Kapitel 5
Heinz wünscht sich sehnlichst, dass die Schule endlich wieder beginnt. Nicht, dass er gern in die Dorfschule ginge, aber dort entkommt er wenigstens für den Vormittag den wachsamen Augen der Großmutter. Auch der Vater passt scharf auf ihn auf, aber der ist viel unterwegs, weil er eine neue Ehefrau sucht. Die Großmutter aber hat ihn immer im Blick und lässt ihn nicht vom Hof. Nur auf den Gemüseacker darf er sie begleiten, um zwischen Kohl, Karotten und Sellerie das Unkraut zu hacken und Gießwasser aus dem Bach heranzuschaffen. Sie ist freundlich zu ihm wie nie zuvor, lässt sich Bonbons und Zuckerstangen aus Oberursel für ihn mitbringen und streicht ihm sogar über den Kopf, anstatt ihn wie früher mit Ohrfeigen zu traktieren. Er lässt es sich gefallen, aber er bleibt misstrauisch und ist jeden Augenblick darauf gefasst, dass ihr wieder die Hand ausrutscht.
Der Vater ist anders, der macht kein falsches Theater, er ist grob und kurz angebunden, aber seitdem Heinz die Gehirnerschütterung gehabt hat und im Krankenhaus war, hat der Vater ihn kein einziges Mal mehr verprügelt. Dafür schaut er darauf, dass Heinz im Stall und auf dem Feld rechtschaffen arbeitet, damit er ein guter Bauer wird. In diesem Jahr hat er zum ersten Mal mit der Sense mähen dürfen, da hat der Vater zuerst dabeigestanden und ihm gezeigt, wie er die Sense halten muss, damit er das Gras kurz und gerade abschneidet und nicht darüber hinwegschwingt. Das hat Heinz zuerst Freude gemacht, weil er stolz war, wie ein richtiger Bauer mähen zu können. Aber dann wurde es mühsam, die anderen Schnitter waren immer vorneweg, und er schaffte seine Reihe nicht, die Sonne hat ihm den Rücken verbrannt, und die Arme haben scheußlich wehgetan. Am nächsten Morgen hat er sie kaum bewegen können vor lauter Muskelkater – darüber hat der Vater nur gelacht und gemeint, dagegen gäbe es nur eines: gleich wieder die Sense schwingen, dann vergeht der Muskelkater. Da musste er die Zähne zusammenbeißen, und die Tränen sind ihm heruntergelaufen, weil es höllisch wehgetan hat. Aber die Schmerzen sind tatsächlich während der Arbeit vergangen.
Schwimmen kann er jetzt auch, aber es ist keine Freude gewesen, es zu lernen. Der Vater ist mit ihm hinauf zum Weiher gegangen, da haben sie sich beide nackt ausgezogen, was ihm furchtbar peinlich war, schon wegen der anderen Kinder, die ein Stück weit entfernt im Wasser herumgehüpft sind, Mädchen waren auch dabei. Aber das Schlimmste war, dass er zum ersten Mal gesehen hat, wie der Vater ohne Hemd ausschaut. Er hat viele Narben an der Brust und am Rücken, und der rechte Arm ist kürzer und dünner als der linke.
»Was schaust du?«, hat der Vater ihn angefahren. »So geht’s, wenn man in den Krieg ziehen muss. Sei froh, wenn dir das erspart bleibt.«
Das Schwimmen hat er schnell herausgehabt, es war leicht, weil er keine Angst vor dem Wasser hat. Er hat es bald besser als der Vater gekonnt, der hat wegen des kaputten Arms immer so komisch schief im Wasser gehangen. Zu den anderen Kindern hat er nicht gedurft, er hat gleich mit dem Vater wieder heimgehen und beim Melken helfen müssen.
