?«
»Ich bin unverheiratet, gnädige Frau.«
Das kurze Verhör wird durch die Schwägerin Irma unterbrochen, die die Gäste aufs Herzlichste begrüßt und nach ihren Wünschen fragt. Sie hat sich ebenfalls neu eingekleidet, das schwarze, kurze Kleid steht ihr nicht einmal schlecht, nur ist sie für Ilses Geschmack zu stark geschminkt. Man wählt die Speisen aus, bestellt die passenden Weine, Irma sammelt die edlen Menükarten wieder ein und begibt sich in die Küche.
»Zu meiner Zeit erzog man ein Mädchen dazu, im Stillen zu wirken, um den Gatten auf diese Weise zu unterstützen«, bemerkt Frau Goldstein mit einem Lächeln. »Für eine Tochter aus gutem Hause wäre es eine Schande gewesen, einen Beruf zu erlernen.«
»Die Zeiten ändern sich, liebe Mama …«, wirft Richard ein.
»Nicht zum Guten …«
Ilse hat das Gefühl, etwas richtigstellen zu müssen.
»Ich habe mich nicht zu dieser Aufgabe gedrängt, Frau Goldstein«, sagt sie in deutlichem Ton. »Erst als mir klar wurde, dass es niemand anderen gab, der das Werk meines Vaters erfolgreich weiterführen konnte, habe ich mich dazu entschlossen. Heute kann ich mit Stolz sagen, dass es die Fabrik Pilz & Küpper ohne mein Eingreifen nicht mehr gäbe.«
»Sehr anerkennenswert«, bemerkt Frau Goldstein gleichmütig. »Und Sie widmen sich inzwischen auch der Kunst?«
Jetzt mischt sich Richard ein, der den Wortwechsel mit wachsender Sorge verfolgt hat. Beredt und mit dem ihm eigenen Charme berichtet er, dass es ihm zu seiner Freude gelungen sei, Frau Küpper neben ihren anstrengenden Obliegenheiten als Fabrikdirektorin auch für die schönen Künste zu begeistern.
»Wie du weißt, Mama, habe ich wieder zu malen begonnen, was mir große Freude und Befriedigung schenkt. Und das ist einzig Frau Küppers Verdienst, wofür ich ihr unendlich dankbar bin …«
»Du warst in der vergangenen Woche wieder einmal in Frankfurt, hat man mir gesagt«, gibt die Mama wenig beeindruckt zurück, ohne auf das Gesagte einzugehen. »Es freut mich sehr, dass du über all diesen Zerstreuungen noch an deine Aufgaben in der Bank denkst.«
»Das versteht sich von selbst, Mama. Niemals würde ich diese wichtigen Verpflichtungen vernachlässigen, da kannst du ganz beruhigt sein.«
Das Horsd’œuvre wird serviert, ein Scheibchen Räucherlachs mit einer Winzigkeit blanchiertem Gemüse und einem Hauch Meerrettichsahne. Frau Goldstein pickt ein wenig Gemüse auf, Fisch isst sie im Sommer niemals. Sie unterhält sich mit Richard über einen geplanten Aufenthalt in Heiligendamm an der Ostsee, beklagt sich über ihren Bruder Jacob, der sich für die Bank halbtot arbeitet und nicht loslassen kann, dann sprechen sie über eine ihrer Villen in Bad Homburg, die sie Richard inzwischen überschrieben hat und die renoviert werden muss. Ilse nippt am Wein und fühlt sich ausgeschlossen. Es ist überdeutlich, dass Frau Goldstein die Ambitionen ihres Sohnes nicht gutheißt. Anstatt in der »Villa Küpper« zu wohnen und zu malen, sollte er sich ihrer Ansicht nach lieber der Familienbank »Blum & Hirschberg« widmen. Auch ihrer Abneigung gegen seine Begleiterin hat Frau Goldstein Ausdruck verliehen, und das sehr viel direkter, als Ilse erwartet hat. Nun – das beruht auf Gegenseitigkeit. Ilse ist keine, die sich einschüchtern lässt. Frau Goldstein ist eine alte, verbitterte Frau, sie klammert sich vehement an ihren Sohn und hat, wie es scheint, große Sorge, er könne ihrem Einfluss entgleiten. Daran kann Ilse nichts ändern, sie wird höflich bleiben und dieses unangenehme Zusammentreffen so rasch wie möglich beenden.
Frau Goldstein ist ihr dabei behilflich, da sie augenscheinlich die gleiche Absicht verfolgt. Nachdem man Suppe und Hauptgericht mit viel diplomatischem Geschick hinter sich gebracht hat und eine weitere Pause bis zum Servieren des Desserts droht, die mit Gesprächen gefüllt werden muss, verkündet die alte Dame, sich nun zurückziehen zu müssen.
