Kapitel 8
Es ist Mittagspause in der Schauspielschule. Frieda und Annemarie haben sich ein Plätzchen auf der Grünanlage vor dem Schauspielhaus gesucht, wo man im Schatten der Bäume recht angenehm im Gras sitzen kann. Auch Harry hat sich zu ihnen gesellt, er hat frische Brezeln gekauft und bietet die Tüte den Mädchen großmütig an. Annemarie hat »Krümmelkuchen« von daheim mitgebracht, und Frieda versorgt alle mit kaltem Milchkaffee, den sie in einer verkorkten Weinflasche nach Frankfurt schleppt. Dazu bietet sie Dörrpflaumen und saure Bonbons aus dem Laden an. Seitdem sie das Stipendium erhält, ist die Mutter in diesen Dingen großzügig. Es gefällt ihr, dass Frieda nicht mehr im Café herumsitzt und Geld ausgibt, sondern sich die mitgebrachten Lebensmittel mit ihren Kameraden teilt.
Inzwischen sind sie nur noch zu fünft im Jahrgang. Der schlaksige Jonny Berthold und der nette Kurt Bacholski haben nach der Zwischenprüfung gesagt bekommen, dass sie sich besser einem anderen Beruf zuwenden sollten. Geblieben ist der große, langsame Rudolf Stimpel, ein Eigenbrötler, der sich meist abseits hält, auf der Bühne jedoch großartig aus sich herausgehen kann und dann ein ganz anderer wird. Auch der schmale, sommersprossige Erwin Kreuzer ist noch im Jahrgang, aber der ist vom Ehrgeiz geplagt und sitzt immer im Café bei den Schauspielern, um sich anzubiedern.
»Im September geht’s wieder los«, meint Harry kauend. »Ich darf beim Schinderhannes mitmachen und in der Katalaunischen Schlacht vom Arnolt Bronnen.«
»Schade, dass sie so wenige Klassiker bringen«, seufzt Annemarie. »Immer das moderne Zeug, wo die Leute hinterher im Theater streiten und die Schauspieler auspfeifen.«
»Du würdest wohl gern das Gretchen aus dem Faust spielen, wie?«, neckt sie Harry. »Das ist doch deine Paraderolle.«
»Irgendwann spiele ich die auch!«, meint Annemarie zuversichtlich und schiebt sich das letzte Stück der Brezel in den Mund.
Natürlich bleiben für die Schauspielschüler in den Aufführungen nur winzige Nebenrollen, fast immer ohne Text. Sie werden dort eingesetzt, wo »Volksszenen« zu spielen sind, stehen stumm im Hintergrund, laufen als Vagabunden, Elfen oder in anderen Verkleidungen über die Bühne. Oft werden sie auch im Opernhaus gebraucht und natürlich im Weihnachtsmärchen. Aber immerhin wird man geschminkt und in ein Kostüm gesteckt, man lernt die Disziplin des Schauspielers, der pünktlich und zuverlässig am Platz sein muss, ganz gleich, ob er die große Hauptrolle oder eine kleine Charge zu spielen hat. Der Theaterbetrieb ist genau durchgeplant, jeder weiß, was er zu tun hat, einer muss sich auf den anderen verlassen können.
»Wird eigentlich der Tannhäuser im Opernhaus wieder aufgenommen?«, fragt Harry anzüglich und grinst Frieda an.
Sie schnippt den Zwetschgenstein, an dem sie gerade lutscht, in seine Richtung. Er bleibt an seinem Hemd kleben, das gibt einen Fleck. Geschieht ihm recht!
Harry hat noch nicht vergessen, dass er sie letzten Sommer auf dem Dach des Theatergebäudes küssen durfte. Seitdem hat sich Frieda jedoch niemals wieder so entgegenkommend gezeigt, sodass er wohl zu der Überzeugung gekommen ist, dass er ihr nicht gefällt. Das hat ihn eine Weile ziemlich deprimiert. Aber er ist ein guter Kerl und hat sich inzwischen damit abgefunden, dass sie einfach nur Freunde sind. Wobei ihn öfter die Lust packt, die hübsche Frieda mit einem frechen Spruch herauszufordern.
