Kapitel 4

Es geht schon wieder los. Ida läuft hinter den Gärten entlang zum Dorfladen und klettert beim Hühnerhaus über den Zaun. Wenn es jetzt durch die Unterhose geht, ist es auch egal. Auf jeden Fall muss sie so schnell wie möglich in den Laden und ein Pulver holen, das hilft gegen die widerlichen Bauchschmerzen. Die bringen sie fast um. Richtige Krämpfe im Bauch, schlimmer kann es beim Kinderkriegen auch nicht sein.

Herta steht im Laden und bedient die Anni Christ. Die ist eine der wenigen treuen Kundinnen, die noch immer bei ihnen einkaufen. Leider hat sie nur wenig Geld, für viel Umsatz sorgt sie nicht.

»Was ist denn los?«, fragt Herta nervös, als Ida in dem Schubfach mit dem Kopfwehpulver und den Rheumasalben herumwühlt.

»Geht dich nichts an.«

Sie nimmt vorsichtshalber gleich zwei Tütchen, gießt in der Küche Wasser aus dem Kessel in einen Becher und läuft nach oben. In der Schlafkammer sitzt Frieda auf ihrem Bett und schreibt in ein Heft, das auf ihren Knien liegt.

»Da ist ein Buch für dich«, sagt sie, ohne hochzuschauen. »Eine Expedition nach Schwarzafrika. Hat mir Hohnermann geliehen.«

Ida hört kaum hin. Sie schüttet den Inhalt von zwei Tütchen Kopfwehpulver in den Becher, rührt mit dem Finger um und kippt das bittere Zeug hinunter. Wenn das bloß schnell wirkt! Sie setzt sich aufs Bett und muss sich vor Schmerz zusammenkrümmen.

»Hast du deine Tage?«

»Nee. Ich stöhne bloß vor lauter Lust und Lebensfreude!«

Frieda ist mitleidig. Sie kennt sich aus mit dieser Sache und steht Ida hilfreich zur Seite.

»Ich hol dir gleich mal eine Binde.«

Als es vor einem Jahr bei Ida anfing, hat sie das Blut in ihrer Unterhose nicht der Mutter, sondern Frieda gezeigt. Frieda hat sie in den Arm genommen und lachend gesagt: »Willkommen bei uns Frauen, Schwesterlein!«

Ida legt allerdings überhaupt keinen Wert darauf, eine Frau zu sein. Die Veränderungen an ihrem Körper stören sie, sie will sie nicht haben, es soll alles bleiben, wie es ist. Im Winter hat sie stur das »Leibchen« angezogen. Das ist ein Hemd, an dem unten Strumpfhalter befestigt sind und das man Kindern in der kalten Jahreszeit anzieht, wenn sie lange wollene Strümpfe tragen müssen. Erwachsene Frauen tragen einen Hüfthalter, weil das Leibchen den Busen abdrückt. Aber Ida hat beschlossen, dass die runden Buckel an ihrer Brust kein Busen sind. Weil sie eben keinen haben will. Punktum. Und wenn Ida etwas will, dann will sie.

Inzwischen hat sie freilich einsehen müssen, dass es Dinge gibt, die man akzeptieren muss. Das Leibchen war zu kurz, es hat an der Brust und an den Schultern wehgetan, und die Strumpfhalter sind immer von den Strümpfen gerutscht. Besonders ärgerlich war das in der Schule in Frankfurt, weil die blöden »höheren Töchter« sich über sie lustig gemacht haben. Ida ist Klassenerste und hat einen Teil der Schülerinnen hinter sich. Aber da ist eben auch Berta Kahn, ihre Gegenspielerin. Die hat reiche Eltern und eine Menge Freundinnen, sie laufen herum wie richtige Damen, tragen neu gekaufte, modische Kleider und Büstenhalter. Berta hat einen Bubikopf, und die meisten ihrer Freundinnen auch. Aber diese Angelegenheit hat sich ja inzwischen erledigt.

