Kapitel 13
Frieda ist in düsterer Stimmung aus Frankfurt zurückgekommen. Da hat sie sich während der vergangenen Wochen ehrlich bemüht, konzentriert und ernsthaft dem Unterricht zu folgen, keine dummen Witze zu machen und auch sonst keinen Blödsinn zu treiben. Hat das jemand von ihren Ausbildern bemerkt? Kein einziger! Nicht, dass sie ein Lob erwartet hätte – aber als Anerkennung für ihr Bemühen hätte man sie wenigstens bei den anstehenden Inszenierungen im Schauspielhaus mitwirken lassen können. Annemarie ist in gleich drei Stücken eingesetzt, einmal darf sie sogar einen ganzen Satz sprechen. Auch die anderen dürfen bei verschiedenen Aufführungen mitmachen, aber sie selbst hat nur einen einzigen Auftritt. Und auch den hat sie nur bekommen, weil sich einer der Schauspieler für sie eingesetzt hat. Er heißt Richard Graf und spielt eine Hauptrolle in der Komödie Kilian oder die gelbe Rose von Paul Kornfeld. Warum auch immer – er hat erreicht, dass sie im ersten und im letzten Akt den Gästen als Hausmädchen die Tür öffnen und vor ihnen knicksen darf. Natürlich stumm. Am Anfang und ganz am Ende des Stückes. Da muss sie die ganze Zeit in der Garderobe sitzen und warten, bis sie wieder dran ist. Aber immerhin.
Als sie am Dingelbacher Bahnhof aus dem Zug steigt, regnet es immer noch, und sie muss sich mit den guten Schuhen in Acht nehmen, denn der Weg hinunter ins Dorf ist aufgeweicht und schlammig. Unten auf der Dorfstraße merkt sie gleich, dass irgendetwas geschehen sein muss: Die Frauen stehen in den Hofeingängen und reden aufgeregt, ihre Cousine Luise hat den Kleinen auf dem Arm und sagt laut zu der Magd Gretel: »So geht’s, wenn man net auf seine Kinder aufpasst!«
Im Dorfladen ist kaum ein Durchkommen, da stehen die Bäuerinnen mit ihren Körben und Taschen dicht gedrängt, aber anstatt einzukaufen, schwatzen sie nur und fuchteln dabei mit den Händen. Herta hat die Arme auf den Ladentisch aufgestützt und redet mit der Schmidtkunz Hedi. Als Frieda an ihr vorbeigeht, sagt sie nur kurz: »Essen steht in der Küche.«
»Was ist denn hier los?«, will Frieda wissen.
»Der Schütz Heinz und die Grossmann Julia sind davongelaufen.«
»Wie – davongelaufen?«
»Na, die sind halt weg. Und jetzt suchen alle nach dene zwei.«
Frieda nimmt es nicht so ernst. Viel Theater um nichts. Die werden schon wiederkommen, denkt sie. In der Küche nimmt sie den Deckel vom Topf und stellt fest, dass es dicke Suppe mit Reis gibt. Die mag sie nicht. Überhaupt hat sie keine Lust, etwas zu essen, weil es drüben im Laden so laut ist und auch von oben Stimmen zu hören sind. Wer redet denn da? Die Mutter. Die Ida. Und – ach, herrje – die Helga, die hört sich ganz verzweifelt an. Frieda setzt den Deckel wieder auf den Suppentopf und steigt die Treppe hinauf.
In der Schlafkammer der Mutter sitzt Helga auf dem Bett, ihr Gesicht ist rot geweint, die Mutter hat ihr den Arm um die Schultern gelegt. Ida steht mit verschlossener Miene am Fenster und schaut nicht einmal hoch, als Frieda leise hereinkommt.
»Du sollst dir keine Vorwürfe machen, Helga«, sagt die Mutter und reibt Helga tröstend die Schulter. »Daran ist allein nur der Otto schuld. Eingesperrt hat er den armen Bub. Dass er bloß net hinüber zu seiner Mutter läuft. Und jetzt bringt er ihm noch eine Stiefmutter ins Haus. Da ist’s doch kein Wunder, dass der Bub gemeint hat, er müsst davonlaufen …«
»Aber warum ist er denn net zu mir gelaufen«, schluchzt Helga. »Ich bin doch seine Mutter! Der weiß doch, wie lieb ich ihn hab! Dass ich nur wegen ihm hier in Dingelbach bleib, auch wenn’s net leicht für mich ist. Nur wegen meinem Bub tu ich das, damit ich ihn sehen kann …«
»Und das hast du richtig gemacht, Helga«, sagt die Mutter mit Entschiedenheit. »Der Heinz, der braucht seine Mutter. Das ist doch ganz normal, dass ein Bub seine Mutter braucht. Nein – an allem ist nur der Otto schuld. Und die Gertrud, die alte Bisse. Die vielleicht noch viel mehr wie der Otto …«
»Wenn ihr mich fragt …«, mischt sich Ida ein.