Eigentlich hat er nur die Julia. Die ist zwar nur ein Mädchen und zwei Jahre älter, aber sie ist die Einzige, die zu ihm hält. Früher war der Hannes, der neue Knecht, sein Freund. Aber der gehorcht jetzt brav der Großmutter und hat ihr schon zweimal verraten, dass Heinz heimlich durch den Schlitz in der Remise geschlüpft und hinüber zum Dorfladen gelaufen ist. Das war, als die Mama noch dort gewohnt hat. Seitdem sie im »Raben« ein Zimmer hat, ist er nur ein einziges Mal bei ihr gewesen. Da hat ihm der Gustav, der jüngste Bub vom Rabenwirt, geholfen und seinen Vater abgelenkt, damit Heinz ungesehen die Stiege hinauflaufen konnte.
Inzwischen geht er ungern zu seiner Mama, weil sie ihn immer so fest an sich drückt und dabei weinen muss. Das macht ihm das Herz so schwer, dass er heulen muss, und dann kommt er ganz unglücklich und verzweifelt wieder heim und weiß nicht mehr, wohin er gehört. Aber solche Gedanken helfen nicht weiter, sie machen nur traurig und bringen schwarze Schatten in der Nacht. Heinz hat herausgefunden, dass es viel besser ist, zornig zu werden. Wenn man so richtig wütend ist, dann kann man die schwarzen Schatten mit den Fäusten verjagen, und es geht einem besser. Das hat er gemerkt, wie er einmal mit dem Koppel Hans zusammengerasselt ist. Da ist auf einmal ein gewaltiger Zorn über ihn gekommen, und er ist wie ein Wilder auf den Koppel Hans losgegangen, sodass der ganz überrascht war und sich ein paar kräftige Schläge eingefangen hat. Danach hat er sich freilich gewehrt, und Heinz hat den Kürzeren gezogen, weil der Koppel Hans vier Jahre älter ist. Aber trotz der Schrammen und Beulen ist ihm hinterher leichter gewesen. Der Zorn hilft auch bei den Erwachsenen, wo man nicht mit den Fäusten dreinschlagen darf. Da kann man innerlich zornig sein, im Herzen drinnen. Man kann sie hassen und schlecht von ihnen denken, dann wird alles auf einmal leichter, und man braucht nicht traurig zu werden.
Zum Beispiel hasst er jetzt die Ida, die ihn früher immer mitgenommen hat, wenn sie mit den anderen am Bach oder in den Wiesen unterwegs war. Was haben sie da für schöne Sachen gemacht! Boot sind sie gefahren, Kaiser haben sie gespielt, eine Hütte gezimmert, sogar ein Baumhaus droben im Wald gebaut. Aber seitdem sie nach Frankfurt in die Schule geht, kümmert sie sich nicht mehr um ihre Dingelbacher Freunde und hat sich auch auf dem Schützhof nicht mehr sehen lassen. Sie hat ihn verraten, die Ida, und das vergisst er ihr nicht. Er hasst auch den Adam, den Knecht, und die Oma Anni, die hinüber zum Grossmannhof gegangen sind. Früher war der Adam sein bester Freund und Kumpel, aber jetzt schuftet er sich für den Grossmann Fritz halb tot und hat für Heinz keine Zeit mehr. Die Oma Anni schaut zwar manchmal in den Hofeingang vom Schützhof und fragt, wie es ihm geht. Aber sie kommt niemals in den Hof hinein, weil sie Angst vor Großmutter Gertrud hat. Eigentlich hasst Heinz auch die Großmutter Gertrud und den Vater, aber nicht immer, weil sie jetzt freundlich zu ihm sind.
Die Mama zu hassen, ist das Schwierigste, weil er sie eigentlich lieb hat. Da muss er sich richtig hineinsteigern, um aus dem Kummer einen rettenden Zorn werden zu lassen. Da muss er sich aufzählen, was sie ihm alles antut. Warum hat sie ihn verlassen und wohnt jetzt drüben im »Raben«, wo er nicht zu ihr gehen darf? Warum kommt sie nicht auf den Schützhof zurück, um bei ihm zu sein? Dann brauchte der Vater nicht nach einer neuen Ehefrau Ausschau zu halten. Nach einer Stiefmutter, wie sie sagen. Wozu braucht er die? Er hat doch seine richtige Mutter!
