Kapitel 22

Es ist Abend. Ida sitzt im Schneidersitz auf ihrem Bett und schreibt einen Aufsatz über Goethes Die Leiden des jungen Werthers. Ein dummes Buch, das ihr überhaupt nicht gefallen hat, da hat Herr Goethe bessere Sachen geschrieben. Vor allem seine Gedichte, die sind schön – jedenfalls die meisten. Und der Faust ist auch nicht übel, auch der zweite Teil, der ist zwar weitschweifig, aber er hat was. Aber diese kitschige Geschichte – du liebe Zeit! Wer ist denn so blöd und bringt sich gleich um, weil er das Mädel nicht kriegt, in das er sich verknallt hat? Obgleich – die Mutter hat gesagt, so was hätt’s im Dorf mal gegeben. Ein dummer Bub sei das gewesen, der hätte sich aus Liebeskummer vom Heuboden gestürzt. Na ja!

Sie tut einen schweren Seufzer. Jetzt wird die Deutschlehrerin wieder herumnörgeln, sie hätte den »Gehalt« des genialen Werkes nicht erfasst. Weil Herr Goethe ja der große Dichterfürst ist und man ihn nicht kritisieren darf. Aber das ist ihr egal, sie schleimt nicht herum, bloß um eine gute Note zu bekommen. Sie schreibt, was sie denkt. Punkt.

Auf dem Bett neben ihrem hockt ihre Schwester Frieda und lernt eine Rolle. Sie bewegt die Lippen und starrt dabei in die Luft, dann hält sie wieder inne, runzelt die Stirn und schaut auf das Reclambüchlein, das zwischen ihren Knien liegt. Ida kann das nicht verstehen. Wenn sie einen Text durchliest, dann steckt der fest in ihrem Kopf, da muss sie nicht mehrmals hinschauen, weil sie etwas vergessen hat. Aber die anderen in ihrer Klasse haben mit dem Auswendiglernen viel Mühe, und auch Frieda braucht immer ein Weilchen, bis sie sich alles gemerkt hat.

»Was lernst du da?«, will sie wissen.

»Leonce und Lena

»Von wem?«

»Georg Büchner.«

Büchner, von dem hat Ida schon etwas gelesen. Irgendeinen Aufsatz über Hütten und Paläste. Fand sie sehr gut.

»Geht es da um soziale Ungerechtigkeiten und so?«

Frieda rollt die Augen.

»Nein, das ist ein Lustspiel.«

»Ach so … Kann ich es mal lesen?«

»Jetzt nicht«, knurrt Frieda genervt. »Und stör mich nicht dauernd!«

Wieso ist sie in letzter Zeit eigentlich so unfreundlich, denkt Ida beleidigt. Ob das an dem schönen Richard Graf liegt, mit dem sie Theater spielen darf? Der soll ja »unwiderstehlich« sein, hat die Lieselotte neulich in der Schule gesagt. Ida zieht die Bettdecke um die Schultern. Es ist kalt geworden, bald haben sie schon November, dann kommen die Tage, an denen sie hier oben Wärmflaschen und extra Wolldecken brauchen, weil die Schlafzimmer nicht heizbar sind. Ida hasst die Winterzeit, wenn einem beim Lesen die Finger abfrieren. Sie schaut aus dem Fenster und stellt fest, dass nicht einmal mehr im Pfarrhaus ein Licht brennt. In den anderen Häusern ist es um diese Zeit sowieso dunkel. Die Dingelbacher gehen mit den Hühnern schlafen, so spart man Strom für das Licht. Sie muss sich mit ihrem Aufsatz beeilen, weil gleich Herta ins Zimmer kommen wird und sich nachtfertig macht. Dann muss die Deckenlampe ausgeschaltet werden, weil Herta sonst nicht einschlafen kann.