»Hör doch endlich damit auf, Harry«, schimpft Annemarie, die stets auf Friedas Seite ist. »Das ist jetzt einmal vorbei und gegessen.«
Frieda schweigt dazu. Vorbei ist diese dumme Geschichte leider immer noch nicht. Wie hat sie sich nach den langweiligen Ferien in Dingelbach wieder auf die Schauspielschule gefreut! Aber gleich am ersten Tag hat ihre Lehrerin Mathilde Einzig sie beiseitegenommen und ihr eine fulminante Strafpredigt gehalten.
»Es war sogar im Gespräch, dir das Stipendium zu nehmen und dich von der Schauspielschule zu relegieren. Einige Kollegen haben das vehement gefordert, aber wir haben die Sache noch einmal regeln können. Jetzt erwarte ich von dir strengste Disziplin und den nötigen Ernst bei der Sache. Ist das klar, Frieda Haller?«
»Ja, Frau Einzig«, hat sie kleinlaut geantwortet.
»Ich halte viel von dir, Mädchen«, hat die Lehrerin in milderem Ton weitergesprochen. »Deshalb habe ich mich für dich eingesetzt. Aber so etwas darf nie wieder vorkommen!«
»Ich versprech’s Ihnen, Frau Einzig.«
»Gut. Dann geh jetzt in den Unterricht!«
Frieda ist der Meinung gewesen, dass man viel zu viel Aufhebens um diese Geschichte macht. Schließlich war es keine böse Absicht gewesen, nur ein dummer Unfall. Weil sie halt manchmal ein wenig albern ist und zu Scherzen aufgelegt, wobei die meisten Ausbilder – vor allem die männlichen – ihre vorlauten Sprüche mögen. Sie nennen sie »charmant«. Bei dieser Sache war es allerdings anders, da waren alle sehr aufgebracht, und sie hat sich einiges anhören müssen.
Es ist im März gewesen, bei einer der letzten Aufführungen des Tannhäuser von Richard Wagner im Opernhaus. Sie und Annemarie waren im ersten Akt als »leichte Mädchen« in der Venusbergszene eingesetzt, da hatten sie in weißen Flattergewändern mit wehendem Haar ein paarmal durch die Kulisse zu hüpfen, das war der ganze Auftritt. Vor ihnen waren die Tänzerinnen dran, die standen schon hinter der Bühne in Position, nur mit einem Büstenhalter und einem flatternden Höschen bekleidet. Weil im Venusberg ja die Sinnlichkeit zu Hause ist und der kleine, dicke Tannhäuser von der großen, fetten Venus umgarnt werden soll. Opernsänger haben halt selten die Statur, die sie für ihre Partien eigentlich haben sollten. Frieda war nicht bei der Sache, schon weil sie die schwermütige Musik nicht leiden kann, aber auch, weil sie diesen Auftritt für eine Schauspielerin albern fand. Die Tänzerin vor ihr wartete allerdings hoch konzentriert auf ihren Auftritt, sie hat den Kopf gehoben und ein Bühnenlächeln aufgesetzt, dazu die Arme zurückgebogen, dass die Schulterblätter vorstanden. Dadurch war ein kleiner Abstand zwischen der Strippe vom Büstenhalter und dem Rücken der Tänzerin entstanden, und Frieda hat den Finger hineingesteckt. Einfach so aus Spaß. Annemarie hat neben ihr gestanden und leise gekichert, aber da hat die Tänzerin auf einmal ihren Einsatz gehabt, und Frieda hat sich mit dem Finger in der Strippe verhakt. Der Büstenhalter ist geplatzt, und die Tänzerin ist barbusig auf die Bühne gesprungen. Natürlich hat sie es gleich gemerkt und ist zurückgegangen, und das Publikum hat gar nichts mitbekommen, weil das Orchester ja gespielt und die dicke Venus gesungen hat. Aber hinterher war die Tänzerin, Sophie Künzel heißt sie, furchtbar wütend und hat sich beim Intendanten beschwert. Da wurde Frieda vor den großen Opernchef zitiert, und der hat ein entsetzliches Theater gemacht. Vor allem, weil die Tänzerin mit einem der Opernsänger verheiratet ist und ihr Ehemann sich aufgeregt hat, dass sie ohne Büstenhalter auf der Bühne gestanden hat. Dabei war – wenn man’s genau nimmt – gar nicht viel zu sehen.