Nein, es stimmt schon, in Wirklichkeit hat er nur die Julia. Das ist die Einzige, die er nicht hasst, weil sie immer lieb zu ihm ist und weil er merkt, dass es ihr auch nicht gut geht. Sie ist nicht so kräftig wie die anderen Mädchen, sie kriegt schlecht Luft und wird schnell müde. Das kommt, weil sie eine schwache Lunge hat, seit sie als kleines Kind einmal sehr krank gewesen ist, deshalb kann sie keine schweren Arbeiten verrichten. Ihr kleiner Bruder, der Kurt, lässt sie oft spüren, dass sie schwächer ist: Er hänselt sie, und manchmal schlägt er sie auch. Da hat Heinz dem Kurt schon ein paarmal gezeigt, dass er sich vor ihm in Acht nehmen muss, wenn er seine Schwester verprügeln will. Julia kommt oft herüber auf den Schützhof; manchmal bringt sie Spielsachen mit, die ihrem Bruder gehören und die sie heimlich mitgenommen hat. Das sind Sachen, die die Stadtkinder haben und die es hier auf dem Dorf nicht gibt, wie Zinnsoldaten oder Blechautos. Es ist zwar ein bisschen peinlich, dass er mit einem Mädchen spielt, aber mit Julia gibt es niemals Streit, sie ist immer geduldig, und wenn sie etwas nicht heben kann, weil ihr die Kraft fehlt, oder wenn sie Angst hat, die Leiter in der Scheune hinaufzuklettern, dann hilft er ihr.
Auch die Großmutter mag die Julia gern. Schon weil sie immer bereitwillig in der Küche hilft, aber auch, weil die Großmutter froh ist, dass er auf dem Hof bleibt, wenn Julia bei ihnen ist. Deshalb bekommt Julia auch immer von den Bonbons ab, die die Großmutter ihm schenkt.
Heute geschieht etwas Ungewöhnliches. Die Großmutter kommt mit der Einkaufstasche aus dem Haus und geht in die Scheune, wo Heinz und Julia sich gerade eine »Höhle« im Heu gebaut haben.
»Ei, ihr zwei«, sagt sie und lächelt recht freundlich. »Ihr könnt einmal in den Dorfladen laufen und ein paar Sachen für mich einkaufen.«
Heinz wundert sich sehr darüber, und auch Julia ist erstaunt. Seit wann kauft die Großmutter wieder im Dorfladen ein? Die schickt doch extra den Hannes einmal in der Woche mit dem Pferdefuhrwerk nach Oberursel, wo er für sie einkaufen muss. Und dazu hat sie allen Frauen im Dorf erlaubt mitzufahren.
»Ich hab’s auf den Zettel geschrieben«, sagt sie. »Waschpulver brauch ich und Bleiche, Salz und Reis für die Supp. Und in die beiden Flaschen soll die Herta euch je einen Liter Essig und Öl einfüllen. Könnter das auch tragen?«
»Leicht«, meint Heinz. »Die Julia nimmt das Waschpulver, den Rest trag ich in der Einkaufstasche.«
Die Großmutter hat das Geld abgezählt in ein Taschentuch gebunden und mit dem Zettel in die Einkaufstasche gelegt. Es ist zwar etwas schade, dass sie weggehen müssen, denn die Höhle ist gerade fertig geworden, und nachher hat er keine Zeit mehr zum Spielen, weil er beim Melken helfen muss. Aber er nimmt brav die Einkaufstasche und schwenkt sie hin und her, während er neben Julia auf die Dorfstraße hinausgeht.
»Da hat deine Großmutter ihren Zorn auf die Marthe Haller wohl vergessen«, meint Julia. »Das ist bestimmt so, weil deine Mama jetzt im ›Raben‹ und nicht mehr bei den Dorfladenfrauen wohnt.«
»Kann schon sein«, murmelt er.
Sie gehen bis zum Dorfanger und bleiben dort unter den Kastanien stehen, um hinüber zum Dorfladen zu schauen. Man kann durchs Schaufenster erkennen, dass zwei Kundinnen vor dem Ladentisch warten. Also wird es eine Weile dauern, bis sie dran sind. Julia nimmt Heinz die Einkaufstasche aus der Hand.