»Da!«, sagt Frieda und hält ihr die Binde hin. »Leg sie besser gleich ein, sonst versaust du noch dein Bett.«

»Quatsch!«

Frieda wirft ihr das lästige Ding aufs Kopfkissen und wendet sich wieder ihrem Heft zu. Die Binde ist eine lange, aus Baumwollgarn gestrickte Hülse, in die man Watte oder auch Streifen von alter, zerschnittener Unterwäsche steckt. Vorn und hinten klemmt man die überstehenden Teile der Hülse in eine metallische Öse, die am Strumpfbandgürtel befestigt ist. Damit das Ding nicht etwa verrutscht und aus der Unterhose herausfällt. Das passiert den Bäuerinnen manchmal. Nach Gebrauch wird die Hülse im Waschkessel ausgekocht und zum Trocknen auf die Leine gehängt. Als Ida klein war, hat sie mal gefragt, was das für komische Strümpfe ohne Fuß wären, die Herta immer in einer Ecke vom Garten trocknet. Da haben sie alle gelacht, und die Mutter hat gesagt: »Das sind Pulswärmer, Idchen.«

Sonst hat sie nichts gesagt, aber Ida hat schon damals gemerkt, dass ein Geheimnis dahintersteckt. Sie hat es bald herausgebracht, weil die Schwestern immer gestöhnt und gejammert haben, wenn es so weit war, und dann der Streit um die Hülsen ausgebrochen ist.

Nun hat es sie also auch erwischt. Das Erste, was die Mutter ihr gesagt hat, als sie davon erfuhr, war: »Jetzt kannst du schwanger werden, also pass auf dich auf!«

Klar: Weil sie ihre Tage bekommen hat, kann sie Kinder kriegen. Theoretisch zumindest. Praktisch schaut es so aus, dass sie einfach nur alle vier Wochen scheußliche Bauchkrämpfe hat, die mehrere Stunden andauern und sie außer Gefecht setzen. Und das Schlimmste ist, dass man nie genau weiß, wann es losgeht. Im Zug, in der Schule, draußen beim Killinger Hannes, wenn sie den Willibald reitet, oder mitten in der Nacht im Schlaf. Es ist solch ein Mist, ein Mädchen zu sein! Die Buben, die haben das nicht. Die können auch mal schnell gegen einen Baum pinkeln oder im Stall in den Mist pieseln. Ungerecht ist das! Falsch eingerichtet wie so vieles in der Welt.

Sie legt sich aufs Bett und wartet, dass die Krämpfe nachlassen. Wann wirkt das Pulver endlich? Sie hat keine Lust, stundenlang herumzuliegen und vor sich hin zu keuchen. Sie starrt an die Lampe, die von der Zimmerdecke herunterhängt, und beißt die Zähne zusammen. An etwas Schönes denken! Zu Ostern hat sie bei der Zeugnisausgabe bis zuletzt sitzen müssen, weil die Lehrerin mit der Reihenfolge von hinten angefangen hat. Berta hat auch lange warten müssen, aber sie ist schließlich nur Dritte geworden. Wie sie alle geschaut haben, als nur noch Ida übrig war und die Lehrerin eine kleine Pause gemacht hat, bevor sie weitergeredet hat.

»Unsere Klassenerste ist Ida Haller. Herzlichen Glückwunsch, Ida!«

Dann durfte sie nach vorn gehen und bekam das Zeugnis überreicht. Lauter »Sehr gut«, in Rechnen und Deutsch sogar mit Sternchen, bloß in Nadelarbeit ein »Gut«. Auch Berta hat zu ihr hingeguckt, aber nur kurz, dann hat sie wieder die Arme aufs Pult gestützt und auf ihr Zeugnis gestarrt. Sie war furchtbar enttäuscht. Wahrscheinlich hat sie zu Hause Ärger bekommen, weil ihre Eltern ehrgeizig sind und sie immer die Beste sein muss. Sie sind Juden.

Endlich spürt sie, dass die Schmerzen nachlassen. Es tut zwar immer noch weh, aber man kann es aushalten. Sie setzt sich auf und sucht nach der Binde, die Frieda ihr gegeben hat, zerrt wütend einen Strumpfhalter aus dem Schrank und trifft die nötigen Vorkehrungen. Heiß ist es auch hier in der Schlafkammer, obgleich Frieda das Fenster aufgemacht hat. Sie nimmt sich das Buch von Friedas Nachttisch und schaut der Schwester neugierig über die Schulter.

