Kapitel 33

Heinz versteht die Welt nicht mehr. Heute früh im Stall, wie er gerade den vollen Milcheimer zur Zentrifuge trägt, kommt ihm der Vater entgegen.

»Bist ein braver Bub«, murmelt er und nickt ihm zu.

Beinahe hätte Heinz den Eimer fallen lassen. War das ein Traum? Hat der Vater ihn tatsächlich angeschaut und mit ihm geredet? Er starrt ihm nach, aber der Vater ist hinauf auf den Heuboden gestiegen und gabelt das Heu durch die Luke hinunter in den Stall, damit sie die Kühe füttern können.

»Den hat die Reue gepackt«, flüstert der Hannes ihm zu. »Die Hex, die er sich ins Haus geholt hat, die kocht ihn weich.«

»Halt dein Maul!«, sagt Heinz wütend zu ihm.

Der Hannes ist ein feiger Hund. Beim Vater oder gar bei der Marie, da tut er untertänig und redet freundlich daher, aber wenn sie unter sich sind, dann lästert er ganz fürchterlich über den Hofbauern und seine »Knodderhex«. Heinz weiß, dass der Hannes auch im Dorf schlecht über den Schützhof schwätzt, und er ärgert sich darüber. Selbst wenn der Vater seit der Sache mit dem gestohlenen Geld nichts mehr von ihm wissen will, so ist er immer noch sein Vater, und Heinz bekümmert es, dass die Leute im Dorf über ihn lachen. In der Schule hat er sich schon zweimal deshalb geprügelt, da hat der Lehrer Hohnermann eingegriffen und Strafen verhängt. Aber er hat ihm auch gesagt, dass es anständig von ihm ist, dass er seinen Vater verteidigt.

Und dann nickt der Vater ihm heut früh zu und sagt sogar, er sei ein »braver Bub«. Heinz weiß noch nicht recht, ob er sich darüber freuen soll. Hat er das wirklich nur getan, weil die Marie ihn »weichgekocht« hat?

Während er jetzt die Milch vorsichtig in die Öffnung der hölzernen Zentrifuge gießt, beschließt er, sich einfach zu freuen. Ganz vorsichtig, ohne sich große Hoffnungen zu machen. Schließlich gibt es auf dem Schützhof momentan wenig genug, worüber man sich freuen könnte. Das fängt schon am Morgen an, wenn er aufstehen muss, noch bevor die Hähne krähen, um mit dem Hannes die Stallarbeit zu machen. Das muss er tun, weil die Großmutter Gertrud es so schlimm im Rücken hat, dass sie vor einer Woche vom Melkschemel in den Stalldreck gekippt ist und jetzt nur noch in der Küche herumhumpelt, weil sie vor Schmerzen nicht sitzen und auch nicht liegen kann. Sie tut ihm leid, weil sie in letzter Zeit gut zu ihm gewesen ist. Deshalb fragt er sich manchmal, warum es in der Welt so ungerecht bestellt ist, dass die guten Menschen leiden müssen und die schlechten obenauf sind. Die Marie, die falsche Person, ist gesund und munter, bloß dass sie immer dicker wird, aber das kommt von der Schwangerschaft. Arbeiten tut sie fast gar nichts, aber mit dem Auto fahren und die Leute herumscheuchen, das kann sie. Vor einer Weile hat sie aus Heringsdorf die Gretel mitgebracht und verlangt, dass der Vater das Mädchen als Magd anstellt. Das hat er tun müssen, weil die Großmutter so schlecht dran ist, dass sie kaum noch etwas arbeiten und auch nicht mehr einkaufen gehen kann.

»Und was ist mit dir, Marie?«, hat der Vater zuerst aufgemuckt. »Wenn du schon net die Stallarbeit verrichten willst, dann könntest du ja wenigstens die Hausarbeit tun und das Essen kochen.«

Alle Achtung, das hat er sich getraut, der Marie an den Kopf zu werfen. Aber wie üblich ist der Streit nicht zu seinen Gunsten ausgegangen.