»Das wird Folgen für Sie haben, Fräulein Haller!«
Aber er ist nur der Chef vom Opernhaus und nicht vom Schauspiel. Frieda hat nach diesem Anpfiff schon geglaubt, die Sache sei vergessen, weil sie nichts mehr davon gehört hat, und sie hat sich in den folgenden Monaten sehr brav benommen. Leider hat sie sich geirrt, denn es muss hinter den Kulissen einen ziemlichen Streit um sie gegeben haben.
»Ich könnt mich totärgern, dass ich net dabei gewesen bin«, sagt Harry, der einen Mordsspaß hat, Frieda damit aufzuziehen. »Da hätten die Zuhörer eigentlich extra zahlen müssen.«
Frieda geht nicht darauf ein. Sie zieht ein Bündel Notenblätter aus dem Proviantbeutel und vertieft sich ins Lesen. Oder vielmehr ins Anschauen, denn sie kann sich unter den Noten nicht viel vorstellen, sie müsste die Musik hören.
»Komponierst du jetzt auch?«, will Harry neugierig wissen.
»Nein. Das sind die ›Songs‹ für mein Theaterstück. Die hat ein Bekannter für mich geschrieben.«
Von dem Theaterstück, an dem sie arbeitet, hat sie den Freunden schon erzählt. Zuerst haben sie gelacht und es für eine ihrer »Marotten« gehalten, aber dann hat sie ihnen geschildert, um was es geht, und sie haben auf einmal Feuer gefangen.
Es geht um ein Auto. Das finden alle großartig, weil eigentlich jeder von ihnen heimlich davon träumt, ein eigenes kleines Auto zu besitzen. Am besten den neuen Opel 4 PS , der von allen »Laubfrosch« genannt wird, weil er grün ist. Seit dem vergangenen Jahr kann man ihn kaufen, und es fahren schon etliche »Laubfrösche« in Frankfurt herum. Neidische und begehrliche Blicke folgen ihnen, weil sich viele Menschen kein Auto leisten können. Der 4 PS kostet um die 4500 Rentenmark – das ist sehr viel Geld, man kann sich ein Haus davon kaufen. Und doch: Was für eine Vorstellung, sich einfach hinters Steuer zu setzen, aufs Gas zu treten und zu fahren, wohin es einem gefällt. Ohne Bahn und ohne Fahrkarte. Schöner geht’s gar nicht.
»Automobile sind doch was für Männer«, lästert Harry. »Frauen können gar nicht Auto fahren.«
Jetzt kommt die geballte weibliche Empörung über sein armes Künstlerhaupt. Beide, Frieda und Annemarie, fallen aufgebracht über ihn her.
»Nicht Auto fahren? Frauen können sogar Flugzeuge fliegen! Das kannst du bei den Flugschauen auf dem Rebstockgelände sehen, du blinder Maulwurf!«
»Aber von der Technik verstehen sie nichts«, wehrt sich Harry.
»Phhh! Die Zündkerzen muss ich wechseln können, das ist ja wohl eine Kleinigkeit!«, sagt Frieda.
»Erst mal musst du wissen, wo die überhaupt sitzen, und die Motorhaube aufkriegen.«
»Und? Wo sitzen die Zündkerzen?«, stellt sie ihn auf die Probe.
»Na, im Motor eben …«
Es ist klar, dass er selber keine Ahnung hat, wie ein Automotor ausschaut. Aber wie alle Männer bildet er sich ein, die Technik sei eine männliche Domäne und Frauen seien zu dumm dazu.
»In meinem Theaterstück gibt es jedenfalls Frauen, die ein Auto fahren können«, stellt Frieda klar.
»Und, hast du es fertig geschrieben?«, erkundigt sich Annemarie.