»Ist das das neue Krippenspiel?«

»Nein. Ein Lustspiel.«

»So was Verruchtes? Mit nackten Frauen und so?«

Frieda hebt den Kopf und schaut sie entsetzt an. Dann fängt sie an zu lachen. »Eine Komödie. Ein lustiges Stück. Was denkst denn du?«

»Hab da so Plakate in Frankfurt gesehen …«

»Du sollst da nicht herumlaufen, wo solche Plakate hängen!«

Darauf antwortet Ida nicht. Sie hat die Stadt längst in vielen Ecken und Winkeln erforscht, das geht, weil sie mittags oft eine Stunde warten muss, bis die Bahn nach Dingelbach fährt. Sie kennt auch alle Buchläden und Bibliotheken. Ausleihen kann sie dort leider nichts, weil sie nicht in Frankfurt wohnt. Nur in der Bibliothek der Schillerschule darf sie Bücher ausleihen, aber da ist wenig Interessantes zu finden. Die Bücher von Lehrer Hohnermann sind hundertmal besser. Sie vertieft sich in die Schilderungen der Expeditionsreise, staunt über die vielen Gerätschaften, die die Forscher mitgenommen haben, um Pflanzen, Tiere und Bodenbeschaffenheit zu ergründen. Das haben alles die schwarzen Träger geschleppt, Pferde konnten sie nicht einsetzen, weil die im Urwald krank geworden sind, oder die wilden Tiere haben sie gefressen. 

Im Geschichtsunterricht hat sie gelernt, dass Deutschland früher Kolonien in Afrika besessen hat. Togo, Deutsch-Südwest und Deutsch-Ostafrika. Aber nach dem Krieg haben die Sieger ihnen die Kolonien weggenommen. Sie fängt an zu grübeln. Das ist eine Sache, die sie schon lange ärgert. Die einen sind mächtig, die nehmen sich, was sie haben wollen, und die anderen müssen sich fügen. Überall ist das so. In Afrika herrschen die Kolonialherren über die Schwarzen, aber auch die Schwarzen beherrschen sich gegenseitig. In Ruanda sind die Watussi die Herren, und die Wahutus müssen sich vor dem Watussi-Häuptling auf den Boden werfen. Warum ist die Welt so eingerichtet, so ungerecht? Hier im Dorf ist es genauso. Der Schütz Otto ist reich, hat schon drei Höfe gekauft, und der arme Christmann Herbert hat sich aufgehängt, weil er Schulden gehabt hat und sie seinen Hof versteigern wollten. Die Helga muss sich vor den Leuten verstecken, weil sie sich scheiden lassen will. Aber dass der Otto sie beinahe totgeschlagen hat, finden die Leute offenbar ganz normal. Weil er ja ein Mann ist und deshalb Frau und Kinder prügeln darf. Und erst die eingebildeten Ziegen in ihrer Klasse, die immer Witze über ihre Kleider und Schuhe machen, weil ihre reichen Eltern ihnen teure Sachen …

»Frieda!«, ruft die Mutter aus der Küche. »Es ist Kundschaft im Laden!«

Frieda stöhnt auf, vermutlich hat sie gerade eine gute Idee, und jetzt muss sie alles fallen lassen, weil sie ein Pfund Salz und einen halben Hering verkaufen soll.

»Ich geh schon runter«, sagt Ida großmütig.

»Sind die Bauchschmerzen vorbei?«

»Schon lange!«, prahlt sie und sucht in ihrer Nachttischschublade nach einem Lesezeichen. Dort hat sie eine ganze Sammlung von Zetteln, Zeitungsausschnitten, abgefahrenen Fahrkarten und buntem Bonbonpapier, das für diesen Zweck taugt.

Unten in der Küche hat Sirius Engelke alle seine Koffer geöffnet. Sie muss vorsichtig darum herumsteigen, um in den Laden zu gelangen. Herta prüft mit Inbrunst verschiedene Haken und Knöpfchen, Mama schaut stirnrunzelnd auf das Blatt Papier, wo sie notiert hat, was bestellt werden muss.

