»Warum machst du dich selbst immer so schlecht? Wirklich verrückt, dass ein Mädchen wie du derart wenig Selbstvertrauen hat. Oder es ist nur eine List.«
»Was für eine Art von List denn bitte schön? Nur du kannst so einen Blödsinn reden.«
»Vielleicht willst du damit ja nur erreichen, dass man dir Komplimente macht.«
»Siehst du, ich habe recht! Wenn ich hübsch wäre, würdest du nicht denken, ich hätte es nötig, dass man mir Komplimente macht.«
»Du gehst mir echt auf die Nerven, Hope. Das Unwiderstehliche an dir ist deine geistreiche Art. Du bist das witzigste Mädchen, das ich kenne.«
»Wenn ein Junge zu einem Mädchen sagt, dass sie witzig ist, heißt das fast immer, sie ist hässlich.«
»Ach wirklich, weil sie nicht zugleich hübsch und witzig sein kann? Wenn ich gewagt hätte, das zu sagen, hättest du mir vorgeworfen, sexistisch und chauvinistisch zu sein.«
»Und dazu eine echte Pfeife – aber ich darf das sagen. Also, wie ist diese Anita?«
»Welche Anita?«
»Jetzt tu nicht so unschuldig!«
»Sie hat mich nicht begleitet. Wir haben zufällig nebeneinander im Kinosaal gesessen und nur unsere Meinungen über den Film ausgetauscht.«
»Ihr habt eure Meinungen über einen Film ausgetauscht, in dem es um eine anderthalbstündige Verfolgungsjagd und zum Schluss um eine stürmische Umarmung ging?«
»Du hältst mich von der Arbeit ab!«
»Seit einer Stunde schielst du immer wieder zu der Brünetten hinüber, die da ganz hinten am Ende der Bibliothek sitzt. Soll ich mich für dich einsetzen? Ich kann sie um ihre Telefonnummer bitten für den Fall, dass sie Single ist, und ihr sagen, dass mein guter Freund davon träumt, sie in einen Autorenfilm mitzunehmen. La grande bellezza – Die große Schönheit oder ein Meisterwerk von Visconti oder sogar einen alten Capra-Film …«
»Ich versuche, hier wirklich zu arbeiten, Hope, und ich kann nichts dafür, dass sich diese junge Frau in meinem Blickfeld befindet, während ich nachdenke.«
»Man kann die Anziehungskraft wirklich nicht dafür verantwortlich machen, dass Menschen sich verlieben, da gebe ich dir recht. Und über was grübelst du nach, wenn ich fragen darf?«
»Über Neurotransmitter.«
»Aha. Noradrenalin, Serotonin, Dopamin, Melatonin …«, zählte Hope mit ironischem Unterton auf.
»Jetzt sei mal still und hör mir einen Augenblick zu. Sie mobilisieren das Gehirn hinsichtlich bestimmter Aktionen, erhöhen Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit, beeinflussen unsere Schlafzyklen, unser Ernährungs- und unser Sexualverhalten … Melatonin spielt eine Rolle bei der Winterdepression …«
»Wenn du mir sagen kannst, welcher Neurotransmitter bei der Sommerdepression im Spiel ist, und zwar in dem Moment, in dem man versucht, sich in einen Bikini zu zwängen, schlage ich dich für den Nobelpreis vor …«
»Und wenn diese Moleküle in beide Richtungen funktionieren? Wenn die Neurotransmitter Informationen über die Auswirkungen sammeln würden, die sie im Lauf unseres Lebens auslösen? Stell dir vor, sie würden wie Teilchen eines ›Arbeitsspeichers‹ agieren, die unseren ganzen Erfahrungsschatz sammeln, alles, was unseren Charakter prägt, was uns verändert. Niemand weiß, wo im Gehirn sich unser Bewusstsein befindet, was aus jedem von uns ein einzigartiges Wesen macht. Stell dir also vor, dass die Neurotransmitter wie vernetzte Computer die enormen Mengen an digitalem Material speichern und so das Netzwerk bilden, in dem unsere Persönlichkeit wohnt.«
»Großartig! Geradezu genial! Und wie willst du das beweisen?«
»Warum, glaubst du, studiere ich Neurowissenschaften?«
»Um die Mädchen zu verführen, und ich bin sicher, der erste Prof, dem du von deinen revolutionären Theorien berichtest, wird dir vorschlagen, auf Jura oder Philosophie umzusteigen, ganz egal, nur damit er dich nicht mehr zu seinen Studenten zählen muss.«
»Wenn ich allerdings recht hätte – ist dir klar, was das bedeutet?«
»Angenommen, deine nebulöse Theorie wäre fundiert und es würde eines Tages gelingen, die Informationen, die in diesen Molekülen enthalten sind, zu entschlüsseln, könnte man im Gedächtnis eines Menschen zum Zeitpunkt t gelangen.«
»Wir könnten es nicht nur kopieren, sondern das gesamte Bewusstsein eines Menschen vielleicht auch auf einen Computer übertragen.«
»Ich finde diese Idee grauenhaft. Warum erzählst du mir das?«
»Damit du zusammen mit mir an diesem Projekt arbeitest.«
Hope brach in schallendes Gelächter aus, das von den Tischnachbarn mit finsteren Blicken bedacht wurde. Hopes Lachen versetzte Josh jedes Mal in gute Laune. Selbst wenn sie auf seine Kosten lachte, was nicht selten der Fall war.