»Geh nur«, sagt sie leise. »Ich kauf ein und wart im Laden auf dich. Aber bleib net zu lang fort, ja?«
»Ich geh bloß in den Garten und winke ihr zu«, meint er. »Dann komm ich gleich zurück.«
Sie nickt und läuft mit der Tasche in der Hand über die Dorfstraße; dann steigt sie die Stufen zum Laden hinauf. Er hört noch die Ladenglocke klingeln, dann ist er schon an der Remise vom Dorfladen vorbei in die Gärten gerannt. Er muss beim Altmannhof über den Zaun steigen, um in den Garten vom »Raben« zu gelangen. Dort duckt er sich hinter die Johannisbeersträucher. Die Erna, die älteste Tochter vom Guckes Jörg, steht auf der Wiese und nimmt gerade die Wäsche von der Leine, da muss er warten, bis sie fertig ist und mit dem Korb ins Haus geht. Wie lang dauert das denn? Noch ein Hemd, ein Büstenhalter, drei Unterhosen und dann die Socken. Jetzt fällt ihr eine Wäscheklammer herab, und sie sucht sie auf der Wiese. Ist sie blind? Er kann die hölzerne Klammer ja von hier aus sehen!
Als die Erna endlich den Wäschekorb ins Haus trägt, steht er auf und winkt zum Fenster hinauf. Die Mama hat ihn längst gesehen, sie macht das Fenster auf und ruft leise: »Komm rauf, Heini! Sie sind alle vorn in der Gaststube …«
Aber er hat keine Lust. Erst muss er sich hochschleichen, dann knutscht die Mama ihn ab und weint, und wenn er wieder hinuntergeht, trifft er womöglich die Guckes Karin auf der Treppe. Die faucht ihn dann an, was er hier zu suchen habe, und schimpft, dass sie es seiner Großmutter erzählen will. Und außerdem darf er die Julia nicht zu lange warten lassen.
»Keine Zeit«, ruft er hinauf. »Geht’s dir gut, Mama?«
»Sehr gut geht’s mir, mein Schatz. Schau, was ich für dich hab.«
Sie verschwindet einen Moment und kommt mit einem kleinen Gegenstand zurück ans Fenster, den sie zu ihm herunterwirft. Er läuft eilig auf die Wiese und klaubt es auf. Ein kariertes Taschentuch, das sie für ihn genäht hat. Darin sind Himbeerbonbons aus dem Dorfladen.
»Dankschön Mama! Ich komm bald wieder.«
»Lass es dir schmecken, Heini. Und vergiss deine Mama net! Ich hab dich lieb, mein Bub.«
»Ich dich auch!«, sagt er ein wenig unwirsch und verschwindet zwischen den Johannisbeerbüschen. Immer schafft sie es, ihm das Herz schwer zu machen. Wieso glaubt sie, er würde sie vergessen? Das kann er doch gar nicht! Aber es wäre ihm viel lieber, wenn sie auf den Schützhof zurückkäme, anstatt dort oben in dem kleinen Zimmer zu hausen und Taschentücher zu nähen.
Im Dorfladen hat Julia schon alle Einkäufe bezahlt und in die Einkaufstasche gepackt. Die Frieda trägt ihr die schwere Tasche die Stufen hinab. Als Heinz hinter der Remise auftaucht, lächelt sie verschmitzt und meint: »Da ist ja dein Kavalier, Julia. Grad rechtzeitig, um die schwere Tasche zu tragen.«
Wenigstens sagt sie etwas Lustiges und lacht dabei fröhlich, obgleich sie genau weiß, wo er gewesen ist. Die mitleidigen Blicke der Dorffrauen hasst er, weil er sich dann wie ein ganz armer, bedauernswerter Junge fühlt und es ihn niederdrückt. Aber die Frieda ist eine, die gute Laune und Fröhlichkeit verbreitet. Hübsch ist sie auch. Mit Abstand das hübscheste Mädchen im Dorf. Dass Lehrer Hohnermann in sie verliebt ist, kann Heinz gut verstehen. Aber vermutlich gefällt der Schulmeister der Frieda nicht, weil er so viele Narben im Gesicht hat.