»Pass doch auf!«, sagt Herta, als Ida versehentlich gegen den Koffer mit den Sockenhaltern und Strümpfen tritt.

»Bin ich eine Zirkustänzerin?«, faucht Ida zurück.

»Entschuldigen Sie vielmals, Fräulein Haller!«, sagt Sirius Engelke und klappt seinen Koffer zu. Dann lächelt er Herta an, die darüber ganz rot wird.

Im Laden wartet die Karin Guckes mit der großen Einkaufstasche. Eine Sensation! Seit Wochen hat sie wegen der Helga nicht mehr im Dorfladen gekauft, jetzt hat sie sich wohl besonnen. Kein Wunder – die Helga wohnt ja jetzt bei ihnen im »Raben«.

»Ei, Idchen!«, begrüßt die Karin sie. »Du hast ja das Haar abgeschnitten. Was hat denn die Mama dazu gesagt?«

Dass Ida einen verstrubbelten Bubikopf trägt, weiß inzwischen beinahe jeder im Dorf, aber sie bekommt es immer wieder aufs Brot geschmiert.

»Ist halt praktischer so. Was darf ich Ihnen bringen?«

Die Karin tätigt einen Großeinkauf, Ida muss hin und her laufen, Zucker, Reis und Grieß abwiegen, Salzheringe in den mitgebrachten Topf legen, einige Konserven muss sie aus dem Lager herbeiholen. Währenddessen regt sich Karin über die Gertrud Schütz auf, die immer diese »Einkaufsreisen« nach Oberursel veranstaltet, damit die Frauen nicht mehr im Dorfladen kaufen. Dabei ist sie selber schon ein paarmal mitgefahren, aber jetzt findet sie das auf einmal »schändlich«.

»Kaufen tun sie da, als ob es nichts kosten würd! Mit vollen Taschen kommen sie zurück, haben bunte Tücher, feine Strümpf und allerlei unnützen Tand erworben für ihr gutes Geld. Und die Männer lassen anschreiben, wenn sie zum Abendschoppen im ›Raben‹ einkehren …«

»Wie viele Essiggurken?«

»Zehn … nein, fünfzehn. Aber net die großen, die sind innen gern mal matschig … Einen Schnaps hat die Gertrud neulich dem Hannes mitgegeben, stell dir das mal vor, Idchen. Da haben die Frauen auf der Rückfahrt die Flasche kreisen lassen, und alle sind besoffen heimgekommen. Gehört sich so was? Die Frau Pfarrer hat gesagt, das sei Verführung zum Laster. Also nein, das muss einmal ein Ende haben …«

»Ist das alles?«, fragt Ida, womit sie den Einkauf meint.

»Für heut schon …«

Ida nennt den Endpreis, noch bevor die Ladenkasse ihn ausspuckt – sie hat es im Kopf längst zusammengerechnet. Die Karin bezahlt und packt die Sachen ein. Für die Gurken und den Heringstopf wird sie nachher ihre älteste Tochter Erna schicken, weil sie nicht alles auf einmal tragen kann. Ida übertrifft sich selbst und hält ihr sogar die Ladentür auf – immerhin hat dieser Einkauf den heutigen Umsatz verfünffacht.

»Ei Guude dann …«, verabschiedet sich die Kundin.

Dann stutzen sie beide, denn der Abendwind weht ungewohnte Töne zu ihnen hinüber. Junge Stimmen, die ein Lied singen. Ida kennt es, weil Lehrer Hohnermann es ihnen in der Dorfschule beigebracht hat.

»Wir wollen zu Land ausfahren … wohl über die Fluren weit … aufwärts zu den klaren … Gipfeln der Einsamkeit …«

»Wer singt denn da?«

Karin Guckes winkt ab. »Das sind die Städtischen. Die Wandervögel. Vorhin haben sie gefragt, ob sie bei uns in der Scheune schlafen dürfen. Aber das hat der Jörg net haben wollen, da sind sie weiter zum Alberti Rudolf gegangen …«

Ida erfährt, dass es fünf junge Leute wären, drei Jungen und zwei Mädchen, und dass es eine Sünd und eine Schand sei, weil sie alle miteinander im Heu schlafen würden.