Sie schreibt einige Sätze, denkt kurz nach und findet den Dreh zu einem vernünftigen Schluss. So, das muss genügen, mehr als drei Seiten schreibt sie nicht zu diesem blöden Buch. Sie hat mit Bleistift geschrieben, dafür wird sie sich wieder einen Rüffel einhandeln, weil sie eigentlich mit der Stahlfeder und Tinte schreiben sollen. Aber wenn sie Tintenflecken in die Bettwäsche macht, kriegt sie Ärger mit Mama, also muss es der Bleistift tun. Sie besitzt drei davon, an allen sind die Enden zerkaut, weil sie immer daran herumknabbert, wenn sie sich im Unterricht langweilt. Was sehr oft vorkommt. Berta Kahn und zwei ihrer Freundinnen besitzen silberne Drehbleistifte, die viel bewundert werden. So einen Firlefanz braucht sie nicht. Das Verhältnis zu Berta Kahn hat sich nicht verändert, sie behandelt Ida immer noch »von oben herab«. Allerdings ist es ruhiger in der Klasse geworden, offene Feindseligkeiten brechen kaum noch aus, und wenn es doch einmal geschieht, wird es schnell geregelt. Ida nimmt an, dass auch Berta Kahn nach der Sache mit der Postkarte »ihr Fett abgekriegt« hat, davon haben zwar weder die Lehrerinnen noch Berta etwas erzählt, aber seitdem nimmt sie sich zusammen. Auch Ida versucht nach Kräften, Ärger mit den Mitschülerinnen zu vermeiden. Sie hat andere Sorgen.

Am Freitag ist sie mit dem Buch von Karl Marx in der Buchhandlung gewesen und hat auf Florian gewartet, weil sie sich doch heute treffen wollten. Er ist lange ausgeblieben, sodass sie schon gefürchtet hat, die Vorstadtbahn zu verpassen, aber dann ist er doch in die Buchhandlung gekommen und gleich auf sie zugegangen.

»Guten Tag, Ida. Schön, dass du auf mich gewartet hast. Hat dir das Buch gefallen?«

Sie hat sich sehr gefreut und wollte ihm lang und breit erzählen, was ihr beim Lesen aufgefallen ist und dass sie ihn verschiedene Sachen fragen muss. Aber er hat ihr das Buch schnell aus der Hand genommen und in seine Tasche gesteckt; dabei hat er gemurmelt, er habe es heute eilig.

»Muss gleich zu einer Vorlesung. Bis bald dann …«

Gelächelt hat er auch nicht, eher hat er verkniffen dreingeschaut, als wäre es ihm peinlich, mit ihr gesehen zu werden. Wie er draußen war, hat sie durchs Schaufenster sehen können, dass er zu drei Freunden gegangen ist, die wohl auf ihn gewartet haben. Zwei waren Studenten, das konnte man sehen, weil sie Mappen mit Büchern unter dem Arm trugen, die Dritte war ein Mädchen. Ida hat zweimal hinsehen müssen, bis sie Charlotte wiedererkannt hat, denn sie war ganz anders angezogen als damals in Dingelbach auf dem Hof vom Killinger Hannes. Jetzt trug sie Rock und Bluse und darüber eine lockere Jacke, die Haare hatte sie schön frisiert und die Lippen geschminkt. Wie eine Sekretärin oder ein Fräulein vom Amt hat sie ausgesehen. Wahrscheinlich hat sie ihre Mittagspause genutzt, um die Studenten zu treffen. Ida hat überlegt, ob die drei der Grund sind, dass Florian so kurz angebunden war, und sie hat sich sehr über ihn geärgert. Schon deshalb, weil sie ihn fragen wollte, ob er sie einmal mit in die Universität nimmt, aber auch, weil er solch ein Feigling ist und sich für sie vor seinen Freunden schämt.

»Bis bald dann …«, hat er gesagt. Da kann er lange warten. Mit so einem gibt sie sich nicht ab. Der ist für sie ab jetzt gestorben. Aus und fertig.

Traurig ist sie schon gewesen, wie sie danach heimgefahren ist. Und eigentlich ist sie immer noch traurig. Weil sie ihn gern mag und eigentlich gedacht hat, dass sie Freunde sind. Aber sie hat eben nur eine Seite von ihm gekannt, die liebenswürdige, offene Seite, und nun weiß sie, dass er auch anders sein kann. Das ist schade, aber nicht zu ändern. Sie klappt das Heft mit dem Aufsatz zu und steckt es zu den anderen Schulsachen in den Tornister, den Bleistift wirft sie hinterher, dann schnallt sie den Tornister zu und schiebt ihn vom Bett, dass er mit einem Plumps auf dem Fußboden landet.

Frieda zuckt zusammen und schaut wütend zu ihr hinüber. »Musst du immer solchen Krach machen?«, schimpft sie.