»Dich fragt aber keiner!«, sagt die Mutter energisch.
»Ich sag’s trotzdem«, beharrt Ida. »Es wär besser gewesen, du wärst mit dem Oskar fortgegangen, Helga. Dann wär der Heinz schon traurig gewesen, aber er hätt gewusst, wo er hingehört. So ist da der Vater und dort die Mutter, und er hängt dazwischen. Das taugt nichts.«
Helga starrt sie mit den vom Weinen verquollenen Augen an, als könne sie gar nicht begreifen, was sie da gehört hat. Die Mutter ist wütend auf Ida und will, dass sie aus der Kammer geht. »Was verstehst denn du, du oberschlaue Person?«, schimpft sie. »Grad aus dem Ei geschlüpft und will schon mitreden. Krieg du erst einmal ein Kind, dann weißt du, was Mutterliebe bedeutet …«
»Eine falsche Liebe ist das«, gibt Ida starrsinnig zurück. »Du willst den Heinz net hergeben, Helga, das ist es. Es geht dir nur um dich selber, net darum, ob es dem Heinz damit gut geht.«
»Jetzt reicht’s aber! Geh runter in den Laden und hilf der Herta beim Bedienen!«, schreit die Mutter und zeigt mit dem Finger zur Tür.
»Ich hab meine Meinung gesagt, wenn ihr’s net glauben wollt, dann seid ihr selber schuld«, sagt Ida trotzig, dreht sich um und geht an Frieda vorbei aus der Kammer. Frieda steht da wie angewachsen. Da hat ihre Schwester Ida ja was angerichtet. Wie kann sie nur so kalt und grausam sein? Die arme Helga ist sowieso schon kreuzunglücklich, und dann bekommt sie noch gesagt, es sei ihr gleich, wie es ihrem Buben geht.
»Du musst das net ernst nehmen, Helga«, sagt sie tröstend. »Die Ida hat manchmal so Anwandlungen …«
»Du gehst jetzt auch hinunter, Frieda«, unterbricht sie die Mutter. »Die Helga und ich, wir bereden das unter uns.«
Na schön, dann eben nicht, denkt Frieda beleidigt. Da will ich helfen und trösten, und dafür schmeißt sie mich raus. Es ist wirklich kaum auszuhalten mit der Mutter, ich bin froh, wenn ich meine Prüfung habe und mir ein Engagement an einem Theater suchen kann.
Sie geht hinüber in die andere Schlafkammer, um ein altes Kleid und einfache Schuhe anzuziehen. Die guten Sachen, die sie in Frankfurt trägt, muss sie schonen, die dürfen auf keinen Fall schmutzig werden. Außerdem wird man in diesen Kleidern in Dingelbach nur dumm angeglotzt.
Ida ist natürlich nicht unten im Laden, da steht Herta immer noch einsam am Ladentisch und wiegt jetzt ein Viertelpfund Bohnenkaffee für die Frau Pfarrer ab.
»Fünf große Essiggurken für die Hedi«, ordnet Herta an, als sie Frieda sieht.
Na, wenigstens kaufen sie etwas. Frieda nimmt der Schmidtkunz Hedi den mitgebrachten Topf aus der Hand und öffnet das Gurkenfass. Dabei schwirren ihr die aufgeregten Reden der Dorffrauen um die Ohren.
»Verschmachtet und verdorrt haben sie die Sophie Guckes damals am Wegrand gefunden. So geht’s, wenn eine denkt, sie könnt davonlaufen!«
»Bleibe im Lande und nähre dich redlich!«, sagt die Dönges Ursula. »In der Fremde blüht dir kein Glück!«
»Dass du mir ja die festen Gürkchen raussuchst, Frieda«, mahnt die Hedi und reckt den Hals, um in das Gurkenfass hineinzuschauen.
