Kapitel 21

So eine stupide Person, denkt Ilse zornig. Da mache ich ihr einen vernünftigen, durchführbaren Vorschlag, und was bekomme ich zu hören? »Das könnte Ihnen so passen!« Wie feindselig sie mich dabei angeschaut hat, so als hätte ich sie angegriffen und beleidigt. Dabei habe ich ihr doch nur helfen wollen.

Sie geht zurück ins Badezimmer, weil ihr Magen schon wieder rebelliert, lässt kaltes Wasser über die Handgelenke laufen und wischt das Gesicht feucht ab. Was für ein Unglück, denkt sie. Nun wird es wohl so kommen, dass ich meinen besten Arbeiter verliere. Warum muss sich Oskar Michalski, dieser kluge und geschickte Kerl, bloß so eine sture Person aussuchen? Nun ja – wohin die Liebe eben fällt. Hübsch ist sie ja, die Helga. Schönes Haar, ein nettes Gesicht, auch die Figur ist sehr feminin. Ein typisches Weibchen eben. Wenn sie will, kann sie vermutlich sehr zärtlich und verführerisch sein – aber dahinter steht ein starrer Wille. Ilse mag solche Frauen nicht. Sie wickeln die Männer um den Finger, drücken auf die Tränendrüse, wenn sie etwas erreichen wollen, und leider sind sie damit meist erfolgreich. Damals, als ihr Vater sie unbedingt hat verheiraten wollen, damit er seine Fabrik an einen fähigen Nachfolger übergeben konnte, hat sie gegenüber solchen »Weibchen« immer das Nachsehen gehabt. Weil sie eben anders ist. Sie ist burschikos, sie sagt, was sie denkt, und geht einem Mann nicht um den Bart. Dafür hat sie sich anhören müssen, sie sei unattraktiv, ein Mauerblümchen, ein Blaustrumpf. Aber das ist Schnee von gestern, warum regt sie sich überhaupt auf?

Ich hätte den Mund halten sollen, denkt sie. Warum musste ich mich unbedingt einmischen? Mein alter Fehler: Ich will immer alles in der Hand haben, alles regeln, alles in Ordnung bringen. Aber zwischen den beiden, dem Oskar und der Helga, scheint es momentan aus mancherlei Gründen im Argen zu liegen, und darum hätte ich mir meine weisen Belehrungen sparen können.

Während sie mit Carla am Frühstückstisch sitzt, hat sie sich schon wieder so weit im Griff, dass sie die aufgebrachte Angestellte in ihre Schranken weisen kann.

»So ein verdrehtes Weibsbild!«, brummt Carla. »Kommt am frühen Morgen hergelaufen und macht den armen Herrn Michalski ganz narrisch. Eine wie die hätt man früher als Hexe verbrannt!«

»So etwas möchte ich nicht hören, Carla!«

»Ich sag’s ja nur«, knurrt Carla und gießt sich Kaffee ein. »Weil’s wahr ist. Der Herr Michalski ist ein solch lieber, anständiger Mensch, der hätt eine Bessere verdient.«

»Das muss er selbst wissen, Carla. Schließlich ist er ein erwachsener Mann.«

»Wenn’s um die Liebe geht, da werden aus den klügsten Männern allweil die dümmsten Gockel. Ich hoff nur, dass dem endlich einmal die Augen aufgehen, dem Herrn Michalski.«

Ilse ist der gleichen Ansicht, aber sie schweigt. Stattdessen lenkt sie das Gespräch auf ein anderes Gleis.