»Stell dich doch nicht so an. Wenn du deine Rollen übst, schreist du auch herum.«

»Ich schreie nicht herum, ich gestalte meinen Text.«

»Na und? Laut ist laut, oder?«

Frieda öffnet den Mund, um eine zornige Antwort zu geben, aber da tut sich die Tür auf, und Herta betritt das Schlafzimmer.

»Müsst ihr schon wieder streiten?«, sagt sie weinerlich. »Es ist zum Verzweifeln mit euch, nie gebt ihr Ruhe. Ich halte es bald nicht mehr aus in diesem Haus …«

Ach, herrje – sie hat schon wieder geheult. In letzter Zeit hat sie noch näher am Wasser gebaut als früher, bei der kleinsten Kleinigkeit fängt sie an zu schniefen und fährt sich mit der Hand übers Gesicht. Ida vermutet, dass es an Sirius Engelke liegt, der neulich bis fast sieben Uhr am Abend mit der Mutter und Herta in der Küche gesessen hat. Das war sehr ungewöhnlich, und deshalb hat sie mal an der Tür gehorcht. Da hat sie gehört, wie er von seinen verstorbenen Eltern erzählt hat, die in Höchst ein Konfektionshaus geführt haben. Aber das ist im Krieg pleitegegangen, und deshalb ist er Handelsvertreter geworden, wie er aus dem Krieg gekommen ist. Und dass er so viel arbeitet und deshalb keine Zeit hat, eine Frau kennenzulernen. Lauter Sachen hat er geredet, die gar nichts mit den Waren zu tun haben, die er ihnen immer bringt. Die Mutter hat immer nur »Ach ja?« oder »Na so was« gesagt, aber Hertas Stimme war kein einziges Mal zu hören. Nur ist sie danach ganz durcheinander gewesen, hat den Reis und das Salz falsch abgewogen und zu heulen angefangen, wenn man sie nur schief angesehen hat.

Denkt sie vielleicht, der Sirius Engelke hat ihnen so viel von sich erzählt, weil er sie heiraten will?

Auch jetzt benimmt sich Herta merkwürdig. Anstatt sich auszuziehen und eines ihrer scheußlichen langen Nachthemden anzulegen, macht sie den Kleiderschrank auf und starrt hinein.

»Ich weiß net«, flüstert sie. »Soll ich das morgen anziehen? Aber das ist doch zu gewagt. Nein, ich tu’s lieber nicht …«

Ida weiß gleich, dass Herta das rote Kleid meint, das die Helga für sie aus dem Stoff genäht hat, den die Großmutter ihr geschenkt hat. Zumindest glaubt sie das, denn eigentlich ist der Stoff ja für Ida bestimmt gewesen.

Friedas Gedankengänge sind dieses Mal ausnahmsweise ein Stückchen weiter voraus als die ihrer kleinen Schwester.

»Kommt der Sirius etwa morgen?«, will sie wissen.

Herta schreckt zusammen, als hätte jemand sie beim Nasebohren ertappt.

»Wie kommst du denn auf so was?«

»Weil du dich hübsch machen willst«, meint Frieda lachend. »Das ist auch richtig so. Aber das rote Kleid solltest du nicht anziehen, da wärst du zu fremd für ihn. Zieh den neuen Rock an und eine von meinen Blusen. Das wird ihm gefallen.«

Ida fürchtet schon, dass Herta jetzt ärgerlich wird und Frieda zurechtweist, aber zu ihrem Erstaunen seufzt sie nur und setzt sich auf ihr Bett.

»Die Lore Dippel hat im Laden erzählt, der Alfred hätte gestern vier Säcke Mehl nach Altenhain gefahren, und da hätt er den Sirius getroffen. Der hat ihm gesagt, er müsste morgen noch mal nach Dingelbach, weil er neue Socken und Nähgarn hereinbekommen hätte …«

»Da schau an«, meint Frieda lächelnd. »Der war doch erst letzte Woche hier, und jetzt kommt er schon wieder. Das lässt tief blicken, Herta …«

»Ach, sei doch still!«, ruft Herta und fängt schon wieder an zu weinen. »Was soll da sein? Gar nichts ist da. Der redet immer nur alles Mögliche daher. Aber anfangen kann man nichts damit …«

Weil die Mutter immer bei ihnen in der Küche sitzt, denkt Ida, da kann ja auch nichts draus werden. Und dann hockt die Herta steif wie ein Stock auf ihrem Stuhl und glotzt ihn an wie eine Mondsüchtige. Da kann einem wie dem Sirius schon der Mut vergehen.

