Kapitel 30
Friedas Geduld ist am Ende. Wie lange soll dieser Streit um Hertas Heirat noch gehen? Seit Wochen liegt Herta im Bett und ist angeblich krank, und die Mutter ist völlig entnervt, rennt in jeder freien Minute hinauf, um der Tochter die Ehe mit dem Sirius auszureden. Dass die brave Herta einmal so beharrlich gegen die Mutter aufmucken würde, hätte Frieda nicht gedacht. Zweimal ist Onkel Schorsch ins Haus gekommen und hat mit der Mutter geredet, dass sie doch nachgeben soll. Aber die Mutter ist ganz hysterisch geworden und hat geschimpft, die Sache ginge ihn gar nichts an, er solle sich nicht einmischen. Da hat Onkel Schorsch schließlich gemeint: »Alsdann macht doch, was ihr wollt, ihr zwei narrisch Steck!«
Seitdem ist er nicht mehr hier aufgetaucht, aber der Streit im Hause Haller geht ungebrochen weiter.
»Die Herta ist so dumm!«, sagt Ida, als sie am Abend miteinander in der Küche sitzen. »Warum heiratet sie nicht einfach? Die ist doch volljährig, da kann sie tun und lassen, was sie will.«
»Die will doch eine richtige, große Hochzeit hier in der Kirch in Dingelbach haben. Damit alle Leut sehen, dass sie einen abbekommen hat.«
Ida schnaubt verächtlich. Sie hat ihr Mathematikheft neben dem Teller liegen und zeichnet mit Bleistift und Lineal Dreiecke.
»Und die Mama will sie net heiraten lassen, weil sie sie im Laden braucht«, meint Ida und schreibt kleine Zahlen in ihr Heft. »Die spinnen doch alle zwei. Aber die Mama am meisten.«
Das findet Frieda auch. Schließlich sieht Herta ihr Lebensglück darin, dass sie einen Ehemann findet und Kinder bekommt. Wie kann die Mama von ihr verlangen, dass sie stattdessen ihr Lebtag im Dorfladen steht und eine alte Jungfer wird?
»Irgendwann wird die Mutter schon aufgeben«, meint Ida schulterzuckend. »Ich glaub, dass die Herta dieses Mal den längeren Atem hat. Die hält mit ihrem Streik noch bis Weihnachten durch.«
»So lang kann ich net warten«, seufzt Frieda. »Die Mutter muss meinen Vertrag unterschreiben, sonst denken die in Bochum am Ende, ich will das Engagement gar net haben.«
Die Sache ist heikler, als sie es sich in ihrer ersten Begeisterung vorgestellt hat. Noch hat die Mutter keine Ahnung davon, dass sie in Bochum vorgesprochen hat. Und dass sie sogar angenommen wurde und nun einen Bühnenvertrag mit sich herumträgt, das weiß die Mutter natürlich auch nicht. Damals, als Frieda in der Schauspielschule aufgenommen wurde, hat es harte Verhandlungen mit der Mama gegeben, weil sie nicht wollte, dass ihre Tochter eine Schauspielerin wird. Nun – schließlich hat sie es doch gestattet, wenn auch widerwillig. Friedas ganze Hoffnung ist, dass die Mama sich auch dieses Mal wieder überreden lassen wird. Aber dazu müsste sie ihre fünf Sinne beisammenhaben und ruhig überlegen können. Und das geht momentan überhaupt nicht, weil die Mutter das reinste Nervenbündel ist.
Ida zieht noch ein paar Linien, dann klappt sie das Heft zu. Auf dem dunkelblauen Umschlag prangt ein Fettfleck von der Räucherwurst. Sie wischt mit dem Ärmel drüber, aber der Fleck geht nicht weg, er wird nur größer. Ärgerlich stopft sie das Heft in den Tornister und wirft Bleistift und Lineal hinterher. Frieda schüttelt den Kopf. Wie unordentlich Ida doch ist! Sie selbst passt höllisch auf, dass sie die guten Kleider, die die Großmutter für sie kauft, auf keinen Fall schmutzig macht. Und die Bücher, die sie für die Schauspielschule braucht, liest sie nur im Bett und niemals in der Küche, wo der Tisch immer voller Krümel und Flecke ist.