»Reichst du mir bitte die Marmelade herüber? Danke. Und denk bitte daran, mir gleich die Post zu bringen. Falls ein Anruf in der Villa ankommen sollte, dann …«

»Weiß schon«, versetzt Carla schmunzelnd. »Ich bitte den Herrn Goldstein, eine Minute zu warten, und hole Sie rasch. Wenn es aber Ihr Bruder ist, dann sag ich, Sie wären beschäftigt. Richtig so?«

»Perfekt.«

Sie nimmt noch einen Schluck verdünnten Kaffee und hofft, dass er drinbleibt, wenn sie jetzt hinüber in die Fabrik geht. Die morgendliche Übelkeit ist ausgesprochen lästig, sie hat zum Glück eine Nasszelle in ihrem Büro einbauen lassen, wo sie rasch verschwinden kann, wenn sie sich übergeben muss. Aber natürlich hat Fräulein Sonntag längst gemerkt, wie die Dinge stehen, und sie vermutet, dass ihre Sekretärin solche aufregenden Neuigkeiten nicht bei sich behalten wird. Nun – das ist nicht zu ändern. Sie ist inzwischen sicher, dass sie schwanger ist; wenn ihre Rechnung stimmt, dann müsste sie im dritten Monat sein.

Eine Komplikation, auf die sie nicht gefasst gewesen ist. Liebe, Ehe, Mutterschaft, das waren bisher Begriffe, die auf sie nicht zutrafen. Dass das Prinzip der Fruchtbarkeit auch vor einem »späten Mädchen« und einer engagierten Geschäftsfrau nicht haltmacht, ist im Grunde genommen logisch, aber sie hat es schlichtweg ignoriert. Nun hat sie also die Quittung für ihren Leichtsinn bekommen: In ihrem Leib wächst ein Kind, ein fremdes, junges Leben, das Ergebnis leidenschaftlicher, wundervoller Stunden. Sie kann nicht sagen, dass sie vor Glück darüber zerspringt, aber es ist Richards Kind, sie wird es austragen und auf die Welt bringen, etwas anderes kommt für sie nicht infrage. Nur will sie Richard damit auf keinen Fall zu etwas bewegen, was er – wie es im Moment scheint – nicht freien Herzens tun kann. Über den Heiratsantrag, den er ihr gemacht hat, ist seit längerer Zeit nicht mehr gesprochen worden, und auch sonst übt er sich in Zurückhaltung. Sie hat mehrere Postkarten und zwei ausführlichere Briefe von ihm aus Heiligendamm erhalten, wo er sich wochenlang mit seiner Mutter aufgehalten hat. Inzwischen müsste er längst wieder zurück in Frankfurt sein, doch außer zwei kurzen Telefonaten hat sie kaum etwas von ihm gehört. Am Telefon ist er fahrig gewesen, hat sie um Geduld gebeten, einmal sogar besorgt gefragt, ob sie ihn noch liebe. Was sie bejaht hat. Aber alles in allem hat sie den Eindruck gewonnen, dass er sich mit ernsten Schwierigkeiten herumschlägt, die er jedoch – vermutlich aus Rücksicht auf seine Mutter – nicht benennen will.

Eine Ehe, die nur wegen eines ungeborenen Kindes geschlossen wird, ist unter ihrer Würde. Das hat sie nicht nötig, und das will sie auch Richard nicht zumuten. Sie hatte nun einmal beschlossen, keine Ehe einzugehen, sondern in einer offenen Partnerschaft mit ihm zu leben. Dass sie nun ein Kind bekommt, wird an diesem Entschluss nichts ändern.