Frieda sieht die Sache von der praktischen Seite. Sie nimmt den neuen Rock und eine der feinen Blusen aus dem Schrank, die die Großmutter ihr gekauft hat.

»Da! Zieh das mal an!«

»Aber doch net solch eine städtische Bluse …«

»Nun mach schon! Ich will sehen, wie es aussieht.«

Tatsächlich gehorcht Herta – es muss ihr wirklich sehr schlecht gehen. Sie schweigt sogar betreten, als Frieda kopfschüttelnd bemerkt: »Neue Unterwäsche brauchst du auch. Dieses alte Korsett von Mama hat wirklich ausgedient. Ich besorg dir mal ein paar hübsche Schlüpfer und einen schicken Büstenhalter.«

Ida springt von ihrem Bett; sie will sich auch an der Verschönerung ihrer Schwester beteiligen. Sie sucht ein Paar zierliche dunkelblaue Schuhe aus dem Schrank, die natürlich Frieda gehören.

»Die passen dazu!«

»Aber die sind mir zu klein …«

»Dann ziehst du sie erst kurz bevor er kommt an und kneifst die Zehen ein«, rät Frieda, die mit Idas Wahl zufrieden ist. »Wer schön sein will, muss leiden. Dreh dich mal herum. Die Bluse musst du so einstecken, dass sie ein wenig über der Taille bauscht. Lässig soll das wirken und nicht gestopft wie eine Leberwurst. Und oben den Knopf offen lassen, das ist sehr wichtig.«

»Du siehst famos aus!«, sagt Ida und meint es ganz ehrlich.

»Aber die Schuhe drücken …«

»Setz dich mal hin, ich mach dir jetzt die Haare«, fordert Frieda, die ganz in ihrem Element ist.

»Die solltest du überhaupt abschneiden«, gibt Ida ihren Senf dazu. »Das ist modern, und praktisch ist es auch.«

»Nein, auf keinen Fall«, widerspricht Frieda, die den Mund voller Haarnadeln hat. »Der Sirius ist von der altmodischen Sorte, der mag langes Haar.«

Herta lässt alles mit sich machen. Gottergeben sitzt sie auf der Bettkante, während Frieda ihr den zusammengedrehten Haarknoten löst und das lange Haar kräftig bürstet. Schönes Haar hat sie nicht, die Herta. Dunkelblond und strähnig ist es.

»Diese ›Glaubensfrucht‹ im Nacken steht dir nicht«, schwatzt Frieda in ihrer fröhlichen Art. »So was tragen nur alte Frauen. Pass auf, ich stecke es dir jetzt mal anders auf, da wirst du staunen.«

Wie geschickt sie ist! Ida sieht voller Bewunderung zu, wie unter Friedas Händen eine ganz neue Frisur entsteht. Locker sitzt das Haar, nicht so angeklatscht wie früher, und am Hinterkopf ist es nicht zu einem Knötchen gedreht, sondern gefällig zusammengeschlungen und mit Haarnadeln festgesteckt. Herta schaut gar nicht mehr so steif und verhärmt aus wie sonst, sie ist beinahe hübsch. Nur die Mundwinkel könnte sie mal nach oben ziehen und die Stirnfalte glätten.

»Ich mach dir das morgen so, bevor ich nach Frankfurt fahre«, verspricht Frieda eifrig. »Wenn du damit nicht draußen in Wind und Regen herumrennst, dann hält das bis zum Abend. Da – schau in den Spiegel. Na? Wie gefällst du dir?«

Sie hält Herta den kleinen Taschenspiegel vor, den die Großmutter ihr zum Geburtstag geschenkt hat. Aus echtem Silber ist der, und auf der Rückseite sind kleine Blümchen und Schleifen eingraviert. Herta nimmt das edle Teil ganz vorsichtig in die Hand und schaut sich von allen Seiten an.

»Ganz fremd schaut das aus«, sagt sie leise. »Da muss ich mich erst dran gewöhnen. Was die Mutter wohl dazu sagt? Und die Leute im Laden? Die werden gewiss sagen, das sei ›aufgedonnert‹.«

»Willst du in Sack und Asche herumlaufen, bloß damit die Leut nichts reden?«, fragt Ida ärgerlich.