Die Frau Pfarrer bemüht das Gleichnis vom »verlorenen Sohn«, der eines Tages reumütig zum Vater zurückkehren wird. Aber die Dippel Lore ist der Ansicht, jemand habe die Kinder entführt, um ein Lösegeld zu erpressen. So etwas habe neulich in der Zeitung gestanden, die sie in Oberursel für den Alfred gekauft hätte.
»Der Schütz Otto, der hat doch Geld wie Heu«, fügt sie neidvoll hinzu.
»Aber der Grossmann Fritz hat mehr Schulden wie Streu im Stall«, versetzt die Schmidtkunz Hedi. »Der kann gewiss kein Lösegeld zahlen.«
»Der Herr wird seine schützende Hand über die Kinder halten«, behauptet die Frau Pfarrer. »Eine Schachtel Margarine, Herta. Und zwei kleine Handkäs.«
Dann regen sie sich über die beiden Polizisten auf, die der Schütz Otto herbeitelefoniert hat und die jetzt überall herumlaufen und die Leute ausfragen.
»Wozu soll das gut sein? Anstatt zu suchen, schreiben sie ›Protokolle‹. Soll das Papier die Kinder herbeischaffen?«
»Beim Schütz Otto haben sie Kaffee getrunken und Krümmelkuchen dazugekriegt!«
»Und einen Schnaps. Das hat man riechen können.«
»Ei, freilich. An denen ihre Schnaufer, da hättst kein Streichholz dranhalten dürfen.«
Da schreit auf einmal die Koppel Ella, die ganz hinten beim Schaufenster steht: »Da sin se! Gottsche naa! Se sin widder da!«
Alle drehen sich um, die Dönges Ursula reißt die Ladentür auf, und die Kundinnen können gar nicht schnell genug auf die Dorfstraße laufen. Frieda flutscht die letzte Gurke aus der Zange, Herta lässt die Tüte fallen, in die sie gerade Grieß abfüllt, und läuft hinter den Frauen her.
»Der Lehrer Hohnermann hat sie gefunden!«, tönt es von draußen.
Auf der Stiege sind hastige Fußtritte zu hören, Helga und die Mutter laufen an Frieda vorbei zur Ladentür. Helga ist so aufgeregt, dass sie auf der Ladentreppe beinahe strauchelt, sie muss sich an der Schmidtkunz Hedi festhalten, die dort stehen geblieben ist, weil man von der Treppe aus den besseren Ausblick hat.
Auch Frieda ist jetzt neugierig. Lehrer Hohnermann hat die Kinder gefunden? Wenn’s stimmt, dann wird sein Ansehen im Dorf gewaltig steigen, und er bekommt endlich einmal den Respekt, den er verdient. Tatsächlich – da sieht sie ihn mit der Julia auf den Armen in Richtung Grossmannhof laufen. Er ist von den Dörflern umringt, die ihn mit tausend Fragen behelligen, sodass er kaum vorankommt. Frieda läuft auf die Dorfstraße hinunter und drängt sich durch die aufgeregten Menschen, aber sie kommt nicht an Hohnermann heran, weil die Helga eng an seiner Seite ist und verzweifelt nach dem Heinz fragt. Vom Grossmannhof kommen jetzt die Alma und der Fritz Grossmann gelaufen, der Fritz nimmt Hohnermann seine Tochter aus den Armen, die Alma streichelt dem Mädchen die Wange, Tränen fließen. Lenchen Grossmann und die Anni Christ stehen am Hofeingang, sie lachen und weinen durcheinander.
»Holt den Alberti Rudolf herbei!«, hört Frieda Lehrer Hohnermann rufen. Dann geht er mit den Grossmanns in den Hof hinein, und die anderen bleiben am Tor stehen. Frieda hört, wie sie durcheinanderreden.
»Am Bahnhof hat er’s gefunden!«
»Ganz erschöpft und krank ist’s, das arme Ding!«
»Und der Heinz?«
»Der will net wieder heim, hat’s gesagt.«
Vom Schützhof, der gleich gegenüberliegt, ist die Gertrud herbeigelaufen, der Schütz Otto steht beim Brunnen und schaut bleich und wackelig aus. Die Mutter muss die Helga festhalten, weil sie in ihrer Verzweiflung auf den Otto losgehen will.
»Warum hast du net auf den Buben aufgepasst? Du allein bist schuld, wenn ihm was zugestoßen ist!«, schreit sie.