»Beinahe!«, prahlt Frieda. »Der erste Entwurf steht. Mit Dialogen. Es muss halt noch dran gearbeitet werden. Und die ›Songs‹ muss ich hineinpassen.«
In Wirklichkeit hat sie während der letzten Ferientage kaum noch daran gearbeitet. Zweimal ist sie bei Lehrer Hohnermann gewesen und hat ihm gezeigt, was sie geschrieben hat. Er ist von ihrer Idee, ein modernes Lustspiel mit Gesangseinlagen zu verfassen, ganz begeistert gewesen und hat sich auf ihren Wunsch hin bereitwillig ans Komponieren gemacht. Aber dann ist sie nicht mehr zu ihm hinübergegangen, weil sie mit den Gedanken schon wieder in Frankfurt war. Die Noten hat er gestern nach der Schule in den Dorfladen gebracht, damit die Mutter sie ihr gibt.
»Gesungen wird auch?«, fragt Annemarie, die eine hübsche Singstimme hat.
»Klar. Dafür hat Hohnermännchen ja die Musik geschrieben.«
»Und wie soll das Stück heißen?«
Frieda und der Laubfrosch , sagt Harry und will sich kaputtlachen.
Der verachtungsvolle Blick, den Frieda ihm zuwirft, spricht Bände. Er hört auf zu lachen und behauptet, so habe er es nicht gemeint, er finde ihre Idee ja grundsätzlich famos und habe nur ein paar dumme Scherze gemacht. »Was habt ihr heute Abend vor?«, erkundigt er sich.
Frieda hat vorhin erzählt, dass sie heute Abend mit Annemarie eine »wichtige Veranstaltung« besuchen will.
»Wir gehen mit meinen Eltern in ein Konzert vom Verein für Theater- und Musikkultur«, sagt Annemarie. »Da werden Stücke des Komponisten Hindemith aufgeführt.«
Frieda nickt zustimmend. Sie hat für dieses Konzert die mütterliche Erlaubnis, bei Annemarie zu übernachten, weil sie ja so spät am Abend nicht mehr mit der Vorstadtbahn nach Dingelbach fahren kann. Die Mutter hat es vor allem deshalb gestattet, weil sie gemeinsam mit Annemaries Eltern dorthin gehen werden.
»Wie öde!«, meint Harry mit bedauernder Miene. »Ich geh heute Abend in den Palmengarten. Da findet eine Modenschau statt.«
»Eine Modenschau? Und so was interessiert dich?«, staunt Annemarie. »Da ist doch nur was für Frauen.«
»Na und?«, grinst er. »Wenn Frauen jetzt Auto fahren, dann können sich Männer auch eine Modenschau anschauen, oder? Und außerdem gibt’s danach die Wahl zur ›Miss Frankfurt‹.«
Höhnisches Gelächter folgt auf diese Ankündigung. Eine Misswahl! Na klar, er will sich hübsche Mädchen anschauen, der Harry. Es hilft ihm wenig, dass er nun erklärt, dies sei eine seriöse Veranstaltung des Vereins für »Schönheit und Körperkultur«, die er nur aus reinem Interesse an ihrem kulturellen Wert besuche.
»Du willst die Mädchen im Badeanzug angaffen. Gib’s doch zu!«
»Quatsch! Die kommen im langen Abendkleid. Das sind doch keine Revuegirls, sondern anständige Frankfurter Mädchen. Es geht nur um die Schönheit …«
Er unterbricht sich, weil der rothaarige Erwin Kreuzer auf dem Weg vom Café zum Schauspielhaus bei ihnen haltgemacht hat.
»Wollt ihr hier sitzen bleiben? Da wird sich der Engels aber wundern.«
Ach, herrje! Es ist fast zwei Uhr, gleich fängt der Unterricht in Sprechtechnik bei Alexander Engels an, danach haben sie »Rhythmischen Tanz« und dann Ensemblespiel bei der Einzig. Hastig raffen sie Tüten und Einwickelpapier zusammen, Harry trinkt den letzten Schluck Milchkaffee aus der Flasche, und Annemarie jammert, dass ihr weißes Kleid nun doch einen grünen Grasfleck abbekommen hat.