»Ich hab eine Idee«, sagt Ida und blinzelt Frieda verschwörerisch an.
»Lass hören!«
Ida geht zur Tür und horcht in den Flur hinein. Oben redet die Mutter laut über die Schlechtigkeit des Sirius. Gut so, die ist also aus dem Weg. Sie geht zurück in die Küche und macht die Tür leise zu.
»Pass auf, Frieda. Wenn du der Mutter sagst …«
Frieda hört sich die großartige Idee an und ist nicht begeistert.
»Das wär ja, als wollt ich den Teufel mit dem Beelzebub austreiben!«
»Wieso?«, fragt Ida beleidigt. »Das ist ein kluger, vernünftiger Vorschlag, da könnt jede zufrieden sein, und der Streit wär endlich vorbei.«
»Schon«, gibt Frieda zweifelnd zu. »Ich denk nur, die Mama hat momentan keinen Sinn für kluge Vorschläge.«
»Wenn du noch bis Weihnachten wartest, ist es aus mit dem Vertrag!«
Da hat Ida auch wieder recht. Frieda geht mit der Schwester hinauf ins Schlafzimmer, zieht das Kleid aus, hängt es sorgfältig auf einen Bügel und quetscht es in den vollen Kleiderschrank hinein. Dabei denkt sie, wie schön es wäre, ein Zimmerchen ganz für sich allein über den Dächern von Bochum zu haben. Es braucht nicht groß zu sein: ein Bett, ein Nachttischchen, eine kleine Kommode. Vielleicht sogar ein eigenes Waschbecken mit fließendem Wasser. Auf jeden Fall aber ein eigener Kleiderschrank, wo ihre Sachen nicht zwischen den Kleidern der Schwestern zusammengedrückt und verknittert werden. Dann könnte sie kommen und gehen, ohne jemanden fragen oder gar um Erlaubnis bitten zu müssen. Nicht, dass sie sich in den Nächten in irgendwelchen Bars herumtreiben würde, wie die Mutter fürchtet. Aber ab und zu einen Kaffee in der Konditorei mit einer netten Kollegin trinken. Oder mit einem Kollegen. Das wär unsagbar schön. In der Stadt wohnen. Theater spielen. Die große Freiheit erleben. Endlich raus aus Dingelbach, diesem trübsinnigen Kaff, wo man noch vor Sonnenaufgang vom Geschrei der Gockel geweckt wird.
»Hast du mit der Großmutter geredet?«, fragt Ida, die schon im Bett hockt und natürlich wieder ein Buch unter dem Kopfkissen hervorgezogen hat.
»Hab ich«, seufzt Frieda. »Aber sie sagt, sie kann nichts tun.«
»Behauptet sie«, meint Ida verdrossen. »Aber ich wette, sie könnt einen Dreh finden, wenn sie nur wollte.«
Das ist echt Ida. Die ärgert sich immer noch, dass die Großmutter sie nicht auf ein Knabengymnasium hat schicken wollen. Seitdem geht sie nur noch selten in die Bockenheimer Landstraße und behauptet, es passe ihr nicht, dass sich die Großmutter in ihre Angelegenheiten einmischt. Frieda ist nicht so nachtragend. Natürlich hat sie sich über die Sache mit Richard Graf sehr geärgert, aber lange kann sie nicht mit jemandem böse sein, das hält sie nicht aus. Daher hat sie die Großmutter schon wenige Tage später besucht, und sie ist froh gewesen, dass sie dort so liebevoll wie immer empfangen wurde. Die Großmutter hat ihr sogar die Fahrkarte nach Bochum bezahlt und ihr etwas Geld gegeben, damit sie sich unterwegs etwas zu essen kaufen und einen Kaffee trinken konnte.
»Toi, toi, toi«, hat sie Frieda am Abend vorher gewünscht und ihr über die linke Schulter gespuckt, wie man es am Theater macht. »Und berichte mir gleich, wie es gegangen ist, ja?«
Das hat Frieda natürlich noch am gleichen Abend getan, denn sie hat der Mutter erzählt, sie müsse für Annemarie im Fröhlichen Weinberg einspringen und deshalb in Frankfurt übernachten. Ach ja, immer diese Lügerei, zu der sie gezwungen ist. Auch das wird die Mutter ihr natürlich vorhalten, wenn es zu dem entscheidenden Gespräch kommt.