Frieda ist schon beim nächsten Punkt der schwesterlichen Hilfsaktion.

»Was sagst du zu ihm, wenn er kommt?«

»Was soll ich sagen?«, meint Herta verständnislos. »Guude sag ich.«

»Meinetwegen. Besser wäre aber ›Guude, lieber Herr Engelke‹. Betonung auf ›lieber‹. Und dabei musst du lächeln. Versuch’s mal.«

»Guude, lieber Herr …«

»Lächeln!«, ruft Frieda und macht es vor. »So richtig herzlich. Du musst ihm zeigen, dass du dich freust. Sonst denkt er, du magst ihn nicht, und geht wieder fort. Also, noch mal!«

Herta gibt ihr Bestes; es schaut trotzdem aus, als hätte sie Zahnschmerzen.

»Guude, lieber Herr …«

»Besser. Aber noch nicht gut. Denk an etwas Schönes. Einen strahlend blauen Himmel, ein weißes Täubchen auf dem Gartenzaun oder …«

»Oder dass die Schütz Gertrud genau vor dem Dorfladen aufs Maul fällt …«, hilft Ida aus.

Sie kassiert einen ärgerlichen Blick ihrer Schwester Frieda und zuckt mit den Schultern. Dann eben nicht. Überhaupt ist das vergebliche Liebesmühe, eine herzlich lächelnde Herta hat’s noch nie gegeben. Also überlässt sie den Rest der Übung ihrer Schwester Frieda, die lernt so was schließlich auf der Schauspielschule. Sie selbst geht noch mal schnell aufs Örtchen, wäscht sich Hände und Gesicht und verkrümelt sich dann ins Bett. Während sie hinüber ins Schlafland gleitet, hört sie immer noch die Sätze:

»Ich freu mich, dass Sie uns wieder besuchen …«

»Freude, Herta! Mehr Freude! Er muss spüren, wie sehr du dich freust …«

Am Morgen steht Herta in aller Frühe am Herd, um Ida das Frühstück zu machen. In ihrem blassen Gesicht ist kein bisschen Freude zu erkennen, aber vielleicht hebt sie sich ja die erlernten Verführungskünste für nachher auf, wenn der Sirius da ist. Ida hat es eilig, weil sie wieder mal spät dran ist.

»Viel Glück!«, sagt sie, grinst der Schwester zu und läuft los.

In der Schule sitzt sie heute allein in der Bank, denn Lieselotte ist krank; auch zwei andere Mitschülerinnen fehlen. Wie es scheint, gehen die Herbsterkältungen um. In der ersten Stunde, zu der sie wegen des Fahrplans der Vorstadtbahn immer fünf Minuten später kommt, haben sie Mathematik, das ist öde, weil die Lehrerin die einfachsten Dinge stundenlang erklären muss. Einige Schülerinnen haben solche Angst vor diesem Fach, dass sie vorher Bauchschmerzen bekommen und auf die Toilette laufen müssen. Auch Berta Kahn hat einige Mühe damit, das hat Ida schon gemerkt. Aber Berta hält sich tapfer, und was sie im Unterricht nicht verstanden hat, erklären ihr die Eltern zu Hause. So geht das eben, wenn man das Kind reicher Stadtleute ist. Ida könnte höchstens zu Lehrer Hohnermann gehen, um sich etwas erklären zu lassen. Aber zum Glück hat sie das nicht nötig.

Im Deutschunterricht bei Fräulein Hübner muss Ida vor die Klasse treten und ihren Aufsatz vorlesen. Und Fräulein Hübner sagt natürlich genau das, was Ida vorausgesehen hat.

»Das ist enttäuschend, Ida. Bevor du aus Unwissenheit vorschnelle Urteile fällst, solltest du besser zuhören und nachdenken.«

Sie wird auf ihren Platz geschickt, dafür ruft Fräulein Hübner Pauline auf. Während Ida an den anderen vorbei nach hinten geht, vernimmt sie hämisches Getuschel.

»Jetzt hat sie’s abgekriegt, die Streberin.«

»Wie die wieder angezogen ist. Hast du die Strümpfe gesehen?«

»Und erst die Schuhe. Da hängt noch der Stallmist dran.«

Ida kennt das schon. Sie hat sich vorgenommen, auf solche Gemeinheiten nicht mehr zu reagieren, weil das sowieso nichts ändert. Aber dann hört sie einen Satz, der sie verblüfft.