»Unsere Buben, der Ernst und der Gustav, die haben gleich hinüberrennen wollen. Aber der Jörg hat’s verboten. So junges Volk aus der Stadt, wo nichts zu tun haben und herumziehen wie die Landstreicher, die setzen den Buben nur Flöhe in die Köpp …«

Die Karin steigt die Stufen hinunter, schüttelt noch einmal den Kopf über die Singerei und macht sich auf den Weg hinüber zum »Raben«. Ida bleibt an der Ladentür stehen, um noch ein wenig zuzuhören, aber da kommt der Sirius Engelke mit seinen Koffern, und sie muss beiseitegehen, damit er seinen Kram auf den Pferdewagen laden kann.

»Adieu, Fräulein Ida«, sagt er und lächelt unter dem Schnurrbart. »Bis zum nächsten Mal!«

»Guude!«, gibt Ida mürrisch zurück.

Jetzt kann sie den Gesang nicht mehr hören, weil er die Koffer auf dem Wagen herumschiebt, dass es knarrt und quietscht, und dann fährt auch noch der Jochen Schmidtkunz mit dem rasselnden Fuhrwerk über die Dorfstraße. Verärgert macht sie die Ladentür zu. Drinnen steht die Mutter bei der Ladenkasse und freut sich über den Einkauf, den die Karin getätigt hat. Herta ist ins Lager gelaufen, um das Gurkenfass nachzufüllen.

»Siehst du, Mutter«, ruft sie aus dem Lager. »Nun kommen sie alle zu uns zurück. Wie gut, dass wir die schönen Bänder und die neuen Kragen bei Herrn Engelke eingekauft haben …«

»Was hat die Karin denn erzählt?«, will die Mutter misstrauisch von Ida wissen.

»Ach, nichts Besonderes …«

Ida hat keine Lust, das dumme Gerede der Karin weiterzugeben, die kommt sowieso morgen wieder in den Laden, um ihnen die Ohren vollzuschwatzen. Sie hat jetzt andere Dinge im Kopf. Die jungen Leute aus der Stadt sind ganz sicher beim Alberti Rudolf in der Scheune oder vielleicht beim Killinger Hannes im Pferdestall untergekommen. Ida ist neugierig. Von den »Wandervögeln« hat sie schon reden gehört, das sind Schüler und auch Studenten, die im Sommer über Land ziehen, ihre Lieder zur Klampfe singen und oft bei den Bauern um ein Glas Milch, ein Butterbrot und eine einfache Unterkunft für die Nacht bitten. Manchmal helfen sie bei der Ernte, aber meistens bezahlen sie für die Lebensmittel. Die Bauern sehen die jungen Nichtstuer trotzdem mit Misstrauen, weil sie von der schönen freien Natur schwärmen und ihnen die Wiesen niedertreten. In den umliegenden Dörfern sollen schon hin und wieder solche jungen Taugenichtse eingekehrt sein, in Dingelbach aber bisher nicht.

Da die Mutter und Herta im Laden beschäftigt sind, verschwindet sie in der Küche und steigt im Garten über den Zaun. Die Binde zwischen den Beinen ist furchtbar lästig. Dazu kommt, dass die Mutter jetzt immer wissen will, wohin sie geht, und ihr vorschreibt, wann sie zu Hause zu sein hat. Was denkt die sich? Dass sie sich mit einem Kerl ins Heu legt? So was Lächerliches!

Der Gesang ist nicht mehr zu hören, dafür weht jetzt der Geruch eines Feuers herüber, und wenn sie nicht alles täuscht, riecht es nach Wurst und verbranntem Brot. Richtig – drüben beim Killinger Hannes steigt eine dünne Rauchsäule auf, die brutzeln sich ihr Abendessen. Als sie hinter dem Garten vom Gasthaus vorbeigeht, sieht sie, dass oben ein Fenster offen steht. Die Helga hat beide Arme aufs Fensterbrett gestützt und schaut hinaus. Ida winkt ihr zu, rufen will sie besser nicht, weil dann gleich wieder die Guckes Karin kommt und keift, die Helga soll das Fenster zumachen. Helga winkt zurück.