Die Großmutter ist hellauf begeistert gewesen, als Frieda ihr von ihrem großen Erfolg berichtet hat. Zuerst hat sie sie fest umarmt und gemurmelt, dass sie stolz auf sie ist. Dann hat sie ihre Angestellte gerufen und zwei Gläschen Sekt bringen lassen, weil dieses Ereignis gefeiert werden müsse.
»Französischer Champagner«, hat sie gesagt. »Etwas anderes kommt für diesen Anlass nicht infrage.«
Sie haben miteinander angestoßen, und Frieda hat das prickelnde Getränk mit Andacht getrunken. Nicht, weil es ihr geschmeckt hätte, sondern weil die Großmutter so stolz auf sie war, dass sie sogar Champagner servieren ließ. Dann musste sie haarklein berichten, wie es zugegangen ist, wer bei dem Vorsprechen dabei war, was sie dazu gesagt haben und welche Rollen man ihr in Aussicht gestellt hat.
»In Bochum wirst du Shakespeare spielen, das wird dir gefallen«, hat die Großmutter gemeint. »Sie haben einen hervorragenden Intendanten, den Saladin Schmitt, der auch dem Duisburger Schauspielhaus vorsteht. Ich denke, das ist für eine junge Schauspielerin wie dich eine ganz großartige Chance.«
Saladin Schmitt kennt Frieda schon, da er beim Vorsprechen anwesend war. Sie ist ein wenig skeptisch gewesen, weil er sie so durchdringend mit seinen schwarzen Augen angestarrt hat und dabei so ernst gewesen ist. Aber sie hat ihn überzeugt! Diese Bastion hat sie im Sturm genommen mit ihrer Lebendigkeit, ihrem Temperament, ihrer schauspielerischen Begabung. An diesem Abend ist sie überzeugt, die Bühnenwelt aus den Angeln heben zu können. Wozu auch die Großmutter beigetragen hat.
»Das Bochumer Schauspielhaus ist ein wunderbares Sprungbrett, Frieda, dort wirst du viel lernen und dir die ersten Sporen verdienen. Bleib dort zwei oder drei Spielzeiten, dann kannst du es in München, Hamburg oder Berlin versuchen.«
In der Nacht hat sie vor Glück kaum schlafen können, sich in allen möglichen Rollen auf der Bühne gesehen und Monologe vor sich hin geflüstert. Ach, wie schade, dass Richard Graf es nicht mehr mitbekommen hat, aber der ist inzwischen nach Wien gereist. Vielleicht wird sie ihm ja demnächst auf einer großen Bühne begegnen und dann sogar seine Partnerin sein.
Am Morgen hätte sie beinahe verschlafen, aber die Großmutter hatte ihre Angestellte angewiesen, sie zu wecken. Das Frühstück hat sie wie meist in letzter Zeit allein eingenommen, weil die Großmutter am Morgen länger schläft, aber neben ihrem Teller hat eine kleine Geldbörse mit einem Zettel gelegen.
»Falls du mit deinen Kollegen das große Ereignis im Café feiern willst …«
In der Börse war ein großzügiger Geldbetrag. Ach, die liebe Großmutter! Sie denkt wirklich an alles. Natürlich wird sie die frohe Nachricht heute gleich in der Schauspielschule erzählen, denn da sie gestern gefehlt hat, wissen inzwischen beinahe alle, dass sie vorgesprochen hat. Frau Einzig hat ihr vorgestern nach dem Unterricht noch einmal »Toi, toi, toi« gewünscht und hinzugefügt: »Sprich es so, wie wir es zusammen einstudiert haben, Frieda. Und lass dich nicht aus der Ruhe bringen, Mädel. Du kannst es!«
Wie recht sie gehabt hat! Und wie viel sie doch bei Frau Einzig gelernt hat! Ganz euphorisch ist Frieda in die Straßenbahn eingestiegen, das düstere, nasskalte Wetter hat sie kaum bemerkt; erst als sie vor dem Schauspielhaus beim Aussteigen in eine Pfütze getreten ist, hat sie sich erschrocken, denn ausgerechnet heute hatte sie die empfindlichen roten Spangenschuhe angezogen. Aber sie hat gar keine Zeit gehabt, sich zu ärgern, weil sie gleich vor dem Bühneneingang Frau Einzig getroffen hat. Die ist natürlich stehen geblieben und hat wissen wollen, wie es denn gestern gegangen ist.