»Mein Rücken erlaubt mir das lange Sitzen nicht mehr«, fügt sie erklärend hinzu. »Aber du wirst den Abend ja in der angenehmen Gesellschaft von Frau Küpper beenden, da wird dir deine Mutter ohnehin nicht fehlen.«
»Wie kannst du so etwas sagen? Es ist unendlich schade, dass du uns schon verlassen musst, Mama …«, meint Richard bekümmert.
Ilse lässt verlauten, dass sie vollstes Verständnis hat. »Es ist gewiss kein Vergnügen, wenn man unter Schmerzen steht. Ich wünsche gute Besserung.«
Ein Bedauern über den frühen Aufbruch äußert sie nicht. Sie hat nicht vor zu lügen, und Frau Goldstein weiß ohnehin, was sie denkt. Es stellt sich heraus, dass der Chauffeur bereits draußen wartet, da er auf halb zehn Uhr bestellt worden ist. Die Frau Mama sagt Ilse höflichen Dank für ihr Verständnis, dann lässt sie sich von Richard beim Aufstehen helfen und den Gehstock reichen. Er geleitet sie zur Tür, wo schon der Chauffeur bereitsteht. Josef verpasst den Abschied, auch Schwägerin Irma bekommt ihn nicht mit, weil sie mit anderen Gästen beschäftigt ist, die sich inzwischen eingefunden haben.
»Wie schade«, meint Richard, als er an den Tisch zurückkehrt. »Aber wir wollen uns den schönen Abend nicht verderben lassen, nicht wahr?«
Er lächelt ihr aufmunternd zu; wie es scheint, hat er den frühzeitigen Abgang seiner Frau Mama bereits weggesteckt.
»Auf keinen Fall!«
Sie ist der Ansicht, dass dieser Abend erst jetzt anfängt, schön zu werden, was sich auch bewahrheitet. Richard bestellt neuen Wein und entschuldigt sich für seine Mutter, die nach der Rückenoperation im vergangenen Jahr nun mit neuen Leiden geschlagen ist und sich trotz allem mit großer Energie aufrecht hält.
»Sie ist ein gütiger und liebevoller Mensch. Es sind die Schmerzen, die sie manchmal schroff erscheinen lassen.«
Beim Dessert unterhalten sie sich leise über die neue Einrichtung des Restaurants, machen ihre Scherze über den Geschmack der Schwägerin, und er teilt ihr Bedauern über den Verlust der schönen Möbel. »Trotz allem muss ich Ihnen zum wiederholten Mal gestehen, dass ich mich in Ihrer Villa unendlich wohlfühle«, sagt er schließlich und fügt hinzu: »So frei und glücklich, wie ich bisher noch nie gewesen bin.«
Sie spürt seine Hand, die sich auf ihre Hand legt, und dieses Mal zuckt sie nicht zusammen. Ist es der Wein? Oder sind es seine schönen, dunklen Augen, deren Blick so tief in sie eindringt? Die schützende Mauer, die sie um sich errichtet hat, bröckelt, sie erwidert seinen Blick, lächelt ihm zu.
»Mir geht es ebenso«, gesteht sie. »Seit Sie in meine Villa eingezogen sind, habe ich so viel Schönes erfahren, so viel Neues erlebt. Ja, es hat sich für mich eine ganz andere Welt aufgetan.«
Drüben am Nachbartisch bricht jemand in Gelächter aus, auf der anderen Seite serviert Irma eine Käseplatte, wobei sie mühevoll die französischen Namen der verschiedenen Köstlichkeiten radebrecht. Richard und Ilse sehen einander immer noch an, Heiterkeit mischt sich in ihr Lächeln, er umfasst ihre Hand fester. Es fühlt sich angenehm, beinahe selbstverständlich an.
»Liebe Ilse«, sagt er unbeirrt vom Geschehen um sie herum. »Dies ist ein besonderer Abend, und deshalb wage ich es, Ihnen einen ungewöhnlichen Vorschlag zu machen.«
»Heraus damit. Ich bin zu allen Schandtaten bereit«, meint sie übermütig.
»Könnten Sie sich vorstellen, meine Frau zu werden?«
Mit einem Schlag bricht die weinselige Stimmung zusammen. Hat er sie eben um ihre Hand gebeten? Oder hat sie ihn missverstanden? Berauscht von mehreren Gläsern Wein, kann es passieren, dass sich Traumvorstellungen und Wirklichkeit miteinander vermischen.
»Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe …«
Er zieht ihre Hand an die Lippen und küsst sie. »Ich habe Sie gebeten, mich zu heiraten, Ilse«, sagt er leise und sieht sie dabei erheitert, beinahe schelmisch an. »Ich gebe zu, dass mein Vorschlag überraschend kommt, und ich erwarte nicht, dass Sie mir heute Abend eine Antwort geben. Ich kenne Sie inzwischen besser, als Sie ahnen, liebe Ilse. Ich weiß, dass Sie diesen Überfall erst einmal verkraften müssen …«