Ida überquert die Dorfstraße beim Alberti Rudolf und läuft gleich in den Hofeingang vom Killinger Hannes hinein. Da stehen immer die Gerätschaften, die er für die Bauern instand setzen soll, und dazu lauter anderer Kram. Es ist ein ziemliches Durcheinander, aber den Killinger Hannes stört es nicht. Er ist unverheiratet und wohnt allein auf dem Hof, den er von den Eltern geerbt hat. Die Werkstatt ist hinten am Bach, weil das Wasser den Schmiedehammer antreibt. Dort hat er auch eine Wiese und den Stall, wo sein Vater früher einmal Kühe stehen hatte, der jetzt aber dem Hengst Willibald als Unterstand dient.

Die Wandervögel sitzen auf dem Hof vor der Schmiede, dort hat der Hannes ihnen wohl erlaubt, ein Feuer zu machen. Ein Dreibein hat er ihnen auch gegeben, da steht ein alter Wasserkessel drauf, der schon ganz schwarz vom Feuer ist. Die Wurststücke und das Brot halten sie auf Stöcken in die Flammen – na, Mahlzeit! Das schmeckt bestimmt angekokelt.

Sie geht zuerst ganz harmlos in die Schmiedewerkstatt, wo der Erwin, der Geselle vom Hannes, gerade Feierabend macht und sich am Wassertrog wäscht. Der Hannes räumt hinten beim Feuer herum, er trägt nur Unterhemd und Hose unter der Lederschürze, sodass man seine kräftigen Muskeln sehen kann.

»Na, Ida?«, sagt er und grinst ihr zu. »Bist neugierig, wie?«

»I wo«, tut sie gleichgültig. »Wollt nur mal nach dem Willibald schauen.«

»Sag denen, sie sollen dem Hengst kein Brot geben. Sonst furzt der wieder die ganze Nacht.«

»Ist recht …«

Sie geht am Erwin vorbei, der in übertriebener Hast die Hosen überzieht, als ob sie ihm was abgucken würde. Früher hat der sich nicht so angestellt, wenn sie am Abend in der Werkstatt war. Betont langsam schlendert sie auf den Hof hinaus und bleibt bei den fünf jungen Leuten stehen. Sie sind alle älter als sie, die beiden Mädchen tragen Sommerkleider und dazu feste Schuhe mit dicken Sohlen. Die Jungen sind eigentlich schon erwachsene Männer; einer hat kurze Hosen an, die anderen beiden tragen lange Sommerhosen und haben geschnürte Schuhe an den Füßen. Sie haben sich leise miteinander unterhalten, doch als sie Ida bemerken, sind sie still und schauen sie neugierig an.

»Schönen Abend«, sagt sie. »Ich bin die Ida.«

Die beiden Mädchen schauen misstrauisch, eine lacht verlegen, die andere kneift die Augen schmal. Wahrscheinlich ist sie kurzsichtig und will die Brille nicht aufsetzen. Die jungen Männer mustern sie interessiert, dann steht einer auf und reicht ihr die Hand.

»Willkommen«, sagt er und drückt ihre Hand fest. »Ich bin Florian. Willst du dich zu uns setzen?«

»Wenn’s euch nicht stört …«

»Überhaupt nicht …«

Sie rücken zusammen und machen ihr Platz. Für die Mädchen haben sie eine Decke auf das Hofpflaster gelegt, die jungen Männer sitzen mit gekreuzten Beinen auf den Steinen. Ida lässt sich neben Florian nieder, der ist blond und trägt eine Brille, scheint aber recht nett zu sein, denn er bietet ihr Kaffee aus seinem Becher an. Auch die beiden anderen Jungen sind freundlich, sie stellen sich mit »Hans-Dieter« und »Klaus« vor. Hans-Dieter ist der mit der kurzen Hose, er ist dicklich und hat krauses Haar. Klaus ist ziemlich dünn, er hat eine spitze Nase und ein Kaninchenkinn.

»Kommst du aus dem Dorf?«, forscht Florian, der anscheinend der Wortführer ist.