»Gut«, hat Frieda mit stolzem Schmunzeln gesagt. »Sie wollen mich haben.«
Frau Einzig hat sie ganz impulsiv in die Arme geschlossen.
»Das hab ich doch gewusst!«, hat sie gerufen. »Gut gemacht, Mädchen. Dass muss ich gleich dem Weichert erzählen!«
Sie bleiben nicht allein. Harry und Annemarie gesellen sich zu ihnen, dann auch Rudi Stimpel und einige der Anfänger, die in diesem Jahr neu in die Schauspielschule aufgenommen wurden.
»Hat’s geklappt? Bist du angenommen?«, fragt Annemarie aufgeregt.
Sie wartet die Antwort gar nicht erst ab, sondern fällt ihr gleich um den Hals. Auch Harry umarmt sie und erklärt, er freue sich wahnsinnig für sie. Rudi Stimpel, der inzwischen ein Engagement bei den Münchner Kammerspielen hat, klopft ihr anerkennend auf die Schulter. Es gibt einen richtigen Auflauf vor dem Schauspielhaus, weil alle Frieda gratulieren wollen, aber schließlich ruft Frau Einzig, jetzt sei aber Schluss, ein Engagement am Theater sei kein Grund, den Unterricht in der Schauspielschule zu schwänzen.
Sie haben Sprechtechnik bei Herrn Engels und danach Theatergeschichte bei Dr. Rödermeier, aber keiner ihrer Lehrer lässt auch nur ein Sterbenswörtchen davon fallen, dass Frieda Haller einen Bühnenvertrag am Bochumer Schauspielhaus erhalten hat. Auch nicht Leopoldine Müller, die danach rhythmische Gymnastik und Laban unterrichtet. Frieda ist ein wenig enttäuscht, weil sie geglaubt hat, alle Lehrer müssten ihr jetzt zu ihrem Erfolg gratulieren, aber natürlich – das wäre den anderen Schülern gegenüber nicht nett. Bisher sind sie und Rudi Stimpel in ihrem Jahrgang die Einzigen, die ein Engagement ergattert haben. Selbst der ehrgeizige Erwin Kreuzer hat es noch nicht geschafft, obgleich er es schon überall versucht hat.
In der Mittagspause lädt sie Annemarie, Harry und Rudi zu Kaffee und Kuchen in die Konditorei ein. Sie sind während der zwei Jahre an der Schauspielschule zu engen Freunden geworden. Auch Harry, der sich vielleicht zu Anfang mehr versprochen hatte, ist jetzt einfach nur ein guter Kamerad, und der schweigsame Rudi Stimpel war sowieso von Anfang an ein treuer, immer hilfsbereiter Freund. Während sie sich die Kuchenportionen schmecken lassen, muss Frieda ausführlich berichten. Vor allem Harry will genau wissen, wer da im Gremium gesessen und zugehört hat und was sie für Fragen gestellt haben.
»Ich würde ja auch gern ans Bochumer Schauspielhaus gehen«, seufzt er. »Aber für einen jugendlichen Liebhaber gibt’s da keine Vakanz.«
»Ist der Vertrag auch in Ordnung?«, erkundigt sich Rudi. »Keine Zusatzklauseln oder so was?«
»Alles perfekt«, brüstet sich Frieda. »Aber ich zeig ihn zur Sicherheit noch mal dem Nerking, dass er ihn absegnet.«
Hans Nerking ist einer der Leiter der Frankfurter Schauspielschule und hat ihnen unter anderem vermittelt, was ein Künstler über das »Geschäftliche« wissen muss: Verträge, rechtliche Möglichkeiten oder auch die sehr mangelhafte Altersversorgung von Künstlern.
Annemarie hat bisher nirgendwo vorgesprochen, und sie will es auch nicht tun. Sie wird als Volontärin im Frankfurter Schauspielhaus anfangen und hofft, dass sie in absehbarer Zeit dort als Fachschauspielerin engagiert wird.