»Kochen will ich gern«, hat die Marie gemeint. »Aber net auf diesem rostigen alten Ding. Da bin ich von daheim was Besseres gewöhnt.«

Gegen den neuen Herd, den die Marie unbedingt hat haben wollen, hat sich der Vater aber gesperrt, und so hat er halt die Gretel eingestellt, die auf dem alten Herd kochen und außerdem im Stall helfen soll.

Die Gretel ist nur vier Jahre älter als Heinz, sie hat letztes Jahr die Schule beendet, und weil noch sechs Geschwister daheim auf dem Hof sind, haben sich die Eltern gefreut, dass sie eine Anstellung gefunden hat. Sie ist sehr dünn und hat schiefe Zähne, aber sonst ist sie nicht hässlich: Die Augen sind blaugrau, und sie hat rötliches Haar, das sie zu einem langen, dicken Zopf flechtet. Reden tut sie nicht viel, und im Stall arbeitet sie gar nicht, denn die Marie hat sie von Anfang an in Beschlag genommen. Sie schickt sie den ganzen Tag herum, da muss sie Gardinen aufhängen, die Wäsche waschen und bügeln, die Böden wischen und der Marie alles Mögliche herbeischaffen, was sie gerade benötigt. Sie muss zum Dorfladen gehen und einkaufen, weil die Marie sich zu schad dafür ist, und kochen muss sie auch. Das ist am Anfang schlecht gegangen, weil sie das Kochen daheim nicht gelernt hat, aber da hat sich dann die Großmutter erbarmt und es ihr beigebracht. Das hat sie nur getan, weil es ihr leid war, dass die Marie das arme Mädel immer geohrfeigt hat, wenn das Essen angebrannt war.

»Kannst ja nix dafür, dass du eine böse Herrin hast. Jetzt zieh den Topf auf die Seite, wo der Herd net so heiß ist, sonst verbrennt dir das Dörrfleisch.«

Die Gretel ist guten Willens und möcht es allen recht machen, aber sie hat auch schon gemerkt, wer auf dem Schützhof das Sagen hat, und deshalb hält sie sich an die Marie. Die hat ihr zwei Kleider nähen lassen und auch Wäsche und Schuhe gekauft, damit sie anständig ausschaut und dem Schützhof Ehre macht.

»Die Fetzen, in denen du hergekommen bist, die gib nur gleich zum Lumpensammler«, hat sie schon am ersten Tag gesagt. »Man muss sich ja schämen. Und lauf net über den großen Zeh wie ein krankes Hinkel. Zeig mal deine Händ. Die sind dreckig. Hast dir die Ohren gewaschen?«

Die Marie hat von Anfang an net gewollt, dass die Gretel im Stall arbeitet, weil sie sie für sich allein haben will. Sie ist eitel, die Marie, und will, dass sie als die Frau Bürgermeister im Dorf respektiert wird, deshalb geht sie manchmal mit der Gretel durchs Dorf und schwatzt mit den Leuten. Dann muss die Gretel dabeistehen und warten, bis das Gespräch zu Ende ist. Selber reden darf sie nicht, aber sie will auch gar nicht, weil sie schüchtern ist. Einmal ist die Marie sogar mit der Gretel in den Dorfladen gegangen und hat Schokolade, Hautcreme und Spitzen für ihre Nachtwäsche eingekauft. Das hat die Ida ihm erzählt, aber sie hat auch gesagt, dass die Frauen im Laden nicht freundlich zur Marie gewesen sind, und wie sie fort war, da sind sie alle über sie hergezogen. Weil sie sich nämlich die Lippen geschminkt hat wie eine Städtische und weil sie eine »Dienerin« braucht, die ihr die Tasche mit der Schokolade und den anderen Sachen zum Schützhof trägt.

»Da hat sich dein Vater was eingefangen«, hat die Ida gemeint. »Kommt daher wie eine Großfürstin und meint, die Dingelbacher hätten grad auf so eine wie sie gewartet. Die kriegt hier keinen Fuß auf den Boden, das weiß ich jetzt schon.«

Heinz hat mit den Schultern gezuckt. Es ist ihm nur um den Vater leid, wenn sich die Marie so unbeliebt macht. Ihr selber gönnt er es herzlich, dass sie überall unten durch ist. Auf dem Hof, da schaut sie nur darauf, dass er seine Arbeit tut, und bei Tisch bekommt er zu hören, dass er wie ein Bauer frisst und keine Manieren hat. Was er sonst tut, ist ihr gleichgültig. Das ist das einzig Gute an der Marie, dass sie sich nicht um ihn kümmert und er in jeder freien Minute hinüber zum Killinger Hannes laufen kann.