»Auf jeden Fall wachsen im nächsten Jahr hier viele Pflaumenbäume«, meint Frieda. »Wir haben alle Steine auf die Wiese gespuckt.«
Der Unterricht in Sprechtechnik ist anstrengend, weil sie immer wieder die »Bauchatmung« üben müssen. Dafür lernen sie eine Menge antiker Theaterstücke kennen, und Frieda freut sich immer wieder an der schönen Sprache der antiken Chöre. Unangenehmer ist es, wenn sie einzeln antreten müssen und auf Fehler aufmerksam gemacht werden. Vor allem die Scherze über ihre angeblich zu »weiche Aussprache der Konsonanten« ärgern sie. Dann heißt es, sie »dingelbachert« schon wieder. Heute fällt ihr auch auf, dass Leopoldine Müller sie beim rhythmischen Tanz ständig vorführt, weil sie sich angeblich »affektiert und unnatürlich« bewegen würde. Die ist bestimmt mit der Sophie Künzel befreundet, denkt Frieda beklommen. Wahrscheinlich war sie eine von denen, die mich rausschmeißen wollten.
Nach dem Unterricht bekommt sie Beistand von Harry, der sowieso nie ein Freund von rhythmischem Tanz gewesen ist.
»Die hat’s aber auf dich abgesehen«, meint er mitfühlend.
Weil sie ihn nun dankbar anschaut, macht er ihr gleich einen Vorschlag, den er vermutlich schon die ganze Zeit über in seinem Herzen bewegt.
»Was hältst du davon, wenn ich euch zwei nach dem Konzert abhole, und wir schauen uns zusammen die Misswahl im Palmengarten an?«
»Du spinnst wohl! Das erlauben Annemaries Eltern nie und nimmer.«
»Warum denn nicht? Zwei Mädchen und ein Beschützer. Was kann da schon passieren? Ein gutes Stündchen – dann begleite ich die Damen selbstverständlich zurück nach Hause.«
Frieda zuckt mit den Schultern. Eigentlich findet sie die Idee gar nicht schlecht. Sie war schon einmal mit Annemarie auf einem Konzert des »Vereins für Theater- und Musikkultur«, da hat sie geglaubt, die würden Jazzmusik aufführen. Aber was zu hören war, erschien ihr ziemlich kraus und überhaupt nicht angenehm. Beinahe schlimmer als Richard Wagners düsterer Tannhäuser. Bei einer Misswahl spielt vielleicht eines dieser Jazzorchester, die sie schon ein paarmal auf Theaterfesten gehört hat. Es hat ihr großartig gefallen, weil es so »swingt« und man die neuen Tänze danach tanzen kann. Eigentlich könnte sie sich das mal gönnen, wo sie schon die ganzen Theaterferien über in Dingelbach hat sitzen müssen.
Nach dem Ensembleunterricht steigt sie mit Annemarie in die Linie 25, und sie fahren bis zum Gärtnerweg, das ist gleich beim Hoch’schen Konservatorium. Annemaries Eltern besitzen dort ein kleines Haus, der Vater ist Beamter beim Schulamt. Sie ist das einzige, heiß geliebte und umsorgte Kind ihrer Eltern, hat Klavierunterricht und Geigenunterricht bezahlt bekommen und darf mit den Eltern ins Theater gehen, weil die ein Abonnement im Schauspielhaus haben.
»Wenn Harry uns abholt und wieder nach Hause begleitet, ist doch eigentlich nichts dabei«, findet Annemarie. »Ich sage meinen Eltern, das sei eine Modenschau, die wir uns ansehen sollen. Weil wir doch auch moderne Theaterstücke spielen und man da richtig angezogen sein muss.«
»Und das glauben die dir?«
»Bestimmt!«
»Na gut, versuchen wir’s«, meint Frieda. »Wenn’s überhaupt klappt. Vielleicht ist die Misswahl ja längst vorbei, wenn das Konzert zu Ende ist.«
Annemaries Eltern sind unfassbar liebe Menschen, die Frieda wie eine eigene Tochter bei sich aufnehmen. Die mollige, redselige Frau Stumpf geht ganz in der Sorge für ihre kleine Familie auf, hält emsig das Haus in Ordnung, kann gut kochen und näht nebenbei hübsche Kleider für die Tochter. Herr Stumpf ist eher schweigsam, freut sich aber an den lebhaften Gesprächen am Abendbrottisch und meldet sich nur dann zu Wort, wenn eine Entscheidung gefällt werden muss. Er ist auch derjenige gewesen, der Annemaries Herzenswunsch, Schauspielerin zu werden, unterstützt hat, während die Mama diesen Beruf eigentlich als etwas anrüchig betrachtet hat. Frieda beneidet ihre Freundin um dieses liebevolle Elternhaus mit Vater und Mutter, in dem Bildung, Kunst und Kultur immer großgeschrieben wurden. Vieles, was sich Frieda, das Dorfkind, erst mühsam aneignen muss, hat Annemarie schon als Kind geboten bekommen.