Der Otto ist so geknickt, dass er gar keine Antwort gibt, aber die Gertrud keift, dass die Helga grad die Rechte sei, ihrem Otto solche Sachen zu sagen.
»Wennste net rumgehurt hättest, wär das net geschehn!«
»Das brauchst du dir net anhören«, sagt Friedas Mutter und zieht die Helga zum Dorfladen zurück. Aber die jammert laut, dass etwas geschehen müsse, der Heini laufe vielleicht allein im Wald herum, oder er würde sich womöglich etwas antun.
Tatsächlich finden sich jetzt einige Leute zusammen, die sich noch einmal auf die Suche machen wollen, obgleich es schon spät am Tag ist. Rudolf Alberti ist noch im Grossmannhof, weil er nach der kranken Julia schauen will, aber Onkel Schorsch und der Killinger Hannes machen sich bereit, mit der Helga zu gehen. Auch der Schütz Otto und die Gertrud wollen hinauf zum Bahnhof und von dort aus durch den Wald laufen, andere schließen sich ihnen an. Man schimpft auf die beiden Polizisten, die inzwischen schon wieder davongefahren sind.
»Nehmt eine Laterne mit!«, ruft die Alberti Marlis. »Es wird bald dunkel!«
Die Mutter schickt Frieda in den Dorfladen, dass sie für Helga eine Jacke und die Taschenlampe holt. Wie sie mit den Sachen zurückkommt, steht da auch Lehrer Hohnermann bei der Helga und der Mutter. Müde schaut er aus, findet sie. Und recht unglücklich dazu. Aber die Bauern und Bäuerinnen, die dort ausharren, sind voll des Lobes für ihren Dorflehrer.
»Auf den Armen habens das Mädchen heimgetragen. Grad wie ein Held sind Sie mir da vorgekommen«, seufzt Cousine Luise.
Und die Frau Pfarrer meint sogar, dass der Herr Hohnermann ein »Auserwählter des Herrn« sei, der gesandt wurde, um die Kinder zu erretten.
Hohnermann ist das Gerede peinlich, er macht abwehrende Bewegungen und behauptet, er habe nur das Glück gehabt, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. Als er Frieda sieht, schaut er geradezu schuldbewusst drein und erklärt, er wolle gleich wieder fort, um gemeinsam mit Helga und den anderen nach Heinz zu suchen. Aber er bleibt noch einen Moment stehen, um Frieda zu begrüßen.
»Da hast du gewiss einen Schrecken bekommen, nicht wahr?«, meint er zu ihr und lächelt unsicher. »Aber mach dir keine Sorgen, wir finden den Buben.«
»Wollen Sie denn gleich wieder fort?«, fragt sie besorgt. »Haben Sie überhaupt schon etwas gegessen?«
Er behauptet, zu Mittag ein Brot mit Räucherwurst gehabt zu haben, aber jetzt mischt sich auch die Mutter ein und meint, er müsse wenigstens einen Kaffee trinken, bevor er wieder davonlaufe.
»Da sind jetzt genug Leut unterwegs«, sagt sie und fasst ihn beim Arm. »Sie brauchen eine Stärkung, Herr Hohnermann.«
Frieda ist der gleichen Meinung und nimmt ihn einfach bei der Hand, da wehrt er sich nicht mehr und geht brav mit ihnen hinüber in den Dorfladen. Dort empfängt sie Herta mit säuerlicher Miene – die Kundinnen sind alle davongelaufen, aber Grieß, Öl und der Topf mit Essiggurken sind unbezahlt auf dem Ladentisch zurückgeblieben.
»Die kommen schon zum Bezahlen«, meint die Mutter zuversichtlich. »Geh, Frieda, koch einmal einen guten Kaffee für den Herrn Hohnermann, dass er wieder zu Kräften kommt.«
Dass sie für Lehrer Hohnermann Kaffee kocht, ist für Frieda ganz neu, sonst ist er es immer, der sie drüben in seiner Wohnung mit Malzkaffee bewirtet. Er lässt es sich gefallen, sitzt am Küchentisch und schaut ihr zu, wie sie die Bohnen in die Kaffeemühle einfüllt, die an der Wand hängt, und kräftig den Hebel dreht.
»Es tut mir leid, dass ich dir so viel Mühe mache«, sagt er.