Aber heute hat der Vater ihm zugenickt und sogar gesagt, er sei ein »braver Bub«. Je länger Heinz darüber nachdenkt, desto froher wird er. Im Stall füttern sie zu dritt die Kühe, aber der Vater schaut nicht mehr zu ihm hin und schwingt nur verbissen die Heugabel. Wie sie fertig sind, ziehen sie vor dem Haus die Stiefel aus, weil die Marie den Gestank vom Kuhstall nicht im Flur haben will.

In der Küche sitzt die Marie schon am Tisch und trinkt Kaffee, auch die Großmutter hat sich auf einen Stuhl niedergesetzt, den sie mit zwei Kissen ausgepolstert hat, aber die Gretel steht am Herd und gießt den Kaffee über.

»Hast du dir die Händ mit Seife gewaschen?«, fragt die Marie den Vater.

Der gibt keine Antwort und setzt sich auf seinen Platz am Tisch. Jetzt müssen sie sich anhören, dass die Marie extra teure Seife eingekauft hat, damit ihre Händ am Morgen nicht nach Kuhstall riechen. Dann beklagt sie sich über die Handwerker, die die Tapeten im Wohnzimmer schief geklebt hätten, und schimpft, dass alles wieder heruntergerissen und neu geklebt werden muss. Der Vater schweigt dazu und starrt nur dumpf auf seinen Teller. Aber er schiebt den Brotkorb und die Wurst zu Heinz hinüber, das ist ein Zeichen, denn das hat er sonst nicht getan. Heinz bekommt Herzklopfen vor Freude, weil er sich nicht getäuscht hat. Er nimmt sich Brot und eine Scheibe Räucherwurst und isst alles auf. Dann, nach einer Weile, wagt er es, dem Vater die Butter zu reichen. Und richtig, der Vater nimmt ihm das Buttergefäß aus der Hand und schaut dabei ganz kurz zu ihm hin. Es ist nur ein Blick, und ob er freundlich war, kann Heinz nicht genau erkennen, weil es zu rasch gegangen ist. Aber er hat nicht wie sonst durch ihn durchgeschaut, sondern ihm in die Augen gesehen.

Heute muss ein Glückstag sein, denkt Heinz. Wenn es nur anhält und nicht wieder zu Staub wird. Gerade heut darf das nicht passieren. Weil doch heut der Tag ist, an dem ich mit dem Lehrer Hohnermann zur Julia fahren will. Er hat es daheim nur der Großmutter gesagt, die mag die Julia auch gern und hat ihm eine Erlaubnis für den Lehrer Hohnermann geschrieben. Außerdem hat sie versprochen, dass weder die Marie noch der Vater etwas davon erfahren werden, damit sie es ihm nicht etwa verbieten. Wenn am Nachmittag jemand nach ihm fragt, dann will sie sagen, er sei für sie zum Alberti Rudolf gelaufen, weil sie neue Salbe für ihren Rücken braucht. Die muss der Rudolf erst anrühren, und deshalb kann es ein Weilchen dauern.

Heinz ist heilfroh, als es für ihn Zeit wird, hinüber zum Schulhaus zu laufen, aber vorher muss er noch die Socken wechseln und das Haar kämmen, sonst lässt ihn die Marie nicht gehen.

»Der Sohn vom Bürgermeister darf net wie ein dreckiger Dorflümmel herumlaufen!«, sagt sie immer. »Zeig deine Händ! Da ist noch der Stalldreck unter den Fingernägeln. Wasch sie sauber!«

Dabei haben alle Kinder im Dorf dreckige Fingernägel, und saubere Socken zieht schon einmal gar keiner extra für die Schule an. Weil die Marie so ein Gschiss darum macht, kommt er heute fünf Minuten zu spät und muss seinen Platz im Schulzimmer einnehmen, während die anderen schon das Morgenlied singen.

»Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit …«

Das gibt wieder Gelächter, weil es bloß der Heinz ist, der ins Schulzimmer schleicht, und kein »König aller Königreich«. Lehrer Hohnermann wirft ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und meint, es sei seltsam, dass oft grad die Kinder zu spät kämen, die am dichtesten am Schulhaus wohnen.

»Der Heini hat seiner Stiefmutter noch die Schuh putzen müssen«, flüstert der Kessel Willi auf der hinteren Bank.

Wütend dreht sich Heinz um, aber Lehrer Hohnermann hat feine Ohren, weil er ja ein Musiker ist, und er ruft den Kessel Willi gleich nach vorn an die Landkarte, wo er die Grenzen von Deutschland zeigen muss. Wie immer steht der Willi vor der Landkarte wie der Ochs vorm Berg und kriegt nichts zustande. Aber dann darf die Anna Koppel nach vorn, die ist erst acht, und sie zeigt alles richtig.

In der Pause, wie alle schon in den Hof hinausrennen, ruft Lehrer Hohnermann Heinz zu sich. Da bekommt er es heftig mit der Angst und denkt schon, dass jetzt alles wieder dahin ist, worauf er sich gefreut hat, weil die Fahrt nach Frankfurt jetzt wohl abgesagt wird. Aber es kommt ganz anders.

»Wir fahren mit dem Zug um halb zwei«, sagt der Lehrer zu ihm. »Schau, dass du pünktlich bist. Und wir sind zu dritt. Ich habe deine Mutter gebeten mitzufahren. Sie hat ein Kleid für die Julia genäht.«

»Ja«, sagt Heinz.

Mehr kriegt er nicht heraus. Die Mama will mit nach Frankfurt fahren? Ach, du lieber Schreck. Die wird ihn sicher am Bahnhof an sich drücken, und dann wird sie die ganze Fahrt über dumme Fragen stellen. Nach der Marie. Und ob er recht unglücklich wäre. Und vielleicht auch nach dem Oskar. Und in Frankfurt wird sie jammern, weil es der Julia bestimmt net gut geht. Sie hat ihm nur ein einziges Mal geschrieben, und da hat sie ihm mitgeteilt, dass sie wieder Fieber hat und sehr müde ist. Aber immerhin hat die Mama ein Kleid für die Julia genäht, das ist ja schön von ihr. Wenn sie nur net immer so weinerlich wäre und ihn ihren »armen, lieben Bub« nennen würde. Damit macht sie ihn nur traurig, und das will er nicht.

Nach der Schule läuft er eilig zum Schützhof, um das Mittagessen so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Wenn es der Marie bloß nicht einfällt, ihn ins Wohnzimmer zu schicken, dass er den Tapezierern bei der Arbeit hilft! Das macht sie gern, dass sie ihn zu solchen Arbeiten anstellt, letzte Woche hat er helfen müssen, die Holzdielen in seiner Kammer zu schleifen.

»Warum?«, hat er gefragt. »Mir ist der Fußboden in meiner Kammer grad recht so.«

Da hat sie ihm verkündet, dass er bald aus dieser Kammer ausziehen muss, weil sie da ein Zimmer für das Kind einrichten will, das sie im Bauch trägt. Er soll die Kammer neben dem Hannes bekommen, die liegt auf dem Heuboden über dem Kuhstall.

»Da brauchste im Winter net frieren, weil die Küh euch warm halten«, hat sie gönnerhaft gesagt.

Er ist ganz froh darüber, denn er mag das Gezänk und die anderen Geräusche nicht hören, die aus dem Eheschlafzimmer zu ihm dringen. Über dem Kuhstall hat er seine Ruhe, und mit dem Hannes kommt er schon zurecht.

Heute steht ein Lastwagen beim Brunnen vor dem Schützhof, und zwei Männer sind dabei, einen großen, schweren Gegenstand herunterzuheben. Wie er näher kommt, sieht er, dass es ein Küchenherd ist. Wie ärgerlich, also hat der Vater wieder einmal nachgegeben, und jetzt hat die Marie nicht nur die Gretel, sondern auch den neuen Herd.

Der Hannes hat wohl recht, denkt er bekümmert. Sie hat ihn weichgekocht.