In der Fabrik läuft es glücklicherweise sehr gut. Die Aufträge kommen so zahlreich, dass sie die Produktion gut vorausplanen muss und sich keine Schnitzer erlauben darf. Sie wird sich schon jetzt nach einem Ersatz für Oskar Michalski umsehen müssen; das widerstrebt ihr zwar, da er noch nicht gekündigt hat, es ist aber leider aus betrieblichen Gründen notwendig. Im Büro begrüßt sie Fräulein Sonntag, diktiert zwei Schreiben und ruft anschließend mehrere Zeitungen an, um eine Annonce aufzugeben. Es ist schwierig, eine Berufsbezeichnung zu finden, die Oskars Fähigkeiten auch nur annähernd umfasst, denn Oskar ist in fast allen Bereichen einsetzbar. Mechaniker? Maschinenschlosser? Elektriker? Dreher? Vorarbeiter? Sie gibt schließlich mehrere Annoncen mit unterschiedlichen Anforderungen auf und beschließt, abzuwarten, was da kommen wird. Danach geht sie hinüber in die Produktionshalle, um den üblichen Rundgang zu erledigen, Anweisungen zu geben, Probleme zu beheben und sich nach dem Wohl und Wehe ihrer Arbeiter zu erkundigen. Karl Höhn, der so schöne Ornamente schnitzen kann, beklagt sich neuerdings über Rheuma in den Fingern, und sie verspricht, sich nach der Rheumasalbe zu erkundigen, die seinerzeit ihr Vater benutzt hat. Julius Offenbachs Schwiegervater ist vorletzte Woche verstorben; er will nun mit seiner Frau zur Schwiegermutter ziehen, da sie Pflege braucht, und bittet um einen Vorschuss wegen der notwendigen Renovierungen. Sie sagt es ihm zu. Oskar Michalski steht bei Offenbach an der Drehbank und nickt ihr nur kurz zu. Die drei Mädchen sind zum Glück fröhlich, arbeiten flott miteinander und verstehen sich gut. Als sie ins Büro zurückkehrt, stellt sie erfreut fest, dass sie keinerlei Magenbeschwerden mehr verspürt. Gut so – wenn sie Glück hat, bleibt ihr diese lästige Angelegenheit für den Rest der Schwangerschaft erspart. Es wird ohnehin nicht einfach sein, die Fabrik trotz der Schwangerschaft zu leiten. Die Freundinnen ihrer verstorbenen Mutter waren der Meinung, eine Schwangere dürfe so wenig wie möglich in der Öffentlichkeit erscheinen, da Unruhe und Aufregungen dem Kind schaden könnten. Körperliche Anstrengungen waren verboten, die werdende Mutter sollte sich schonen, da sie sich auf ihre große Stunde vorbereiten musste. Wenn Ilse allerdings an das Leben unten im Dorf denkt, dann fasst sie wieder Mut. Die Bäuerinnen arbeiten während der Schwangerschaft in gewohnter Weise auf den Äckern und in ihren Gärten, da gibt es keine, die sich auf die faule Haut legt, nur weil sie ein Kind erwartet. Und meistens bleiben sie nur wenige Tage im Bett, wenn sie entbunden haben, danach stehen sie schon wieder im Stall, melken die Kühe, füttern das Vieh oder wenden das Heu auf den Wiesen. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, dass sie ihre Fabrik bis kurz vor der Geburt problemlos leiten kann und danach nur für eine kleine Weile ausfällt. Das muss zu bewältigen sein, vor allem, wenn sie es gut organisiert.

Nach dem Mittagessen, als sie schon wieder hinüber in die Fabrik gehen will, läutet das Telefon.

»Ich nehme ab«, sagt sie zu Carla, die das Geschirr in die Küche trägt.

Vielleicht ist es die Schwangerschaft, die ihr eingeflüstert hat, der Anrufer könne nur Richard sein. Sie sehnt sich nach ihm, wünscht sich inständig, er würde endlich zu ihr in die Villa kommen, sie in die Arme nehmen und ihr seine Sorgen anvertrauen. Doch die Stimme, die ihr aus dem Hörer entgegentönt, gehört nicht Richard, sondern ihrem Bruder Josef.

»Endlich erreiche ich dich einmal«, sagt er vorwurfsvoll. »Was ist denn los mit dir? Lässt du dich neuerdings verleugnen, wenn dein einziger Bruder dich anruft?«

Sie ist zwar enttäuscht und ärgert sich über seinen unfreundlichen Ton, aber ihr schlägt auch das Gewissen. Tatsächlich hat sie wenig Lust gehabt, sich sein Gejammer über die maroden Finanzen anzuhören und um Geld angebettelt zu werden. Daher hat sie sowohl Carla als auch Fräulein Sonntag gebeten, seine Anrufe abzuwimmeln.