Als sie in den Schützhof hineingehen, sehen sie, dass dort ein grünes Automobil im Hof steht. Heinz weiß sofort, was für eines das ist, weil der Vater in der Küche Werbeprospekte von Autofirmen herumliegen hat.
»Ein Vier-PS «, sagt er fachkundig zu Julia. »Ein Opel Laubfrosch. So wird der genannt, weil er so grasgrün ist.«
Julia ist beeindruckt. Sie stellen die Einkaufstasche ab und gehen um das Automobil herum. Heinz versucht, das Lenkrad zu drehen, und schaut auf die Armaturen, wo man mehrere Knöpfe und zwei runde Sichtscheiben mit Zeigern sehen kann. Julia berührt mit den Fingern ehrfurchtsvoll das weiche Sitzpolster. Der »Laubfrosch« ist kleiner als das Automobil vom Altmann Schorsch, es können nur zwei Leute darin sitzen, hinten ist höchstens noch Platz für ein dünnes Kind. Aber er hat auch ein Verdeck, das man zurückklappen kann, und eine verstellbare Windschutzscheibe.
»Hat sich dein Papa das heute gekauft?«
»Kann sein«, überlegt Heinz.
»Das ist aber schon ganz dreckig«, stellt Julia fest. »Und da ist eine dicke Schramme am Schutzblech.«
»Stimmt«, sagt er. »Dann ist es nicht neu. Es gehört jemand anderem.«
Sie tragen die Einkäufe in die Küche und wundern sich, dass dort der Wasserkessel auf dem Herd kocht, aber niemand da ist. Dafür kann man Stimmen aus dem »guten Zimmer« vernehmen, das ist ein zweites Wohnzimmer, das nur benutzt wird, wenn besondere Gäste zu Besuch kommen. Dort stehen ein feines Sofa mit dunkelblauem Samtbezug und zwei Stühle, die dazu passen, daneben ein schwarzes Klavier. Auch ein schöner Teppich liegt auf dem Boden, und an der Wand hängen mehrere gemalte Bilder, die alle Berglandschaften und Hirsche zeigen. Das sind Sachen, die die Großmutter damals eingetauscht hat, als nach dem Krieg so viele Städter ins Dorf gekommen sind, die Speck, Butter und Eier gebraucht haben, weil es in der Stadt nichts zu essen gegeben hat.
»Gehst du rein?«, fragt Julia.
»Nee. Gehen wir lieber in unsere Höhle. Die werden sowieso gleich wieder wegfahren, weil wir doch melken müssen.«
Doch kaum sind sie auf dem Hof, da hören sie schon die Stimme der Großmutter. Sie klingt süßlich und aufgesetzt. »Heini? Komm doch einmal herein zu uns, Bub.«
Er hat eine düstere Ahnung und tut einen Seufzer. Julia versteht, dass sie jetzt unerwünscht ist, und meint: »Guude dann. Bis morgen.«
Er nickt ihr zu und bewegt sich ohne Eile zum Hauseingang. Da steht die Großmutter in der Sonntagstracht und mit einer frisch gebügelten Schürze.
»Da bist du ja, Bub. Da schau einmal, wer heut zu Besuch gekommen ist.«
Im guten Zimmer riecht es muffig, weil nie gelüftet wird. Auf dem Sofa sitzt ein Mann mit einem rötlichen Schnurrbart und wenigen Haaren auf dem Kopf. Er ist breit und stämmig, trägt eine dunkle Hose, ein weißes Hemd und eine Weste darüber. Neben ihm sitzt ein Mädchen, das trägt die Tracht aus einem der Nachbardörfer. Sie hat dunkle Augen und blondes Haar, und das Mieder steht oben ein Stück weit vor, weil sie da kräftig gebaut ist. Ihr Gesicht ist hübsch, die Nase klein, aber die Lippen rosig und voll.