Aber beim Mittagessen ist der Vater kein bisschen weich, sondern er haut auf den Tisch und streitet mit der Marie. Heinz setzt sich ganz still dazu und meint, sich ducken zu müssen, so fliegen die zornigen Worte hin und her. Die Großmutter ist die Einzige, die zufrieden dreinschaut, der Hannes zieht scheu den Kopf ein, und die Gretel wagt nicht einmal, sich an den Tisch zu setzen.

»Einen Gasherd hast du angeschafft!«, schimpft der Vater. »Ja, bist du denn net noch gescheit, Weibsbild? Wo wir gar keinen Gasanschluss im Dorf haben.«

»Dann muss halt einer gelegt werden«, keift sie zurück. »Wozu bist du der Bürgermeister? Stell dich einmal auf die Hinterbeine und setz dich durch.«

»Das Gas brauchen wir net«, erwidert er zornig. »Da fliegt nur das Haus in die Luft. Wir in Dingelbach kochen mit Holz, wie es schon immer gewesen ist. Und für das Licht haben wir die Elektrizität.«

»Ich hab mir gleich gedacht, dass du einer bist, der nix zustande bringt. Net einmal den Führerschein hast du bestanden. Weißt du, was die Leut von dir sagen? Ein Hahnebampel seist du …«

»Der Herd kommt wieder vom Hof«, bestimmt der Vater. »Und wenn du verplatzt.«

Heinz löffelt eilig die Suppe, die die Großmutter ihm auftut, dann wechselt er einen Blick mit der Großmutter und schleicht sich aus der Küche. Was für ein Glück, dass sie wieder streiten und niemand fragt, wo er hingeht. Oben in seiner Kammer zieht er seine guten Hosen und einen wollenen Pullover an, dann leert er den Tornister und packt die Geschenke ein, die er für Julia und ihren Bruder gemacht hat. Für Julia hat er Maria und Josef mit dem Christkind geschnitzt, darauf ist er gekommen, weil die Julia so gern beim Krippenspiel mitgemacht hat. Kurt bekommt den Ochsen und den Esel. Da hat er sich nicht ganz so viel Mühe gegeben, weil die Zeit knapp geworden ist. Er hat alles sorgfältig in ein altes Handtuch gewickelt, dazu hat ihm die Großmutter eine kleine Blechdose mit Weihnachtsplätzchen gegeben.

»Die soll sie aber net dem Bruder geben«, hat die Großmutter gemeint. »Die muss sie selber essen, damit sie was auf die Rippen kriegt.«

Er steigt mit seiner kostbaren Last die Treppe hinunter und ist froh, dass in der Küche immer noch gestritten wird. Der Vater ist jetzt leiser geworden, dafür gibt die Großmutter der Marie Widerworte. Auch gut. Im Hof steht der neue Herd mitten im Schnee, ein Hinkel hat sich draufgesetzt und pickt aufgeregt auf einem der vier kleinen schwarzen Deckel herum. Es hat wieder angefangen zu schneien, und wenn er zum Himmel schaut, dann scheint es, dass es so bald nicht aufhören will. Die Wiesen und Äcker um das Dorf sind längst wieder weiß, man kann die Spuren der Tiere sehen, wenn man auf dem Pfad entlangläuft. Hasen und Rehe, Krähen und jede Menge Füchse. Wildschweinspuren hat er noch nicht entdeckt, das ist gut, weil die gern die Äcker zerwühlen und die Wintersaat kaputt machen.

Er ist als Erster oben am Bahnhof und steckt die Hände in die Jackentaschen, weil es sehr kalt ist. Dann sieht er, wie Lehrer Hohnermann und seine Mutter zu ihm hinaufsteigen. Der Lehrer hat einen Rucksack aufgeschnallt, da sind die gebastelten Geschenke und die Briefe drin, die sie in der Schule für Julia und Kurt geschrieben haben. Seine Mutter hat einen schönen Mantel an, den hat sie sich bestimmt selbst genäht. So aus der Ferne schaut sie recht hübsch aus; es ist schade, dass der Oskar sie nicht geheiratet hat und stattdessen davongelaufen ist, der Dummkopf.