»Überhaupt net«, lacht sie. »Sie tun ein gutes Werk, Herr Hohnermann. So kommen wir alle jetzt zu einer guten Tasse Bohnenkaffee.«
Da muss er auch lachen, die Mutter holt Brot und Speck aus der Kammer und stellt die Reissuppe aufs Feuer, dass er einen Teller davon essen kann, und auf einmal ist auch Ida in der Küche.
»Wo bist du gewesen?«, will die Mutter in strengem Ton wissen. »Warum warst du nicht im Laden?«
»Bin ein paar Runden mit dem Willibald geritten«, versetzt Ida ungerührt. »Der muss bewegt werden, sonst verlernt er alles.«
Dann setzt sie sich ganz unbefangen neben Hohnermann an den Küchentisch und will wissen, was die Julia ihm erzählt hat.
Hohnermann rührt bedächtig Milch in den Kaffee, den Frieda ihm eingegossen hat.
»Sie sind tatsächlich nach Steinbach gelaufen und dort in den Zug gestiegen«, erzählt er. »In Frankfurt haben sie versucht, zwei Fahrkarten nach Hamburg zu bekommen. Und weil der Beamte am Fahrkartenschalter keine Billetts an Kinder verkaufen wollte, hat sich der Heinz etwas einfallen lassen.«
Frieda hört verblüfft zu. Mit der Bahn sind sie gefahren! Auch die Mutter ist erstaunt.
»Ja, was haben die zwei denn in Hamburg gewollt?«, will sie wissen.
Ida schweigt. Lehrer Hohnermann tut einen Seufzer.
»Nach Amerika wollten sie …«
»Nach Amerika«, staunt Frieda und muss lachen. »Was für eine verrückte Idee. Wie sind die nur auf so was gekommen?«
Warum er jetzt so bekümmert vor sich hinschaut, versteht sie nicht.
»Ich kann mir denken, was der Heini sich hat einfallen lassen«, ergreift Ida das Wort. »Der hat einen Erwachsenen gefragt, ob er die Karten für sie kauft.«
»Genauso ist es gewesen«, nickt Hohnermann. »Aber sie sind einem Gauner aufgesessen, der mit ihrem Geld davongelaufen ist.«
»Was für Geld?«, fragt die Mutter entsetzt.
»Das Geld, das der Heinz von daheim mitgenommen hat«, erklärt Ida in gleichmütigem Ton. »Hat der Otto nicht gesagt, dass ihm Geld fehlt?«
Nein, davon hat niemand bisher etwas gewusst. Aber jetzt wird Frieda klar, warum der Schütz Otto vorhin so geknickt dagestanden hat. Der hatte wohl bemerkt, dass ihm Geld weggekommen ist, aber das hat er im Dorf nicht herumerzählen wollen. Weil es gewiss schlimm für ihn ist, dass der eigene Sohn ihn bestohlen hat.
»Dann versteh ich auch, warum der Heinz net heimkommen will«, sagt Frieda beklommen. »Nun ist das Geld fort, und er hat Angst, dass der Vater ihn verprügelt.«
»Aber er hat die Julia bis nach Dingelbach begleitet«, sagt Lehrer Hohnermann. »Das ist ihm hoch anzurechnen, dem Bub. Sie war ganz und gar erschöpft und wollte wieder heim, da ist er mit ihr gefahren, damit sie sicher in Dingelbach ankommt.«
»Und dann?«, fragt Marthe. »Hat er ihr net gesagt, wo er hinwill?«
»Nein«, sagt Hohnermann bedrückt. »Kann sein, dass er mit dem nächsten Zug nach Frankfurt oder auch in den Taunus gefahren ist. Oder er läuft hier irgendwo herum. Ich hab keine Ruhe mehr, Frau Haller, ich muss jetzt los.«
»Ich komme mit«, sagt Ida.
Frieda hält diese Suche zu später Stunde eigentlich für unsinnig. Aber dass Ida so ruhig und entschlossen sagt, dass sie mitgehen will, macht Frieda stutzig. Sie kennt ihre Schwester. Da steckt etwas dahinter.
»Ich auch«, verkündet sie impulsiv.
»Auf keinen Fall«, wehrt sich Hohnermann. »Es wird bald dunkel. Das ist nichts für zwei junge Mädchen.«
»Wir sind doch gut beschützt«, meint Frieda unternehmungslustig und blinzelt ihn an. Wird er rot? Man sieht es wegen der Narben in seinem Gesicht nicht gut. Aber es könnte sein.