»Ich war sehr beschäftigt«, redet sie sich heraus. »Du weißt ja, dass ich eine Fabrik leite.«

»Das höre ich jedes Mal, wenn ich dich an der Strippe habe«, nörgelt er. »Es scheint wirklich, als wäre dir der Familiensinn völlig abhandengekommen. Die Kinder wissen schon kaum noch, wie du ausschaust, und die Irma hat neulich gemeint, ich sollte besser gar nicht mehr anrufen, weil wir ja nur Luft für dich wären.«

Ilse wirft einen ungeduldigen Blick hinüber zur Fabrik, wo gerade ein Fuhrwerk in den Hof einfährt, das die Edelhölzer liefert, die sie bestellt hat.

»Das ist nicht wahr«, sagt sie in den Hörer. »Ich interessiere mich durchaus für meine Familie und habe zu den Geburtstagen der Kinder Päckchen geschickt. Wenn du allerdings Sorgen hast und dich mit mir aussprechen willst, dann ist das jetzt ein schlechter Zeitpunkt, weil ich hinüber in die Fabrik muss.«

»Ein schlechter Zeitpunkt!«, schimpft er. »Wenn es um deine Familie geht, ist es bei dir immer ein schlechter Zeitpunkt. Hör zu, Ilse, ich hab dir etwas zu sagen: Hier bei uns ist zu Monatsende Ultimo, da müssen wir aus dem Haus und stehen mit den Kindern auf der Straße. So sieht es bei uns aus. Und weißt du auch, wer die Schuld daran trägt? Der Richard Goldstein, der verlogene Jud.«

Ach, du großer Gott! Vermutlich hat die Bank die Hand auf das verschuldete Anwesen gelegt. Das war leider zu erwarten, aber dass er Richard dafür verantwortlich macht, ist eine unglaubliche Frechheit.

»Wie kommst du zu dieser Annahme?«, fragt sie streng.

»Wie ich dazu komme? Das kann ich dir sagen. Versprechungen hat er gemacht und nicht eingehalten. Erst will er uns einen Kredit geben, dann will er immer nur Geld haben, und schließlich hätten wir ihm das Doppelte und Dreifache zurückzahlen müssen …«

»Ein Kredit ist kein Geschenk«, bemerkt sie. »Es ist üblich, dass eine Bank Zinsen für geliehenes Geld nimmt.«

»Aber doch nicht so viel! Und dann kann man doch einmal fünfe gerade sein lassen, wenn’s mit den Zahlungen eng wird. Hätte der uns die fünftausend Reichsmark noch gegeben, dann wäre ja alles gut gewesen …«

Sie begreift, dass es genauso gekommen ist, wie sie es befürchtet hat. Er hat das geliehene Geld verpulvert und die monatlichen Raten nicht mehr zahlen können, dann wollte er einen weiteren Kredit bei »Blum & Hirschberg« aufnehmen, den Richard ihm jedoch verweigert hat. Außerdem erfährt sie nun, dass ihr Bruder nicht nur bei »Blum & Hirschberg« Schulden hat, sondern auch bei anderen Geldgebern in der Kreide steht. Ende des Monats müssen sie nun das Anwesen räumen, da es im Auftrag von drei Banken versteigert wird.

»Das ist ja schon in einer Woche!«, stellt sie entsetzt fest.

»Ja, freilich. Die Zeit rast. Ich hab gedacht, dass wir erst einmal in der Villa unterkommen, bis wir etwas anderes gefunden haben.«

Ihr bleibt beinahe die Luft weg bei dieser Ankündigung.

»Was? Hier in meiner Villa?«

»Wieso ist das deine Villa?«, regt er sich auf. »In der Villa, da sind wir beide aufgewachsen, da haben unsere Eltern gelebt, da sind wir eine glückliche Familie gewesen. Und darum gehört die Villa im Grunde auch mir. So vom Christlich-Moralischen her. Und deshalb ist es ganz natürlich, dass ich mit meiner Familie in der Not im Elternhaus eine Zuflucht finde.«

Was für eine Katastrophe! Sie hätte es wissen müssen. Sie haben seinerzeit das Erbe nach heftigen Streitigkeiten aufgeteilt und die Teilung notariell festgelegt. Josef hat den Gasthof und mehrere Grundstücke in Königstein erhalten, Ilse bekam die Villa und die Fabrik. Wobei die Fabrik zu dieser Zeit kurz vor dem Konkurs stand und Josef ihr geraten hat, die Villa zu verkaufen, um das Geld in seinem Gasthof in Königstein anzulegen. Was für ein Vorschlag! Ihr Vermögen wäre dort ohne Zweifel ebenso versickert wie die Kredite, die ihr Bruder bei verschiedenen Banken aufgenommen hat.