Wie sie näher kommen, hat er schon Angst, sie würde ihm gleich um den Hals fallen und ihm Vorwürfe machen, dass er sie nicht besucht. Aber zum Glück tut sie das nicht, vielleicht weil der Lehrer Hohnermann dabei ist. Sie meint nur: »Schön, dass du da bist, Heini. Ich freu mich, dass wir zusammen nach Frankfurt zur Julia fahren.«

»Ja«, sagt er höflich. »Ich freu mich auch, weil du ein Kleid für die Julia genäht hast.«

»Das hab ich gern getan, Heini. Die Julia ist doch deine beste Freundin und ein so liebes Mädel.«

Dann redet sie mit Lehrer Hohnermann über das Krippenspiel, für das noch ein paar Engelsgewänder nötig sind. Die Vorstadtbahn ist um diese Zeit nur schwach besetzt, sodass sie beieinander auf der Bank sitzen können und die Unterhaltung fortgesetzt wird. Meistens redet Lehrer Hohnermann mit seiner Mutter, und Heinz schaut aus dem Fenster, wo die Schneeflocken vorbeifliegen. Er ist froh, dass sie so fröhlich ist und ihn nicht fragt, ob er schlecht behandelt wird oder ob er sehr unglücklich ist. Stattdessen erzählt sie von dem Kleid, das sie für die Ida genäht hat, und dass die Ida in eine sehr vornehme Familie in Frankfurt eingeladen war, denen das Kleid gut gefallen hätte.

»Sie haben ein großes Talent, Frau Schütz«, meint Lehrer Hohnermann. »Das ist ein Licht, das Sie nicht unter den Scheffel stellen dürfen.«

In Frankfurt müssen sie mit der Straßenbahn weiterfahren, es geht über die Mainbrücke, wo unter ihnen die Lastkähne hindurchschwimmen, und dann am Fluss entlang nach Sachsenhausen. Dort sind die Häuser an der Uferstraße groß und klobig, aber wie sie in die Gassen hineingehen, da wird es eng, und man schaut in kleine Höfe, wo viel Gerümpel steht. In dem Haus, wo Julia wohnt, ist unten eine Gastwirtschaft. Sie müssen durch einen schmalen, dunklen Flur zu einer Hintertreppe gehen, und wie sie oben sind, geht es noch einmal durch einen Flur, wo Lehrer Hohnermann immer den Kopf einziehen muss, weil die Decke so niedrig ist. Dann sind sie endlich da. Die Wohnungstür ist aus grobem Holz, und oben ist ein Zettel angenagelt. »Fritz Grossmann« steht darauf geschrieben.

Eine Türglocke gibt es nicht, also klopft Lehrer Hohnermann an, und sie warten ein Weilchen.

»Da ist wer an der Tür«, hört man Kurts Stimme.

»Dann mach auf und schau, wer da ist«, sagt Julia. »Wenn’s der Kohlenmann ist, musst du ihn hereinlassen.«

Gleich darauf schiebt jemand innen einen Riegel zur Seite, und Kurt schaut durch den Türspalt.

»Guten Tag, Kurt«, sagt Lehrer Hohnermann. »Wir kommen, um euch zu besuchen. Ist deine Mutter auch da?«

»Nein«, sagt Kurt. »Die ist arbeiten. Aber ihr dürft trotzdem reinkommen.«

Die Wohnung ist Küche, Wohnzimmer und Schlafkammer in einem. In der Mitte ist ein Tisch mit vier Stühlen, auf der Kommode steht das Waschgeschirr neben den Tellern und Bechern, beim Herd gibt es ein Regal mit Töpfen, Pfannen und Schachteln und ein Bett, in dem die Julia liegt. Sie hat sich mit einem Federbett zugedeckt, weil es kalt ist, obgleich ein Feuer im Herd brennt. Das kommt wohl daher, weil das Fenster nicht dicht ist, denn es zittert und klappert, wenn der Wind dagegenweht. Wie die Julia ihn sieht, will sie gleich aufstehen, aber da muss sie ganz schrecklich husten, und es dauert eine Weile, bis sie sprechen kann.