»Das ist mein Heinz«, sagt der Vater und steht auf, um Heinz zum Sofa zu schieben, wo er den Gästen die Hand geben und einen Diener machen muss.
»Guude!«, sagt der Mann und drückt seine Hand so fest, dass es wehtut. »Du bist ja schon ein richtig großer Bub. Wie alt bist du denn?«
»Fast elf.«
Das Mädchen lächelt ihn freundlich an, ihr Händedruck ist sanft, aber sie hat harte Finger wie ein Mädchen vom Land.
»Soso. Du bist also der Heini. Ich bin die Marie Schäfer aus Heringsdorf. Und das ist mein Papa.«
Aha, jetzt weiß er wenigstens, wie die Besucher heißen. Gesehen hat er sie noch nie, aber er kann sich schon denken, warum sie gekommen sind.
»Gehört Ihnen das Automobil?«, erkundigt er sich.
Herr Schäfer fängt an zu lachen und meint zu Heinz’ Vater, dass sein Bub ein waches Bürschlein sei. Der Vater lacht auch, aber nicht so herzhaft wie der Besucher.
»Ja, das gehört mir, Heini«, sagt Herr Schäfer mit Besitzerstolz. »Wenn wir das nächste Mal kommen, darfst du einmal mitfahren.«
»Da machen Sie dem Heini eine große Freude«, meint die Großmutter, die sich inzwischen auf einen der guten Stühle gesetzt hat. Heinz bleibt stehen, weil es für ihn keinen Stuhl mehr gibt, und er fühlt sich sehr unbehaglich. Die Erwachsenen reden noch ein Weilchen über die Landwirtschaft, man klagt über die Trockenheit, die für das Korn nicht gut ist und auch die Wiesen nicht hochwachsen lässt, sodass der zweite Schnitt, das Grummet, wohl schwach ausfallen wird. Das Mädchen, das Marie heißt, spricht nur wenig, aber der Vater schaut immer wieder zu ihr hin und hat glänzende Augen dabei.
»Alsdann«, sagt schließlich Herr Schäfer, klopft sich auf die Schenkel und steht vom Sofa auf. »Am Montag schaut ihr bei uns vorbei, und ich denk, wir werden uns wohl einig werden.«
»Das mein ich auch!«, gibt der Vater zurück, wobei er Marie ganz seltsam anlächelt und dabei mit den Augenbrauen wackelt. Die Großmutter sagt nichts, aber sie verabschiedet die Gäste mit gestelzten Worten und sagt, es sei ihr eine Freude gewesen, dass sie zu Besuch gekommen seien.
Auf dem Hof hilft der Vater der Marie Schäfer beim Einsteigen und stützt sie, als ob sie den Fuß nicht allein auf das Trittbrett setzen könnte. Sie lässt es sich gern gefallen und beugt sich dabei ein bisschen vor, sodass er in ihr Mieder hineinschauen kann, wo die oberen Knöpfe der Bluse offen stehen. Weil es heut ja wieder so heiß ist.
Dann lässt Herr Schäfer den Wagen an, der gleich fürchterlich rattert und zittert. Er fährt ein Stück zurück, wobei er den Handwagen streift, auf dem die blechernen Gießkannen für den Gemüseacker stehen. Es rappelt laut, zwei Kannen fallen herunter, und die Hühner laufen verschreckt über den Hof, dass die schwarze Henne unter das Automobil gerät. Aber weil die Räder so hoch sind und die Henne sich platt auf den Boden duckt, passiert ihr nichts. Draußen auf der Dorfstraße ist der Opel 4 PS rückwärts gegen den Dorfbrunnen gestoßen, wo der Adam gerade den Wallach vom Grossmann Fritz tränkt. Der Wallach tut einen Sprung, weil er sich erschrocken hat, und der Adam fängt an zu schimpfen.