Und jetzt will er also mit Ehefrau und drei Kindern hier in ihre Villa einziehen. Was für eine fatale Klemme! Sie weiß genau, dass sie ihn so schnell nicht wieder loswird, wenn er sich hier einmal breitgemacht hat. Sie wird ihn und seine Familie unterbringen und versorgen müssen, wird dafür wenig Dank, aber viel Ärger ernten, und die Krönung der Geschichte wird sein, dass sich Josef wieder in die Fabrikangelegenheiten einmischen wird. Das kennt sie noch aus trüben vergangenen Zeiten, als er die Fabrik beinahe in den Konkurs gesteuert hat.

»Nein!«, sagt sie energisch. »Hier in der Villa ist kein Platz für euch. Das obere Geschoss ist vermietet, und den ersten Stock bewohne ich selbst.«

»Das ist doch wohl nicht dein Ernst!«, regt er sich auf. »Dein Bruder steht mit seiner Frau und den unschuldigen Kindern obdachlos auf der Straße, und du weigerst dich, deine Christenpflicht zu erfüllen? Oh, wenn das unsere Mutter noch erlebt hätte …«

Vom Fenster aus kann sie ihre Sekretärin Fräulein Sonntag sehen, die zur Villa hinüberläuft. Vermutlich haben sie sie geschickt, um die Fabrikchefin herbeizuholen, das Telefon ist ja ständig besetzt.

»Bitte, mach kein Drama, Josef«, sagt sie in den Hörer. »Ich bin ja durchaus bereit, euch unter die Arme zu greifen. Ich werde mich nach einer Wohnung für euch umsehen und außerdem einen angemessenen monatlichen Beitrag überweisen. Mehr kann ich wirklich nicht tun.«

»Eine Wohnung? Wozu brauchen wir eine Wohnung? Schmeiß den Juden raus, dann können wir in die Villa einziehen. Da ist Platz genug für uns alle …«

Unten im Flur redet Fräulein Sonntag aufgeregt mit Carla; vermutlich stimmt etwas mit der Holzlieferung nicht. Auch das noch, sie hat es schon befürchtet, weil das Holz erstaunlich günstig war.

»Ich rufe dich heute Abend zurück, Josef«, erklärt sie kurz. »Denk über meinen Vorschlag nach – etwas anderes kann ich dir leider nicht anbieten.«

Die aufgebrachte Antwort am anderen Ende der Strippe würgt sie ab, indem sie den Hörer auflegt.

»Ich komme, Fräulein Sonntag!«

Im Eilschritt laufen sie hinüber in die Fabrik, wo das Holz schon zum Teil ausgeladen wurde. Karl Höhn und Ignatz Krum reden auf den Kutscher des Fuhrwerks ein, der bei seinen Pferden steht und ihnen seelenruhig den Hafersack umgehängt hat. Als sie die Fabrikchefin bemerken, eilen sie auf Ilse zu und schimpfen über das »morsche Zeug«, das als »Edelholz« deklariert geliefert wurde.

»Da sind Würmer drin!«

»Das soll Mahagoni sein? Das stinkt nach Öl! Da schimmelt’s schon.«

Sie schaut sich das Zeug an und muss ihren Arbeitern recht geben. Wie ärgerlich! Sie hätte sich auf diesen Handel gar nicht erst einlassen sollen. Der Kutscher behauptet, nur angemietet zu sein, er hat die Ladung in Frankfurt-Höchst in einer Lagerhalle abgeholt und sie pflichtgemäß an Pilz & Küpper in Dingelbach geliefert.