»Halt den Mund, Charlotte. Wenn du noch mal so was sagst, bist du nicht mehr meine Freundin!«

Das war Berta! Unfassbar, sie weist ihre Parteigängerin zurecht. Warum tut sie das? Nun – wahrscheinlich verstellt sie sich, weil sie irgendeine noch größere Bosheit ausbrütet. Ida ist misstrauisch und nimmt sich vor, auf der Hut zu sein. Paulines Aufsatz ist erwartungsgemäß schwach; dann wird Berta aufgerufen, die mit ihrem Schulheft nach vorn geht. Ida wird nie verstehen, wie eine ihr Heft ohne einen einzigen Tintenklecks oder ein Eselsohr führen kann. Bertas Aufsatz ist nicht übel, aber natürlich schreibt sie genau das, was Fräulein Hübner erwartet. Weil sie eben ihr Mäntelchen nach dem Wind richtet.

»Ausgezeichnet, Berta. Ich hoffe, ihr habt alle gut zugehört und euch ein Beispiel genommen. Du kannst dich wieder setzen …«

Ida ist froh, dass Lieselotte heute krank ist, denn die hätte jetzt bestimmt über Berta gelästert, und dann hätte Ida sich überlegen müssen, ob sie sie vielleicht auch zurückpfeift.

Später gibt es eine Klassenarbeit in Französisch, da ist die Lehrerin verärgert, weil drei Schülerinnen fehlen, aber die Arbeit wird trotzdem geschrieben. Es ist bloß ein Diktat und eine kleine Grammatikaufgabe. Ida schreibt es lustlos hin, aber Gisela fängt schon wieder an zu weinen, weil sie beim Diktat nicht mitgekommen ist. Danach haben sie zwei Stunden Zeichenunterricht, und dann ist die Schule endlich aus. Ida ist als Erste im Flur und will gleich losrennen, denn dann könnte sie die Linie 6 noch erwischen und mit etwas Glück die frühere Vorstadtbahn nehmen. Es ist knapp, aber sie hat es schon zweimal geschafft. Schließlich ist sie neugierig, wie die Sache mit dem Sirius Engelke zu Haus ausgeht.

Aber wie sie gerade zum Schultor hinausstürmen will, hört sie, dass jemand nach ihr ruft. Mit Berta Kahn will sie jetzt eigentlich auf keinen Fall reden, aber dann muss sie leider stehen bleiben, weil Berta sie eingeholt hat.

»Warte doch mal, Ida. Ich hab da was für dich. Von meinen Eltern.«

»Von deinen … Eltern?«

»Ja, von meiner Mutter.«

Das kann nur was Schlimmes sein, denkt Ida. Frau Kahn ist ganz bestimmt wütend auf mich. Vielleicht hat sie mich bei der Polizei angezeigt, weil ich ihrer Tochter eine Ohrfeige verpasst habe.

Berta reicht ihr einen Umschlag aus teurem Papier. Solches, das es daheim im Laden nicht gibt, weil man es nur in Frankfurt kaufen kann.

»Was ist das?«

Berta schluckt und scheint sich recht unwohl zu fühlen. Dann sagt sie: »Meine Mutter bittet dich, nächsten Dienstag mit uns zu Mittag zu essen.«

Das ist so etwa das Letzte, das Ida erwartet hat. Eine Einladung. Vermutlich will Bertas Mutter ihr die Leviten lesen. Da geht sie am besten gar nicht hin.

»Danke«, sagt sie hoheitsvoll. Dann hat sie das Gefühl, etwas Nettes sagen zu müssen. »Dein Aufsatz heute war übrigens recht gut.«

Berta schaut sie mit unbeweglicher Miene an. Man kann nicht erkennen, ob sie sich über das Lob freut oder wütend darüber ist. Wahrscheinlich ist sie aber wütend.

»Deiner auch«, sagt sie. »Komm gut nach Hause, Ida. Bis morgen.«

Die muss heute Kreide gefressen haben, denkt Ida und steckt den Umschlag in ihren Tornister. Natürlich ist die Linie 6 jetzt auf und davon, da kann sie genauso gut zu Fuß zur Hauptwache laufen und auf der alten Mainbrücke stehen bleiben, um in den grauen, gewaltig dahinströmenden Fluss zu spucken. Später, als sie in der Bahn sitzt, öffnet sie den Umschlag und zieht eine Karte heraus. Goldgerändert ist sie, ganz vornehm. Darauf steht in schön geschwungener Handschrift:

Liebe Ida,

wir würden uns freuen, Dich am kommenden Dienstag bei uns zum Mittagessen zu sehen.