Für das Konzert hat sich Frieda extra ein dunkles Kleid mitgebracht, das Helga für sie genäht hat. Sie gehen zu Fuß hinüber zum Hoch’schen Konservatorium, wo Familie Stumpf verschiedene Bekannte begrüßt, die ebenfalls für Neue Musik aufgeschlossen sind. Frieda wird als »eine liebe Freundin meiner Tochter« vorgestellt. Dann nehmen sie ihre Plätze ein, und auf dem Podium erscheinen vier junge Musiker. Einer setzt sich an den Flügel, die anderen drei spielen Geige, Bratsche und Cello. Es klingt grauenhaft in Friedas Ohren, fast noch schlimmer als beim letzten Mal. Da hatte man noch das Gefühl, eine Melodie herauszuhören, aber das hier sind nur lauter schmerzhafte Dissonanzen.
Zum Glück dauert die Vorstellung nur eine knappe Stunde – länger hätte es die Mehrheit des kunstbeflissenen Publikums auch nicht ausgehalten. Der Beifall ist gemessen, nur einige begeisterte junge Leute fordern eine Zugabe, die bereitwillig gegeben wird. Aber da haben die anderen Zuhörer schon den Raum verlassen.
»Alles hat seine Grenzen«, bemerkt Herr Stumpf. »Man ist ja der Moderne gegenüber aufgeschlossen, aber ein wenig musikalischer Genuss sollte doch dabei sein.«
»Mir klingeln immer noch die Ohren«, sagt Frau Stumpf. »Mich wundert es, dass diese jungen Leute nicht gehörkrank werden.«
Als sie die Außentreppe des Konservatoriums hinuntergehen, steht dort tatsächlich Harry Baumann im schicken Abendanzug und wartet auf seine beiden Begleiterinnen. Er wird freundlich begrüßt, man kennt sich bereits, und Herr Stumpf legt dem jungen »Kavalier« ans Herz, die Tochter nebst Freundin zeitig wieder nach Hause zu begleiten. Frau Stumpf bemerkt, dass sie schon überlegt hat, ob sie sich die Modenschau nicht ebenfalls ansehen sollte, da sie ja als Schneiderin sehr an der neuen Mode interessiert ist.
»Aber es ist mir doch zu spät für heute«, sagt sie dann und hakt sich bei ihrem Ehemann ein.
Harry – ganz der Schauspieler – zeigt seine Erleichterung mit keiner Miene, sondern erklärt, dies sei »sehr schade«. Man verabschiedet sich, und sie laufen zu dritt durch die nächtliche Stadt zum Opernplatz, wo sie in die »Elektrische« zum Palmengarten einsteigen.
»Kommen wir überhaupt noch rechtzeitig?«, erkundigt sich Annemarie, die inzwischen von schlechtem Gewissen geplagt wird.
»Na klar. Die Misswahl hat gerade erst angefangen, als ich weggegangen bin. Und außerdem wird es ein Weilchen dauern, bis alle Kandidatinnen durch sind. Es sollen über hundert Bewerberinnen sein.«
»Ach, herrje!«, meint Frieda. »Dann dauert das Ganze wohl länger als eine Stunde.«
»Dann gehen wir eben früher«, beruhigt sie Harry. »Ich will auf keinen Fall, dass ihr Ärger bekommt.«
Der Palmengarten ist eine botanische Anlage im Stadtteil Westend bei Bockenheim, gleich neben dem Grüneburgpark. Man kann dort zwischen Beeten und Teichen spazieren gehen und exotische Pflanzen in hohen Hallen aus Glas und Eisen bewundern, die den Bauten der Pariser Weltausstellung nachempfunden sind. Gleich am Eingang steht das »Gesellschaftshaus«, ein weißes Gebäude, in dem es eine Festhalle mit einer Bühne gibt. Frieda ist schon einmal mit der Großmutter zu einer Aufführung dort gewesen und hat den schönen Saal mit der Stuckdecke und dem gläsernen Deckenfenster sehr bewundert. Die Großmutter hat ihr allerdings bekümmert erzählt, dass der Bau früher sehr viel besser in Schuss gewesen sei und eigentlich einer gründlichen Renovierung bedürfe. Leider fehle es an Geld.