»Wennste net fahre kannst, dann bleib dehaam, dabbisch Rindvieh!«
»Halt den Gaul fest und tu net blöd daherschwätze!«, ruft Marie, während ihr Vater am Lenkrad dreht und das Auto knackt und pufft. Dann hat er den Vorwärtsgang endlich wieder eingelegt, kriegt die Kurve, und der »Laubfrosch« hüpft über die holprige Dorfstraße in Richtung Oberursel davon.
Die Großmutter ist wieder ins Haus gelaufen, um das alte Mieder anzulegen und den Stallkittel darüberzuziehen. Der Vater aber steht zornig am Dorfbrunnen und streitet mit dem Adam, der früher einmal Knecht auf dem Schützhof gewesen ist, jetzt aber beim Grossmann Fritz arbeitet.
»Meine Gäste sind’s. Die hast du höflich zu behandeln!«
»Einen Dreck! Wer net Auto fahren kann und mir den Wallach scheu macht, der kriegt sein Fett ab. Und wenn’s der Reichspräsident persönlich ist.«
»Dir wird die Lust am Schlechtschwätzen schon noch vergehen! Wenn der Grossmannhof erst unterm Hammer ist, dann kannst du schaun, wo du bleibst!«
»Das wird so schnell net passiern, Schützbauer. Und wenn du zerplatzt«, sagt der Adam gelassen und führt den Wallach hinüber in den Grossmannhof.
Heinz dreht sich um und läuft rasch in den Stall, wo die Großmutter schon mit dem Hannes herumkeift, weil er jetzt erst mit dem Melken angefangen hat. Schweigend nimmt er sich Eimer und Schemel und geht zur Loni, die schon ungeduldig darauf wartet, dass ihr pralles Euter leer gemolken wird.
Später, als die Milch gesiebt und abgefüllt ist, geht Heinz in die Küche. Da sitzt der Vater am Tisch und schaut sich die Prospektblättchen von den Automobilen an.
»Na, Bub«, sagt er. »Wie hat dir die Marie gefallen?«
»Wird die meine Stiefmutter werden?«, will Heinz wissen.
»Könnt schon sein«, gibt der Vater zurück und lächelt versonnen.
Heinz hüllt sich in Schweigen. Er will keine Stiefmutter. Auch wenn sie so hübsch und freundlich ist wie die Marie. Aber wenn er das dem Vater sagt, wird der zornig werden. Daher fragt er jetzt, ob der Vater sich vielleicht ein Automobil kaufen will.
»Warum net? Dass der Altmann Schorsch immer mit seinem angeberischen Blechkasten durchs Dorf fährt, das stört mich schon lang. So ein Automobil, das ist auch praktisch, da musst du net die Gäul anspannen, da setzt du dich hinein und fährst vierspännig davon. Weil das Automobil die Kraft von vier Gäulen hat, Heini.«
»Da gibt’s auch welche mit zwölf Gäulen, Papa.«
Der Vater lacht und meint, es müsste ja net gleich ein Rennwagen sein. Dann kommt die Großmutter in die Küche, und der Vater legt die Prospektblätter aufeinander und steckt sie in den Kasten unter der Sitzbank. Weil die Großmutter immer sagt, dass sie so etwas Neumodisches wie ein Automobil nicht brauchen würden.
Nach dem Abendbrot schickt der Vater ihn hinauf in seine Kammer. Er soll früh schlafen gehen, weil sie morgen die Wintergerste mähen wollen und die Sense beim Mähen der Gerste mit mehr Kraft geschwungen werden muss als beim Heumachen. Darum soll er sich gut ausruhen, um morgen frisch bei der Arbeit zu sein.
Es ist heiß oben in der Kammer, und Heinz ist nicht müde. Er sitzt auf seinem Bett und kämpft mit den Schatten, die schon in den Zimmerecken hocken, um in der Nacht über ihn herzufallen.
»Haut ab!«, sagt er zu den schwarzen Gestalten. »Ich brauch euch nicht. Mir geht es gut. Und wenn die Marie meine Stiefmutter wird, dann ist es auch egal. Weil ich ja eine richtige Mutter habe. Und dazu noch die Julia.«
Aber die Schatten wollen sich nicht vertreiben lassen. Sie werden länger und schieben sich lautlos ins Zimmer hinein, legen sich über die Dielenbretter am Fußboden und kriechen zu seinem Bett.