»Gut«, sagt Ilse. »Wir verweigern die Annahme, deshalb werden Sie das Zeug gleich wieder mitnehmen.«

»Dann kriege ich fünfzehn Reichsmark von Ihnen«, fordert er. »Und fürs Ausladen noch mal zehn, weil ich mir da jemanden holen muss.«

»Wieso? Sie bringen die Lieferung zur Lagerhalle zurück, dort wird man Ihnen schon beim Abladen helfen.«

Doch der Kutscher schüttelt den Kopf.

»Da ist keiner. Am Abend schon gar nicht. Und ob der Holzhändler die Ware überhaupt zurücknimmt, weiß ich auch nicht. Entweder, Sie geben mir fünfundzwanzig Reichsmark, oder das Holz bleibt hier.«

Es hilft nichts, sie muss seine Forderung erfüllen, denn wenn sie die Lieferung annimmt, wird der Holzhändler auf Zahlung der Rechnung bestehen. Sie handelt den Kutscher noch auf dreiundzwanzig Reichsmark herunter, dann schickt sie ihm Richard Bommel, der beim Aufladen helfen soll. Verärgert begibt sie sich in ihr Büro, wo sie sich die Rechnung heraussucht und der Sekretärin ein Schreiben diktiert, das der Kutscher mitnehmen soll. Mit zwei Durchschlägen, einen für die Ablage, den zweiten wird sie sicherheitshalber per Post an den Holzhändler schicken. Dann fällt ihr wieder ihr Bruder Josef ein, und sie grübelt, wie sie innerhalb einer Woche eine Unterkunft für ihn und die Seinen finden könnte. Wie es scheint, hat er selbst in dieser Richtung keinerlei Anstrengungen unternommen, sondern sich ganz und gar darauf verlassen, in die Villa einzuziehen. Aber das kann er vergessen. Mit Schaudern denkt sie an die Zeit, da sie gemeinsam dort gewohnt haben und die Schwägerin ihr auf der Nase herumgetanzt ist. Ach, die schönen alten Möbel der Eltern, das Meissener Service, das Silber, die Wäsche mit den Monogrammen, die die Mutter noch eingestickt hatte – alles hat die Irma haben wollen, und sie ist dumm genug gewesen, es ihr zu lassen. Wo sind diese Dinge geblieben, die für sie so viele Erinnerungen bargen? Verkauft und verschleudert haben sie alles – sie darf gar nicht daran denken, sonst steigt ihr wieder der Magen hoch.

Für eine Suchanzeige in der Zeitung ist es zu spät. Was also tun? Sie muss herumfragen, wo eine Unterkunft kurzfristig frei ist. Erst einmal wird sie es bei Fräulein Sonntag versuchen, dann bei ihren Arbeitern, und außerdem wird sie Carla beauftragen, sich vorsichtig umzuhören. Die Unterkunft darf auf keinen Fall in Dingelbach oder in der näheren Umgebung liegen, sonst steht ihr die Schwägerin ständig vor der Tür.

Das Glück ist heute ausnahmsweise auf ihrer Seite. Eine ihrer Arbeiterinnen, Erna Koch, hat eine Tante in Kronberg, die eine Wohnung vermietet. Sie schreibt sich die Adresse auf und bedankt sich. Dann meldet sich auch Julius Offenbach.

»Wenn’s Ihrem Herrn Bruder net zu einfach ist«, meint er schüchtern. »Wir ziehen ja zur Schwiegermutter, da steht mein Elternhaus leer. Herrschaftlich ist’s net, wir sind einfache Leute. Und repariert werden muss auch dies und das. Aber Platz wär da schon …«

Julius Offenbach wohnt in Steinbach, das ist etwa 20 Kilometer entfernt von Dingelbach. Das wäre gerade noch im Rahmen.

»Könnte ich es mir einmal ansehen?«

»Wenn Sie wollen, Frau Küpper. Aber es ist arg viel Durcheinander, weil wir doch im Umzug sind …«

»Das stört mich nicht …«

Am Abend setzt sie sich in ihren Wagen und fährt nach Steinbach. Das Wohnhaus von Julius Offenbach liegt mitten im Ort an der Straße, ein Fachwerkhäuschen mit einer Scheune und einem kleinen Hausgarten neben dem Hof. Frau Offenbach ist eine fleißige Gärtnerin, es stehen noch ein paar letzte Kohlköpfe auf den Beeten, auch Suppengrün und Schnittlauch, dahinter gibt es Johannisbeersträucher und eine Himbeerhecke. Julius Offenbach hat schon auf sie gewartet; er ist sehr verlegen, weil die Fabrikherrin ihm einen Besuch abstattet und es doch so furchtbar unordentlich im Haus ist.