»Meine Eltern haben mir das geraten«, gesteht sie. »Es wäre gar zu hart für sie, wenn ich so weit fortginge, und ich möchte auch gern in Frankfurt bleiben. Die Einzig hat gesagt, ich hätte gute Chancen, also denke ich mal, dass sie sich für mich einsetzen wird.«
Nach und nach werden die Gespräche am Tisch ruhiger. Der Kuchen ist aufgegessen, der Kaffee getrunken, Annemarie schaut nachdenklich aus dem Fenster. Draußen ist es trübe, an den Straßenrändern liegen noch tauende Schneereste, die hier in der Stadt rasch eine schmutzig graue Farbe annehmen.
»Irgendwie traurig«, meint Harry. »Das ist eine so schöne Zeit gewesen, und so schnell ist sie vorbeigegangen. In ein paar Monaten zerstreuen wir uns in alle Winde, und wer weiß – vielleicht sehen wir uns nie wieder.«
Rudi nickt bestätigend, vermutlich wollte er etwas Ähnliches sagen. Annemarie tut einen Seufzer und fasst Frieda bei der Hand. »Aber wir zwei, wir verlieren uns net, Frieda«, sagt sie und drückt Friedas Hand fest. »Du schreibst mir aus Bochum und schickst mir deine Kritiken, ja? Und ich erzähl dir, was sich hier in Frankfurt so tut. Machen wir es so?«
»Auf jeden Fall«, sagt Frieda gerührt. »Aber das liegt doch noch in weiter Ferne. Bis zur Prüfung im Frühjahr bleiben wir auf jeden Fall zusammen. Und außerdem haben wir schon im März einen gemeinsamen Auftritt in Dingelbach. Das habt ihr doch wohl net vergessen, oder?«
Auf einmal schlägt die Stimmung wieder um. Richtig, die szenische Lesung in Dingelbach!
»Hast du schon ein Programm?«
»Wie groß ist denn die Bühne? Kulissen? Beleuchtung?«
»Hast du mal gefragt, ob wir Kostüme aus dem Fundus kriegen?«
»Nehmen die eigentlich Eintritt? Dann bestehe ich auf einer Gage!«
»Macht der Erwin Kreuzer jetzt mit oder nicht? Also, ich könnt auf ihn verzichten …«
Alle sind Feuer und Flamme. Natürlich – eine große Sache ist das nicht. Wohl eher eine Art »Wohnzimmeraufführung«. Aber sie werden gemeinsam vor einem Publikum Theater spielen – das ist doch was.
»Ich gehe die Tage mal hoch zu Frau Küpper und berede alles ganz genau mit ihr«, verspricht Frieda.
»Wir müssen los«, ruft Annemarie erschrocken dazwischen. »Wir sind schon fünf Minuten zu spät. Ausgerechnet bei der Einzig, die heute mit mir den Gretchenmonolog erarbeiten will.«
»Dann lauft schon mal los. Ich zahle und komm nach.«
Am Nachmittag kommt es Frieda seltsam vor, wieder zurück in das kleine Dingelbach zu fahren. Mit jeder Station in Richtung Taunus sinkt ihre Euphorie ein wenig mehr in sich zusammen. Die Luftschlösser von der großen Bühnenlaufbahn werden durchsichtig, und auf einmal fällt ihr ein, dass ja alles davon abhängt, ob die Mutter bereit ist, den Vertrag für sie zu unterschreiben.
Als sie in Dingelbach aussteigt, liegt eine schräge rötliche Abendsonne auf den Feldern und Hausdächern. Nur am Waldrand sieht man noch Schneereste, auf den Äckern streiten sich die schwarzen Krähen, und über die Wiese vom Grossmann Fritz, die ihm jetzt nicht mehr gehört, hoppelt ein Hase. Langsam geht sie den Pfad vom Bahnhof zum Dorf hinunter, er ist aufgeweicht und voller Matsch, sie muss Sprünge machen, um die schlimmsten Stellen zu vermeiden. Unten im Dorf schlägt ihr der gewohnte Geruch entgegen, Stallmist gemischt mit dem Rauch, den der Wind von den Schornsteinen hinunter in die Gassen drückt.