Nach allem, was wir von Deiner lieben Großmutter über Dich erfahren haben, scheinst Du ein ungewöhnliches und reich begabtes Mädchen zu sein, und darum wäre es erfreulich, wenn gewisse Unstimmigkeiten und Missverständnisse, die zwischen Dir und unserer Berta aufgetreten sind, ausgeräumt werden könnten.

Mit herzlichen Grüßen

Rosemarie Kahn

Die Oma steckt dahinter! Das hätte sie sich denken können. Ida ist nicht begeistert von diesen Machenschaften ihrer Großmutter hinter ihrem Rücken. Ob sie die Einladung annimmt, das muss sie sich noch sehr überlegen.

Zu Hause in Dingelbach ist der Laden voller Frauen. Die Seybold’sche steht vorn an der Theke und wird von der Mutter bedient, Herta fischt Salzheringe aus dem Fass und legt sie in den Steinguttopf, den die Lina Altmann ihr hinhält. Die schöne Bluse und den neuen Rock hat Herta nicht mehr an, sie trägt wieder das alte Kleid und die Schürze darüber. Nur das Haar hat sie noch aufgesteckt, wie Frieda es ihr gezeigt hat. Hedi Schmidtkunz schwatzt mit der Lore Dippel, der Frau vom Müller, und auch das Lenchen Grossmann ist mit der alten Einkaufstasche gekommen.

»Na, ist die Schule aus?«, begrüßt sie Ida. »Da wirst du müd sein, wo du doch immer so weit mit der Bahn fahren musst, gelle?«

»Geht so«, knurrt Ida und schiebt sich an ihr vorbei.

»Noch vor Weihnachten?«, sagt hinter ihr die Lore Dippel. »Die haben’s aber eilig. Ist der Otto denn überhaupt schon von der Helga geschieden, dass er sich gleich wieder verehelichen kann?«

»Die Guckes Karin hat gesagt, er sei hinüber nach Königstein aufs Amt gefahren. Mit der Bahn ist er gefahren, weil er allweil noch keinen Führerschein hat.«

»Ei, freilich haben die’s eilig«, ruft die Lina Altmann hinüber. »Wo doch schon was unterwegs ist.«

Die Frau Pfarrer Seybold nickt bekümmert und äußert zu Herta, dass die Unzucht nun auch im schönen Dingelbach überhandnehme und dass der Herr Pfarrer ganz unglücklich darüber sei.

»Im Heu soll’s passiert sein …«, flüstert die Dippel Lore so laut, dass es alle hören können.

Die Mutter hat jetzt Ida erspäht und winkt ihr, sie solle in die Küche gehen, wo sie das Mittagessen für sie aufgehoben haben. Ida setzt den Ranzen ab und will schon hineingehen, da bleibt sie stehen, weil hinten die Hedi Schmidtkunz etwas zu Herta sagt.

»Der Sirius Engelke ist ja heut recht früh beim Laden gewesen, netwahr? Die Luise, die Tochter vom Altmann Schorsch, die hat gemeint, der hätte ja ein Blummesträußsche dabeigehabt …«

»Ja – ist des die Möglichkeit?«, ruft Lenchen Grossmann und schlägt die Hände zusammen. »Ja, Herta! Da gratulier ich auch!«

Auf einmal schauen alle die arme Herta an, die jetzt ganz rot wird und die Hände abwehrend vor sich hält.

»Aber nein … nicht doch …«

Marthe Haller kommt ihrer Tochter zu Hilfe und erklärt, dass es zwar eine Bewerbung gäbe, die Sache aber noch nicht spruchreif sei.

Geflüster, Gemurmel, verständnisinnige Blicke unter den Frauen.

»Jedes Dippsche findet sei Deckelsche …«, zitiert die Lina Altmann fröhlich.

Auch die Frau Pfarrer, die gerade zwei Tütchen mit Salz und Malzkaffee in ihre Tasche stellt, muss ihre Meinung kundtun.

»Da wünsche ich Gottes Segen! Du wirst ihn brauchen, mein armes Kind!«