Als sie ankommen, erstrahlt das Gebäude in voller Beleuchtung – ein großartiger Anblick, weil sich die Lichter in dem runden Wasserbecken der Außenanlage spiegeln. Am Eingang muss Harry dem Portier die Eintrittskarten vorzeigen, die er für sie besorgt hat. Laute Musik dringt aus dem Saal zu ihnen, leider keine Jazzmusik, es klingt eher nach schmetternden Volksklängen.
»Was hast du bezahlt?«, will Frieda wissen. »Ich geb’s dir morgen zurück.«
»Ach, lass nur …«, sagt er großmütig und winkt ab.
Im Saal sitzen die Zuschauer dicht gedrängt an Tischen und trinken Wein, andere stehen auf den Emporen und beugen sich über die Brüstung. Es wird gelacht und gejohlt, respektlose Bemerkungen über die »Damen« fliegen hin und her, die Luft ist mit Parfüm, Schweiß, Alkohol und Pomade geschwängert.
Alles starrt gespannt auf die Bühne, wo die Herren Preisrichter mit roten, verschwitzten Gesichtern sitzen und die Kandidatinnen sich präsentieren.
»Gehen wir auf die Empore, da haben wir den besten Überblick«, schlägt Harry vor. »An den Tischen ist sowieso kein Platz mehr frei.«
»Ich glaube, ich möchte wieder gehen«, flüstert Annemarie und zupft Frieda am Kleid. »Das ist doch furchtbar peinlich.«
Auch Frieda ist wenig begeistert von dieser Veranstaltung. Wie unverschämt sich die Zuschauer benehmen! Was für freche Blicke ihnen folgen, als sie zwischen den Tischen hindurch zur Emporentreppe gehen! Und erst die Bemerkungen!
»Die mit de schwarze Haar, die sollt sisch gleisch emal uff die Bühn stelle!«
»Die is zu dörr. Besser die Blonde, an der ist was dran!«
Auch Harry hat es gehört, und es ist ihm schrecklich unangenehm.
»Keine Ahnung, was das für Leute sind«, versichert er ihnen. »Wie ich vorhin gegangen bin, waren die noch nicht da.«
Oben ist es so eng, dass sie nur mit Mühe einen Platz an der Brüstung erobern können. Was sie zu sehen bekommen, ist so skurril, dass Frieda es kaum glauben kann. Wie ist es möglich, dass sich diese Mädchen vor den hochnäsigen Preisrichtern und der brüllenden Menge so hochnäsig zeigen? Es sind junge Dinger, die von ihren Müttern in scheußlichen selbst genähten Flitter gehüllt wurden; einige zeigen sich sogar im Badeanzug. So gewandet müssen sie auf einem erhöhten Laufsteg durch das feixende, johlende Publikum gehen, sich drehen und wenden, ihren Körper vorzeigen und sich den abschätzenden Blicken und anzüglichen Bemerkungen aussetzen. Es sind nicht nur Männer unten an den Tischen, auch Frauen haben ihren Spaß an dieser peinlichen Präsentation; sie kichern hämisch und zischen ihren Begleitern Bemerkungen zu.
»Die sind ja alle potthässlich«, sagt Harry enttäuscht. »Schau mal, die Dicke da. Die stampft daher wie ein Ackergaul. Gut, dass sie nicht über den Laufsteg zu gehen braucht, der würde sonst unter ihr zusammenbrechen.«
»Ach, halt doch den Mund!«, fährt ihn Frieda an. »Ich finde das alles grotesk. Lass uns wieder gehen.«
»Warte noch, gleich wird die Siegerin verkündet!«
Warum setzen sich diese Mädchen einer solchen Tortur aus? Man sieht ihnen an, wie unangenehm es ihnen ist. Sie kommen aus einfachen Familien, sind Töchter von Kleinbürgern oder Arbeitern. Lockt sie die »schimmernde Krone aus gläsernen Edelsteinen«, die der Königin aufgesetzt wird? Die Geschenke, die einige Frankfurter Firmen gespendet haben und die unter den Emporen auf Tischen ausgestellt bewundert werden können?