Ida ist schon drüben im Laden und wühlt in einer Schublade herum.
»Wo ist denn die Taschenlampe?«, schimpft sie.
»Die hat die Helga.«
»Na, famos!«, knurrt Ida.
Sie holen eine Laterne und eine nagelneue Kerze aus dem Lager, was die Mutter schweigend zur Kenntnis nimmt. Herta erklärt sie für vollkommen verrückt; es sei schade um die Kerze, und die Laterne könnten sie dann auch nicht mehr verkaufen.
»Passen Sie auf meine Mädchen auf, Herr Hohnermann«, gibt die Mutter ihnen mit auf den Weg.
Er verspricht es, aber man sieht ihm an, dass er sich unbehaglich dabei fühlt. Die Begleitung gefällt ihm gar nicht, und Frieda begreift, dass er viel lieber allein unterwegs gewesen wäre.
Draußen auf der Dorfstraße erfahren sie, dass der Schütz Otto und die Gertrud wieder zurückgekommen sind, ohne den Heinz gefunden zu haben. Die anderen wären noch unterwegs, müssten aber auch bald kommen, weil es dunkel wird. Rudolf Alberti sei noch drüben im Grossmannhof, er will eine Weile bleiben, weil die Julia Fieber hat und er wegen ihrer schwachen Lunge besorgt ist.
»Wir gehen über die Brücke hinter der Kirche und dann hoch in den Wald«, bestimmt Ida. »Ich glaub, ich weiß, wo der ist.«
»Wie kannst du so sicher sein?«, staunt Hohnermann. »Er kann überall sein. Der Wald zieht sich hinauf bis in den Taunus.«
»Lassen Sie nur«, meint Frieda. »Die Ida kennt sich aus.«
Er widerspricht nicht, aber als sie den Waldrand erreichen, fasst er Frieda vorsichtshalber bei der Hand, weil er Sorge hat, sie könnte über eine Baumwurzel stolpern. Um Ida ist er weniger besorgt, sie hat Streichhölzer eingesteckt und zündet die Kerze in der Laterne an, dann geht sie zielsicher voraus, biegt vom Weg ab und nimmt einen engen Pfad, den das Wild benutzt, wenn es am frühen Morgen auf die Wiesen beim Dorf hinübergeht. Hohnermann bemüht sich, die Zweige festzuhalten, damit sie Frieda nicht ins Gesicht treffen, wenn sie zurückschlagen.
»Was hast du vor, Ida?«, fragt er verärgert. »Hier ist kein Durchkommen. Wir müssen auf den Weg zurück.«
Ida dreht sich um und legt den Finger über die Lippen.
»Still!«, flüstert sie. »Leise gehen. Sonst verscheuchen wir ihn.«
Frieda hat inzwischen begriffen, wohin die Schwester sie führt: zu dem Baumhaus, das sie vor einigen Jahren mit ihren Freunden gebaut haben. Da war auch der Heinz dabei. Gefährlich muss es gewesen sein, denn sie hat nur die älteren Kinder mitgenommen. Der Heinz war damals wohl acht, der durfte gerade so mit.
Nach einer Weile bleibt Ida stehen und pustet die Kerze aus. Es ist nun ganz dunkel um sie, nur oben in den Baumkronen kann man zwischen dem Laub die Sterne leuchten sehen. Eine kleine Weile verharren sie, dann haben sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnt, und Ida führt sie weiter. Es ist schön und unheimlich zugleich, der Mond ist in den Baumkronen aufgetaucht und sendet milchige Strahlen zwischen den Stämmen hindurch bis auf den Waldboden. Tautropfen schimmern am grünlichen Moos, unter dem dürren Vorjahreslaub rascheln die Mäuslein. Hohnermann geht als Letzter, wenn sie über einen gestürzten Stamm oder eine dicke Wurzel hinwegsteigen müssen, streckt er Frieda die Hand entgegen, um ihr zu helfen. Dann, endlich, bleibt Ida stehen.
»Ich steig hoch«, wispert sie. »Ihr wartet.«
Sie gibt Frieda die gelöschte Laterne in die Hand, und gleich darauf ist sie verschwunden.
»Was hat sie vor?«, flüstert Hohnermann.
»Da oben ist irgendwo das Baumhaus«, wispert Frieda zurück.