»Ich hab dir fünf Briefe geschrieben, Heini«, sagt sie. »Aber weil die Mama mir keine Briefmarken geben will, hab ich nur einen davon abschicken können. Warte, ich hol dir die anderen …«

Sie läuft zu der Kommode, zieht eine Schublade auf und sucht unter allerlei Kram ein Bündel Schreibblätter hervor, die sie wohl aus ihrem Schulheft herausgerissen hat. Das Papier ist von oben bis unten vollgeschrieben und mit kleinen Zeichnungen geschmückt. Heinz ist ganz hingerissen, als sie es ihm in die Hand drückt.

»Wir haben euch Geschenke für Weihnachten mitgebracht«, sagt er. »Ich hab dir was geschnitzt, das musst du dir aufheben.«

»Krieg ich auch was?«, will Kurt eifersüchtig wissen.

»Ihr alle bekommt Geschenke«, sagt Lehrer Hohnermann, und die Mama schiebt rasch das Geschirr, das auf dem Tisch steht, zusammen, damit er seinen Rucksack dort auspacken kann. Es sind gebastelte Tiere aus Tannenzapfen und Kastanien, ein Kranz aus Tannengrün mit vier Kerzen darauf und ein Schulheft, in das alle Dingelbacher Schüler einen Gruß hineingeschrieben oder ein Bild gemalt haben. Dazu eine Tüte mit Bonbons aus dem Dorfladen und zwei Bücher, die Lehrer Hohnermann extra für Julia und Kurt gekauft hat. Auch Heinz stellt dann seine Geschenke auf und erklärt ihnen währenddessen, dass Maria und Josef mit dem Kind für die Julia bestimmt sind, dass aber der Ochse und der Esel Kurt gehören sollen.

»Gut«, sagt Kurt. »Der Esel gefällt mir am besten.«

Julia stellt das heilige Paar mit dem Jesuskind gleich aufs Fensterbrett und sagt, dass sie sich niemals davon trennen wird, weil Heini sie extra für sie geschnitzt hat. Aber weil es am Fenster so zieht, muss sie gleich wieder husten und sich auf das Bett setzen.

»Du hast ja Fieber, Mädel.« Die Mama hat ihre Hand auf Julias Stirn gelegt und schüttelt den Kopf. »Wart, ich koch dir einen Tee«, meint sie. »Leg dich nur ruhig wieder ins Bett, ich zeig dir jetzt das Kleid, das ich für dich genäht habe.«

Auf einmal gefällt es Heinz, dass die Mama so liebevoll und fürsorglich sein kann, weil es ja der Julia gilt. Sie füllt den Wasserkessel und stellt ihn auf den Herd, findet die Schachtel mit dem Kamillentee, und während das Wasser heiß wird, schüttelt sie das Federbett auf und zieht das Laken glatt. Dann deckt sie Julia zu und entfaltet das neue Kleid, legt es vor sie auf die Bettdecke, damit sie den Stoff fühlen kann.

»Wie schön das ist!«, seufzt Julia. »Ich würd es so gern in die Schule anziehen, aber da darf ich net hingehen, weil ich allweil noch krank bin. Aber in der nächsten Woche, da bin ich vielleicht wieder gesund …«

»Das glaub ich net«, mischt sich Kurt ein, der schon einen Bonbon kaut. »Der Doktor hat gesagt, dass du nur gesund werden kannst, wenn du in eine Anstalt kommst. Eine Anstalt für Lungenkranke. Eine Heilanstalt droben in den Bergen.«

»Das ist Kappes, hat der Vater gesagt«, widerspricht Julia. »Weil das nur Geld kostet und weil ich auch so wieder gesund werde. Ich huste nur, weil es jetzt im Winter so kalt ist. Im Frühjahr wird es besser gehen, weil da die Sonne scheint.«

»Du musst doch immer husten!«, meint Kurt. »Im Winter und im Sommer, am Tag und in der Nacht. Und in der Schule, da sagen alle, du hättest die Schwindsucht …«

Heinz ist ganz erschrocken. Hat sie wirklich die Schwindsucht? Daran sind im Dorf schon Leute gestorben, das weiß er. Er setzt sich zu Julia aufs Bett und gibt ihr den Tee zu trinken, den die Mama inzwischen gekocht hat. Ja, die Julia ist noch dünner und durchsichtiger geworden. Große Augen hat sie bekommen und graue Schatten darunter. Er bekommt es mit der Angst, sie wird doch nicht etwa sterben?