»Ja, ich bin aus Dingelbach.«

Sie sieht, dass eines der Mädchen herablassend lächelt; die andere lächelt auch, aber freundlich. Sie hält Ida für ein unbedarftes Bauernmädchen, das in der schönen Natur zu Hause ist.

»Und woher kommt ihr?«, fragt Ida.

Sie sind aus Frankfurt, nur Florian kommt eigentlich aus Köln, aber er studiert in Frankfurt. Die Mädchen heißen Charlotte und Karla, sie sind Freundinnen und wohnen zusammen auf einem Zimmer. Wieso und warum, erzählen sie nicht. Sie sind seit vorgestern unterwegs und wollen gemeinsam durch den Taunus wandern, vielleicht auch auf den Feldberg steigen.

»Da habt ihr euch aber ordentlich was vorgenommen …«, meint Ida, die nicht viel vom Wandern hält.

»Und du? Erzähl mal von dir. Wohnst du auf einem von diesen hübschen Bauernhöfen?«

Hübsch findet Ida die Höfe in Dingelbach eigentlich nicht. Die meisten sind eng und dunkel, die Ställe sind ans Wohnhaus angebaut, überall steht Gerümpel herum, und auf den Misthaufen hocken die Hühner. Aber es ist eben so.

»Nee«, wehrt sie ab. »Meine Mutter hat den Dorfladen. Ich gehe auf die Schillerschule in Frankfurt und mache in drei Jahren das Abitur.«

Sie erntet ungläubige Blicke. Klar, sie sieht überhaupt nicht wie eine höhere Tochter und Schülerin eines Gymnasiums aus. Eher wie ein Dorfkind mit dem selbst genähten Kleid und den klobigen, alten Schuhen, die Herta ihr vererbt hat.

Florian lächelt vor sich hin und meint, es sei eine gute Sache, dass auch Frauen Abitur machen und studieren können. Aber sie sieht ihm an, dass er das nur so sagt. Weil er ihr nicht glaubt.

»Was studierst du denn?«, fragt sie ihn.

»Rate mal!«

Sie schaut ihm ins Gesicht, überlegt kurz und meint: »Jura oder Theologie.«

Hans-Dieter klatscht sich begeistert mit der Hand auf den Oberschenkel, Klaus fängt an zu lachen.

»Gar nicht schlecht!«, sagt Florian. »Und wie kommst du darauf?«

»Du siehst aus, als würdest du später einmal Richter oder Pfarrer werden.«

Jetzt lachen sie alle, Charlotte kreischt dabei, Karla hält sich die Hand vor den Mund. Nur Florian schaut leicht belämmert drein.

»Beides falsch«, meint er betreten.

»Ist doch gar nicht wahr!«, widerspricht Hans-Dieter. »Sie hat’s getroffen.«

»Nee«, sagt Klaus. »Weil er Priester wird. Nicht Pfarrer.«

»Ach, du bist katholisch!«, meint Ida und grinst frech. »Das hab ich dir gar nicht angesehen.«

»Da bin ich aber froh!«

Weil sie nun so unbefangen lacht, stimmt er mit ein und meint nur, vor so einer wie ihr müsse man sich in Acht nehmen. Er steht auf und nimmt die Laute, die an der Wand der Werkstatt lehnt.

»Singen wir noch was?«

»Abendstille überall!«, ruft Ida aus. »Könnt ihr das? Das haben wir in der Dorfschule gelernt.«

»Klar können wir das!«

Florian stimmt es an und schlägt dazu die Akkorde. Er hat eine kräftige, warme Stimme, so ähnlich wie Lehrer Hohnermann, und er kennt alle Strophen auswendig. Die anderen haben ein graues Büchlein, da schauen sie ab und zu hinein, wenn sie den Text nicht mehr wissen. »Der Zupfgeigenhansl« heißt es. Ida singt eifrig mit, das Textbüchlein braucht sie nicht; wenn sie etwas einmal gehört hat, sitzt es fest in ihrem Kopf. Sie singen noch andere Lieder, von den bunten Fahnen und den grauen Mauern, auch die hohen Tannen werden bemüht, und im Frühtau wird auf die Berge gezogen. Es ist ein langer Sommerabend, aber das Licht wird doch nun langsam schwächer. Das Feuer ist niedergebrannt und glimmt nur noch ein wenig, der letzte Milchkaffee wird ehrlich miteinander geteilt. Der Killinger Hannes hat die Werkstatt zugemacht und ist hinüber ins Wohnhaus gegangen.