»Ich will hier weg!«, sagt Annemarie energisch.
»Es ist zu eng, wir kommen nicht durch.«
Die Reihe der Bewerberinnen ist zu ihrem Ende gekommen. Jetzt beraten sich die Preisrichter, und die Spannung im Saal erreicht ihren Höhepunkt. Die Menschen drängen sich dicht aneinander, man bekommt kaum noch Luft. Frieda spürt eine Hand an ihrer Hüfte und dreht sich hastig um. Ein dicker, rotverschwitzter Mann grinst sie an. Sie überlegt keine Sekunde und schlägt zu. Es fühlt sich eklig an, weil seine Backe nass vom Schweiß ist.
»Noch mal, und ich kratze dir die Augen aus!«, zischt sie.
Harry drängt sich als Beschützer herbei, doch der dicke Lüstling ist schon zwischen den anderen Zuschauern verschwunden.
»Ein großartiger Kavalier bist du«, faucht Frieda ihn an. »Bis du kommst, kann eine schon vergewaltigt und verschleppt worden sein.«
»Ist halt so eng, ich bin nicht durchgekommen!«, entschuldigt er sich.
Jetzt hört die Kapelle auf zu spielen, und einer der Preisrichter, ein großer, dünner mit Hornbrille, tritt an den Bühnenrand. Was er verkündet, können sie kaum verstehen, weil sich ringsherum ein fürchterlicher Lärm erhebt.
»Schiebung! Dilettanten! Idioten! Fehlurteil!«, brüllen die Leute durcheinander.
Tumult bricht aus. Während die glückliche Siegerin – ein rothaariges, vollbusiges Mädchen im grünen Abendkleid – vor den Preisrichtern erscheint, um die Krone der »Miss Frankfurt« aufs Haupt gesetzt zu bekommen, wollen unten im Parterre enttäuschte Mütter und Väter die Bühne stürmen. Fäuste werden geschwungen, Kellner und Angestellte eilen herbei, um für Ordnung zu sorgen, Gläser zerbrechen, eine Frau kreischt, man habe ihr die Handtasche gestohlen …
»Raus hier! Schnell!«, ruft Annemarie verzweifelt.
Harry geht als Rammbock voraus, stößt mit Schultern und Ellbogen den Weg frei. Frieda und Annemarie folgen dicht hinter ihm. Auf der Treppe stolpert Annemarie und krallt sich an einem elegant gekleideten Herrn fest, um nicht zu stürzen. Frieda verliert einen Schuh, unten fliegen leere Gläser und Blumenvasen dicht an ihnen vorbei. Am Ausgang ist das Gedränge am schlimmsten. Als sie schon fürchten, von der aufgeregten Menge auseinandergerissen zu werden, packt ein Kellner mit zerrissener Jacke Harry beim Arm und führt sie durch ein Seitenportal ins Freie.
»Hier entlang, meine Herrschaften«, keucht er. »So was hab ich noch net erlebt. Das ist die Republik, da geht’s drunter und drüber. Unterm Kaiser wär das net passiert …«
In der kühlen Nacht zerstreuen sich die Menschen rasch in Richtung Stadt. Harry, Frieda und Annemarie müssen rennen, um die letzte »Elektrische« zum Opernplatz zu erwischen. Frieda läuft barfuß, das ist besser, als mit einem Schuh zu humpeln. In der Bahn sitzen sie schweigsam auf der hölzernen Bank, Annemarie hat einen Riss im guten Kleid. Frieda ist auf einen spitzen Stein getreten, ihr Fuß blutet, und sie muss Harrys Taschentuch darumbinden.
»Das war das letzte Mal, dass ich mit dir ausgegangen bin«, sagt sie zu Harry. »Sag, was die Karten gekostet haben, damit ich dir das Geld geben kann.«
»Gar nichts«, murmelt er deprimiert. »Waren Freikarten. Hat mein Vater in der Gastwirtschaft geschenkt gekriegt.«