»Das … Baumhaus?«
»Psst!«
Sie sind beide still und lauschen. Der Wald singt sein Nachtlied, die Stämme bewegen sich sacht, sie knistern und rauschen, es wispert und raschelt am Boden. Dann hört man einen Ast brechen, es knackt nicht weit von ihnen im Gezweig, Idas angestrengter Atem ist zu vernehmen. Sie klettert zum Baumhaus hinauf. Frieda bekommt Angst um ihre Schwester. Es ist drei Jahre her, dass sie da hochgestiegen ist. Wer weiß, ob sie es jetzt noch schafft? Sie schaut hoch zum Blätterdach, das jetzt deutlich vor dem Sternenhimmel zu sehen ist. An einer Stelle ist es verdichtet, zu einem kantigen Klumpen zusammengedrängt – das muss das Baumhaus sein, das sie damals aus Brettern und Ästen zusammengenagelt haben. Herrgott – es hängt mindestens drei oder vier Meter über dem Waldboden! Jetzt beginnt es zu schwanken. Eine halblaute Stimme ist zu hören.
»Bleib hocken. Ich bin’s, die Ida.«
»Hau ab! Lass mich!«
Das ist Heinz. Er ist da! Er ist tatsächlich da oben!
Frieda merkt, dass es Hohnermann durchfährt, als er den Heinz reden hört. Er will hinlaufen, vielleicht sogar den Stamm hinaufsteigen. Sie packt ihn an der Jacke, aber er reißt sich los; da stürzt sie ihm nach und umklammert ihn.
»Nicht!«, fleht sie. »Die Ida macht das schon.«
Sie kann hören, wie sein Herz schlägt. Wie ein Trommelwirbel geht es. Oben redet Ida weiter.
»Das war gar keine dumme Idee, Heini. Bloß bist du jetzt noch zu jung dafür. In zehn Jahren, da kannst du nach Amerika gehen. Da hat dir keiner mehr was zu sagen …«
»Es ist meine Schuld«, murmelt Hohnermann. »Ich hab ihm das Buch gegeben.«
»Was reden Sie für einen Quatsch!«, flüstert Frieda.
Er schweigt. Aber sie hält ihn fest, damit er bloß nicht auf die Idee kommt, den Baum hinaufzusteigen.
»Ich hab so Angst um die Julia gehabt«, kommt es von oben. »Aber mit ihr heimgehen, das wollt ich auch net. Der Vater schlägt mich tot, weil ich das Geld genommen hab.«
»Und da bist du hier hinaufgeklettert?«
»Ich hab gedacht, ich bleib erst mal hier. Damit ich in der Nacht zum Grossmannhof schleichen und nach der Julia schauen kann …«
»Das war eine blöde Idee. Da hätten sie dich erwischt, Heini.«
»Du verrätst mich doch net, Ida?«
»Nee. Aber ohne Geld kommst du sowieso net mehr weit.«
»Was soll ich denn machen? Ich gehör doch nirgendwo mehr hin.«
»Doch. Du gehörst nach Dingelbach. Zu uns. Zu mir. Zum Lehrer Hohnermann. Zu deiner Mama. Zur Oma Anni. Und auch zu deinem Papa und zur Gertrud. Die haben alle schreckliche Angst um dich.«
»Der Vater schlägt mich tot.«
»Das tut der net. Weil er dann ins Zuchthaus kommt.«
Einen Moment lang ist es still. Frieda lässt Hohnermann los, aber dann merkt sie, dass er inzwischen die Arme um sie gelegt hat. Denkt er, ihr wäre kalt? Es ist angenehm, sie mag es, wenn er ihr so nah ist. So warm und so geborgen. Wie bei einem Vater.
»Wir steigen jetzt zusammen hinunter, und ich geh mit dir heim«, bestimmt Ida oben in den schwankenden Zweigen. »Oder willst du hier als Baumaffe wohnen bleiben?«
»Na gut. Aber nur, weil ich so Angst um die Julia hab.«
Dann knackt und knistert es, Blätter und kleine Ästchen fallen auf sie herunter, ein Stoff reißt, und Ida flucht. Vermutlich hat sie sich das Kleid zerrissen. Als man sie auf den Boden springen hört, löst sich Hohnermann hastig von ihr und eilt durchs Gestrüpp, um Heinz beim Hinabklettern zu helfen.
»Gehen Sie da weg«, sagt Heinz. »Ich kann das allein!«