»Denk daran, dass wir beide nach Amerika gehen wollen, wenn wir groß sind«, sagt er. »Nimm ein paar Plätzchen, die hat die Großmutter für dich gebacken. Du musst fleißig essen, damit du dicker wirst.«

Die Mama hat rasch ein paar Tassen gespült und für alle Tee eingeschenkt. Kurt und Julia knabbern Nusskringel dazu, und Lehrer Hohnermann erzählt, dass es dieses Jahr wieder ein Krippenspiel geben wird und dass auch Heinz dabei mitwirkt. Gerade will Heinz erklären, dass er es nur tut, weil die Frieda ihn so freundlich gebeten hat, aber da klopft es an der Tür, und Kurt springt rasch auf, um den Riegel zurückzuschieben.

»Die Mutter kommt heim«, sagt er. »Die wird sich gewiss auch freuen.«

Die Alma Grossmann bleibt ganz verwundert an der Tür stehen, wie sie die Besucher entdeckt. Dann verzieht sie das Gesicht und meint: »Da schau einer an. Kaum ist man einmal net daheim, da kommen Leute und setzen sich zum Teetrinken an den Tisch. Wir sind auf Besucher net eingestellt, Herr Hohnermann.«

Lehrer Hohnermann ist hastig aufgestanden und reicht der Alma die Hand. Dabei erklärt er, dass sie nur ganz kurz vorbeigekommen sind, um ein paar kleine Geschenke zu bringen, und gleich wieder aufbrechen müssen.

»Dann sag ich halt Dankschön für die Geschenke«, gibt die Alma mürrisch zurück und macht sich am Herd zu schaffen.

»Was liegst du faul im Bett herum?«, schimpft sie die Julia. »Wieso hast du die Kartoffeln net gekocht, wie ich gesagt hab? Und aufgeräumt ist auch net. Ist der Kohlenmann da gewesen? Hast du Eier und Milch gekauft, Kurt? Herumsitzen und Tee trinken, anstatt die Arbeit zu tun!«

Heinz ist wütend. Was ist das für eine Mutter, die ihr krankes Kind aus dem Bett hetzt, damit es Kartoffeln schält und das Essen kocht. Aber bevor er den Mund aufmachen kann, nimmt Lehrer Hohnermann seine Hand und drückt seine Finger ganz fest zusammen.

»Wir möchten uns dann verabschieden, Frau Grossmann«, sagt er freundlich. »Hoffentlich haben wir Sie nicht allzu sehr mit unserem Besuch gestört. Wir wollten den Kindern eine Freude machen.«

»Weil doch bald Weihnachten ist«, fügt die Mama hinzu.

Die Alma wischt den Küchentisch ab und schiebt die gebastelten Tierchen mit dem Lappen beiseite.

»Weihnachten ist was für reiche Leut«, knurrt sie.

Heinz geht zu Julia, die sich aus dem Bett herausquält, und legt die Arme um sie.

»Auf bald«, sagt er zu ihr. »Und du musst wissen, dass ich immer an dich denk. Vergiss das net, Julia!«

»Nie im Leben«, flüstert sie und gibt ihm einen Kuss auf die Wange. Dann geht sie zu der Kiste unterm Fenster, in der die Kartoffeln sind.

Schweigend laufen sie wieder durch die engen Flure, steigen die Treppen hinunter und gehen durch das Hoftor auf die Gasse hinaus. Es ist viel Schnee gefallen, ihre Schritte hören sich auf dem Pflaster dumpf und knirschend an. Im Gasthaus ist jetzt Licht, durch die Fenster sieht man Leute, die an den Tischen sitzen. Sie haben lachende Gesichter und trinken heißen Äppler. Zwischen den Häusern hängt ein schwerer grauer Winterhimmel.

Als sie den Fluss erreichen und an der Haltestelle auf die Straßenbahn warten, bricht seine Mama das Schweigen.

»Da muss etwas geschehen«, sagt sie empört.

»Ohne Zweifel«, gibt Lehrer Hohnermann zurück. »Nur was? Und wie? Ich bin da ratlos.«

»Das ist doch ganz einfach«, sagt Heinz. »Wir brauchen Geld, dann kann die Julia in eine Lungenheilanstalt fahren und gesund werden.«