Auch die jungen Leute werden jetzt stiller. Sie sind seit dem frühen Morgen unterwegs und das lange Wandern nicht gewohnt. Man unterhält sich leise, Hans-Dieter hat sich an Karla angelehnt, Klaus hat den Arm um Charlotte gelegt, ihr Kopf ist auf seine Schulter gesunken. Ida redet mit Florian über die Bibel, die sie von vorn bis hinten gelesen hat. Warum man sie auf Lateinisch und Griechisch lesen muss, will sie wissen. Ob man sie dann besser verstünde? Er geht ernsthaft auf ihre Fragen ein, erklärt, dass das Studium der Theologie eine Tradition hätte und die Kenntnis der alten Sprachen nötig sei, um die Bibel auch im Urtext zu lesen. Ida ist damit nicht zufrieden. Ob die Übersetzung ins Deutsche denn schlecht oder falsch sei, will sie wissen. Und was die Geschichte des Volkes Israel eigentlich mit den Lehren von Jesus Christus zu tun hätte. Er schlägt sich wacker, erklärt Zusammenhänge, bietet theologische Deutungen, aber sie schafft es, ihn immer wieder in die Enge zu treiben. Wenn er keine passende Antwort weiß, gibt er es offen zu und meint, er müsse darüber nachdenken.

Schließlich wechselt er das Thema und erzählt von der »Internationalen Arbeiterolympiade« im neuen Waldstadion, die er als Zuschauer besucht hat. Tausende Menschen seien dort versammelt gewesen, und es seien eindrucksvolle sportliche Leistungen erzielt worden. Ida findet das ganz nett, aber warum nur für die Arbeiter? Und wieso es keine Olympiade für die Bauern gäbe. Er lacht und meint, im Prinzip habe sie recht, weil der olympische Gedanke eigentlich alle Menschen vereinen sollte.

»Wie alt bist du?«, fragt er, als das Gespräch stockt.

»Fünfzehn. Und du?«

»Zweiundzwanzig. Ein alter Mann, wie?«

»Für einen Priester viel zu jung.«

Er lächelt. Die Gebäude um sie herum sind zu Schatten geworden, leise murmelt der Bachlauf, noch ist kein Stern am dunkler werdenden Himmel zu sehen, nur in den Büschen vor der Werkstatt irren kleine Lichtpünktchen umher. Glühwürmchen.

»Du bist ein ungewöhnliches Mädchen«, sagt er leise. »So eine wie dich habe ich noch nie getroffen.«

Sie merkt, wie er ganz langsam den Arm um ihre Schulter legen will. Sie lässt es zu, spürt seine Wärme und findet es angenehm, so dicht bei ihm zu sitzen und die tanzenden Glühwürmchen zu betrachten.

»Ida … Und wie weiter?«

»Ida Haller. Und du?«

»Florian Häger.«

»Ich muss jetzt los, Florian. Ist spät geworden.«

Er steht zusammen mit ihr auf, sie gehen an der Pferdekoppel entlang bis zur Brücke, dort reicht sie ihm die Hand.

»Mach’s gut. War nett, mit dir zu reden.«

»Komm gut nach Hause, Ida«, sagt er und drückt ihre Hand.

Sie läuft beim Backhaus auf die Dorfstraße. Im »Raben« sind die Lichter an, Stimmengewirr ist zu hören, einer schlägt mit der Faust auf den Tisch, dass es kracht. Brüllendes Gelächter folgt. Es hat keinen Zweck, hinter den Gärten zum Laden zu laufen, weil viele jetzt noch in der Abendkühle im Garten sitzen. Sie kann ebenso gut die Dorfstraße nehmen.

Natürlich haben sie daheim auf sie gewartet. Herta öffnet ihr die Ladentür und meint:

»Na, du kannst dich auf was gefasst machen! Ist schon zehn Uhr durch!«