»Wieso die Städter immer von der ›frischen Landluft‹ reden«, denkt sie missmutig. Hier stinkt es doch schlimmer wie im Puddelfass!
Zu Hause ist wieder einmal Streit, die Mutter empfängt sie unfreundlich, weil sie allein im Laden stehen muss.
»Die Ida ist rüber zum Killinger Hannes, da fragt die gar net, sondern läuft einfach hin. Zieh dein Stadtgewand aus und komm gleich herunter, Frieda. Die Herta liegt oben mit Migräne.«
Nein, heute ist nicht der rechte Moment, die Mutter um die bewusste Unterschrift zu bitten. Besser, sie wartet noch ein paar Tage. Dann wird sich schon eine Gelegenheit finden …
Aus den paar Tagen sind zwei Wochen geworden, und es zeichnet sich immer noch kein Licht am Horizont ab. Frieda überschläft Idas Vorschlag eine Nacht, dann entscheidet sie, dass sie den Versuch wagen muss. Entweder – oder, sagt sie sich. Wer wagt, gewinnt. Und wer ewig zaudert, hat ewig verloren.
Der Versuch steht allerdings von vornherein unter keinem guten Stern, denn als sie am Dienstag aus Frankfurt nach Hause kommt, wird sie von der Mutter ganz besonders unwirsch empfangen.
»Mittagessen steht auf dem Herd.«
Ida ist heute bei einer Mitschülerin zum Essen eingeladen und wird wohl erst später nach Hause kommen. Frieda zieht sich rasch um und begibt sich in die Küche, wo sie eine Postkarte auf dem Tisch vorfindet. Aus Wien. Ach, herrje – die hat die Mutter bestimmt gelesen.
Liebe Frieda,
aus der singenden, klingenden Märchenstadt grüße ich Dich von ganzem Herzen. Ich denke oft an Dich, meine bezaubernde, hochtalentierte junge Kollegin, und ich wünsche Dir das Allerbeste.
Wenn das Schicksal es will, werde ich nächstes Jahr wieder in Frankfurt gastieren und hoffe auf ein Wiedersehen.
Herzlichst
Richard
Richard Graf ist schon vor einiger Zeit nach Wien gereist und hat ihr zum Abschied ein signiertes Foto von sich selbst geschenkt. Darauf ist er als Siegfried in den Nibelungen am Kasseler Staatstheater zu sehen. Mit blonder Perücke und sehr viel jünger. Wann es aufgenommen wurde, steht nicht darauf, aber wahrscheinlich ist es noch vor dem Krieg gewesen. Sie hat sich trotzdem darüber gefreut und ihn gebeten, ihr eine Postkarte aus Wien zu schreiben. Das hat er auch versprochen. Aber dass seine Karte ausgerechnet heute ankommen muss, passt ihr gar nicht. Sie steckt sie schnell hinter den Küchenschrank und geht hinüber in den Laden, um der Mutter beim Bedienen zu helfen. Viel ist nicht los, die paar Kundinnen hätte die Mutter eigentlich auch allein versorgen können, aber weil sie guten Wind machen will, stockt Frieda die Bestände in den Regalen auf, macht im Lager Ordnung und wischt den Fußboden im Laden, weil die Kunden sich halt nie die Füße an dem Feudel abtreten, den sie bei der Tür liegen haben. Gegen vier ist schon seit einer halben Stunde keine Kundin mehr aufgetaucht, draußen hängen die Wolken tief, und es wird es dämmrig. Gleich wird Ida heimkommen und die nächste Schicht übernehmen. Und am Abend sitzt die Mutter sicher wieder oben bei Herta.
»Mama?«
»Was ist das für ein Kerl, der dir solche Sachen schreibt?«, kommt es streng zurück.
Ihre Mutter hat die Schublade der Kasse aufgemacht und zählt die wenigen Scheine.