Er überlegt, wen er hassen könnte, damit er die Schatten wieder in ihre Ecken drängt. Am besten den Herrn Schäfer mit seinem dicken roten Schnurrbart. Was hat er auf dem schönen Sofa im guten Zimmer zu sitzen mit seinem fetten Hintern? Und wieso fragt er ihn, wie alt er ist, wo er das ganz bestimmt längst gewusst hat? Das ist ein widerlicher Kerl, auf den kann man richtig wütend sein. Wenn der noch mal auf den Hof kommt, wirft er ihm einen Knallfrosch vor die Füße, dann springt er vor Schreck!
Da wird er in seinen Bemühungen unterbrochen, denn aus der Küche dringt die Stimme der Großmutter bis zu ihm hinauf.
»Was hat der schon? Ein Großkotz ist der. Kaum fünf Hektar Land – aber ein Automobil muss er fahren!«
»Und wenn schon!«, ruft der Vater ärgerlich. »Land hab ich selber, das braucht sie net einbringen. Und ein Automobil kann ich mir auch leisten. Da muss ich net hinter ihrem Vater zurückstehn!«
Heinz geht zur Kammertür und hält das Ohr dagegen. Sie streiten. Wie es scheint, ist die Großmutter mit der Marie nicht einverstanden.
»Ein Automobil willst dir anschaffen?«, ruft sie jetzt aufgeregt. »Ja, hat dir das Weib das Hirn ganz und gar verdreht? In Unkosten willst du uns stürzen, bloß um bei dem Weibsbild Eindruck zu schinden?«
»Was schwatzt du da für dumm Zeug, Mutter«, regt sich der Vater auf. »Ein Automobil, das will ich schon lang anschaffen, das hat nichts mit der Marie zu tun.«
»Das kannst du mir net erzählen, Otto. Ich bin deine Mutter, ich kenn dich in- und auswendig. Verhext hat sie dich, die schöne Marie. Weil sie so drall ist und dabei so sanft wie ein Lämmlein tut. Ich seh’s doch, wie dir die Augen aus dem Kopp fallen, wenn du sie anschaust …«
»Ein kräftiges Mädel vom Land ist sie«, sagt der Vater. »Grad das, was wir hier auf dem Hof brauchen. Und wenn sie auch sonst gut beieinander ist, dann kann das net schaden, weil wir noch Kinder in die Welt setzen wollen. Oder hast du geglaubt, ich wollt mich schon aufs Altenteil hocken?«
»Das hab ich net gesagt, Otto. Aber eine, die dich am Gängelband führt, weil du die Händ net von ihr lassen kannst – die brauchen wir net hier auf dem Hof.«
»Ich werd meine Händ schon gebrauchen«, sagt der Vater. »Aber am Gängelband lass ich mich net führn. Ich bin der Bauer auf dem Hof und hab zu bestimmen, und die Marie hat sich zu fügen. So ist die Ordnung, und das weiß die Marie.«
»Mit meinem Willen kommt die net auf den Hof, Otto!«, sagt die Großmutter.
Einen Moment lang ist es still in der Küche, und Heinz denkt schon, dass sie jetzt gleich wieder zu reden anfangen. Aber da hört er die Küchentür schlagen und die schweren Tritte des Vaters auf der Stiege. Eilig springt er in sein Bett, ringelt sich zusammen und zieht das Laken hoch. Aber der Vater kommt nicht zu ihm hinein, sondern er reißt die Tür der Elternschlafkammer auf und macht sie mit einem festen Ruck hinter sich zu.
Heinz streckt sich auf dem Bett aus. Draußen ist es immer noch hell, die Abendvögel singen ihre Lieder, am offenen Fenster spielt der Wind mit den Vorhängen. Die Schatten haben sich wieder in ihre Ecken verkrochen. Es ist keine Gefahr. Wenn die Großmutter die Marie nicht will, dann wird sie auch nicht seine Stiefmutter werden.