»Letztes Jahr haben wir das Dach flicken müssen, aber sonst ist das Haus recht gut in Schuss. Nur müsste man mal die Wände streichen und die Wohnstubb tapezieren …«

»Das ist kein Problem, Herr Offenbach.«

Er führt sie herum. Unten gibt es hinter der Küche einen kleinen Raum mit einer Badewanne, der Badeofen wird mit Holz beheizt. Außerdem einen größeren Raum, der als Wohnzimmer genutzt wurde. Das Sofa steht noch drin, daneben das alte Spinnrad der Großmutter, ein Kinderbett und eine Truhe.

»Das kommt alles noch weg«, versichert er. »Der Ofen ist in Ordnung, den hab ich immer selber gerichtet. Und die Dielen hat noch der Vater gelegt.«

Oben befinden sich drei kleine Kammern und ein Elternschlafzimmer, die Wände sind tapeziert, man sieht genau, wo ein Schrank gestanden oder ein Bild gehangen hat, weil die Tapete dort noch hell ist. Die Fußböden bestehen aus guten Holzdielen, die vermutlich noch viele Jahre halten werden.

»Und der Dachboden?«

»Da steht noch Gerümpel, aber das schaffen wir fort.«

Alles in allem ist Ilse zufrieden. Schließlich kann Josef keinen Luxus erwarten, wenn sie ihm schon die Miete bezahlt und ihm zusätzlich noch Geld für den täglichen Bedarf überweist. Und wenn es ihm hier nicht gefallen sollte, liegt es an ihm, sich etwas Besseres zu suchen. Dann muss er die Wohnung aber auch bezahlen können.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Herr Offenbach …«

Sie werden rasch einig. Sie wird das Haus erst einmal für den kommenden Monat mieten, da sie nicht sicher ist, ob ihr Bruder einziehen wird. Falls er es jedoch tut, verpflichtet sie sich, verschiedene Renovierungsarbeiten auf ihre Kosten durchführen zu lassen. Dafür erklärt sich Julius Offenbach bereit, das Haus bis Ende der Woche leer zu räumen, die Böden zu kehren und die Fenster zu putzen.

Auf der Rückfahrt plagen sie Zweifel. Was soll sie tun, wenn Josef sich strikt weigert, in dieses Bauernhäuschen einzuziehen, und sich mit Frau und Kindern einfach vor die Tür der Villa setzt? Das wäre ihm zuzutrauen. In diesem Fall wäre sie gezwungen, ihn zumindest vorläufig in der Villa aufzunehmen. Ach, warum ist sie mit einem Bruder geschlagen, der nichts auf die Reihe bringt und ihr nun auch noch auf der Tasche liegen wird? Wenn er wenigstens in sich ginge und seine Fehler einsehen würde. Aber nein – er hat die Dreistigkeit, zu behaupten, Richard Goldstein sei an allem schuld. Das vor allem nimmt sie ihm übel.

In der Villa übergibt ihr Carla mit düsterer Miene einen Briefumschlag.

»Hat Herr Michalski mir vorhin für Sie gegeben …«

Es ist das, was sie befürchtet hat.

Sehr geehrte Frau Küpper,

mit diesem Schreiben kündige ich meine Anstellung in der Fabrik Pilz & Küpper zum 31. Oktober dieses Jahres.

Ich habe mich bei Ihnen stets gut aufgehoben gefühlt und danke Ihnen herzlich für Ihre freundliche Hilfe, die Unterstützung und die guten Ratschläge.

Mein Entschluss, die Fabrik zu verlassen, hat ausschließlich private Gründe.

Hochachtungsvoll,

Oskar Michalski