»Das ist nur ein Kollege, Mama. Ein älterer Schauspieler, der mir ein paar gute Ratschläge gegeben hat.«
»Alter schützt vor Torheit nicht«, bemerkt die Mutter mürrisch und legt die Scheine wieder zurück in die Kasse. »Fall bloß nicht auf so einen herein. Was der dir für Ratschläge gibt, kann ich mir schon denken.«
»Oh, er hat mir zum Beispiel geraten, am Bochumer Schauspielhaus vorzusprechen. Weil ich doch im Frühjahr Prüfung habe und es dann mit mir weitergehen muss.«
Die Mutter öffnet die Schublade und nimmt das Büchlein heraus, in dem sie sich notiert, wenn jemand etwas anschreiben lässt.
»Das wirst du natürlich nicht tun«, meint sie beiläufig.
Frieda schaut noch einmal durch die Ladenscheibe nach draußen. Die Laterne bei der Kirche brennt jetzt, im Lichtschein kann man sehen, dass es in dichten Flocken schneit. Jetzt kommt bestimmt keine Kundin mehr zum Einkaufen.
»Doch, Mama«, sagt sie. »Vorletzte Woche war ich dort. Ich habe vorgesprochen und einen Bühnenvertrag bekommen.«
So, es ist heraus. Die Mutter lässt das Schuldenbüchlein sinken und starrt Frieda an.
»Du hast – was?«
Das klingt bedrohlich. Frieda beeilt sich, die Sache zu erklären. Dass es ein richtiger Vertrag sei und sie Geld verdienen würde. Dass nur zwei aus ihrem Jahrgang das geschafft hätten. Dass ihre Lehrerin Frau Einzig riesig stolz auf sie sei und dass nach Abschluss der Schauspielschule eben das Berufsleben käme.
»Wer hat dir das Geld für die Fahrt gegeben?«, will die Mutter wissen.
»Die Großmutter. Sie ist sehr stolz auf meinen Erfolg, Mama. Und du kannst das auch sein. Weil ich dir nun bald nicht mehr auf der Tasche liegen werde …«
»Hab ich mir doch gedacht, dass die dahintersteckt!«, sagt die Mutter. »Ein Bühnenvertrag! Nach Bochum! Hinter meinem Rücken! Mein liebes Kind, das kommt überhaupt nicht infrage.«
Abgeblitzt. Das war zu erwarten.
»Aber Mama«, verlegt sich Frieda aufs Bitten. »Einmal muss es doch sein. Ich hab die Ausbildung doch net gemacht, um hinterher in Dingelbach zu sitzen.«
»Solange du noch minderjährig bist, gehst du net von daheim fort!«, bestimmt die Mutter und haut das Schuldenbüchlein energisch in die Schublade. »Das fehlt grad noch, dass du mir auch noch davonläufst, wo schon die Herta meint, sie müsse unbedingt diesen Hallodri heiraten und mit ihm nach Höchst ziehen. Jahrelang hab ich mich abgerackert, um euch drei durchzubringen, hab im Laden gestanden, mir keine ruhige Minute gegönnt. Und jetzt wollt ihr mich auf einmal alle alleinlassen …«
Frieda beschließt, ihren letzten Trumpf auszuspielen. Idas Idee, von der sie behauptet, sie sei klug und vernünftig.
»Aber du musst doch net allein bleiben, Mama!«, sagt sie in sanftem Ton. »Schau, wenn ich in Bochum bin, da könnte doch die Herta mit dem Sirius hier im Haus wohnen.«
»Bist du verrückt geworden?«, schimpft die Mutter. »Wie soll das denn gehen?«
»Die Ida will sich sowieso gern oben in der Dachkammer einrichten. Dann wäre unser Schlafzimmer frei, und die Herta könnte mit dem Sirius dort einziehen. Der Sirius spart die Miete, und die Herta hilft dir im Laden wie bisher.«
Die Mutter schaut sie an, als würde sie sie gar nicht kennen.
»Das hast du dir ja schlau ausgedacht«, sagt sie spöttisch. »Aber da hätt ich auch noch ein Wörtchen mitzureden.«
»Denk doch einmal darüber nach«, bittet Frieda. »Dann könnte die Herta heiraten und würde trotzdem hier im Laden arbeiten. Und ich könnte …«
Die Mutter schiebt die Schublade zu und sagt kurz angebunden: »Den Bühnenvertrag kannst du gleich in den Küchenofen stecken, Frieda. Bis du volljährig bist, bleibst du hier. Punktum.«