»Du kannst schon mal damit anfangen, mich zum Abendessen einzuladen«, flüsterte sie. »Aber kein schwer verdauliches, ins Haus geliefertes Fast Food, mein Lieber, ich spreche von einem richtigen Restaurant.«
»Kann das noch ein bisschen warten? Ich bin momentan nämlich ziemlich knapp bei Kasse. Aber gegen Ende der Woche dürfte ein bisschen Kohle reinkommen.«
»Dein Vater?«
»Nein, Nachhilfestunden in Naturwissenschaften, die ich einem kleinen Idioten gebe. Seine Eltern halten verbissen daran fest, dass er eines Tages ein Studium absolviert, das diesen Namen auch verdient hat.«
»Du bist ein Snob und noch dazu bösartig. Ich bezahle die Rechnung.«
»Unter diesen Umständen bin ich gern bereit, dich zum Abendessen einzuladen.«
Josh hatte Hope während der ersten Monate auf dem Campus kennengelernt. Luke und er hatten auf dem Rasen eine nicht ganz legale Zigarette geraucht und sich über ihre Enttäuschungen in Liebesdingen ausgetauscht. Hope saß an einen Kirschbaum gelehnt da und ging ihre Vorlesungen durch.
Mit lauter, klarer Stimme hatte sie soeben gefragt, ob hier jemand unter einer unheilbaren Krankheit leide, die den medizinischen Einsatz einer psychotropen Substanz unter freiem Himmel rechtfertige.
Luke hatte sich aufgerichtet, um festzustellen, ob diese Stimme einer Dozentin oder einer Studentin gehörte, und während er sich suchend umsah, hatte Hope ihm gewinkt. Dann pustete sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn, die ihre Augen verdeckt hatte, und Luke war wie verzaubert.
»Du scheinst in Topform zu sein, daraus schließe ich, dass dein Kumpel, der am helllichten Tag die Sterne zählt, todkrank sein muss, wobei euer jamaikanischer Tabak sicher auch damit zu tun hat – selbst ich fühle mich schon etwas seltsam.«
»Willst du nicht zu uns herüberkommen?«, fragte Luke.
»Danke, aber ich habe so schon Mühe, mich zu konzentrieren. Dank eures brillanten Gesprächs über das weibliche Geschlecht lese ich seit einer halben Stunde immer wieder dieselbe Zeile. Es ist unglaublich, was Typen eures Alters für einen Blödsinn über Frauen sagen können.«
»Was liest du da gerade so Interessantes?«
»Angeborene Missbildungen des Zentralnervensystems von Professor Eugene Ferdinand Algenbruck.«
»Sie ist ein hübsches Mädchen, schlank und lässig, von Kopf bis Fuß fürs Überleben gemacht. Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden von Raymond Carver. Jeder hat so sein Kultbuch, stimmt’s? Aber wenn du uns über das weibliche Geschlecht aufklären willst – es ist ein größeres Mysterium als die Pathologie der Großhirnrinde, und weitaus aufregender.«
Hope beobachtete Luke zurückhaltend, schloss ihr Buch und stand auf.
»Erstes Studienjahr?«, fragte sie, während sie sich zu ihm gesellte.
Josh kam hinzu, um sie zu begrüßen, sie schwieg und begnügte sich damit, die ihr entgegengestreckte Hand zu betrachten. Überrascht, dass sie ihm nicht ebenfalls die Hand reichte, setzte er sich wieder hin.
Luke war nichts von den Blicken entgangen, die sie gewechselt hatten, und von dem Licht, das in Hopes Augen aufgeblitzt war, und auch wenn diese Unbekannte ihn bereits faszinierte, so war ihm doch klar, dass sie es nicht auf ihn abgesehen hatte.
Hope würde stets verneinen, dass sie sich an diesem Tag auch nur im Geringsten von Josh angezogen gefühlt hatte, Luke aber glaubte kein Wort davon, und immer, wenn das Thema aufkam, erinnerte er daran, dass die Folge der Ereignisse ihm recht gegeben hatte.
Auch Josh würde schwören, an jenem Tag nichts besonders Verführerisches an Hope bemerkt zu haben, und sogar hinzufügen, dass sie zu den Mädchen gehörte, die man erst hübsch findet, wenn man sie wirklich kennt. Und Hope würde es nie gelingen, ihn dazu zu bewegen zuzugeben, ob das ein Kompliment oder reiner Sarkasmus war.
Nachdem sie sich vorgestellt hatten, genossen sie die Milde des spätsommerlichen Abends. Da Josh nicht sonderlich redegewandt war, bemühte sich Luke, an seiner Stelle zu antworten, wenn Hope eine Frage stellte, und Josh beobachtete voller Schadenfreude, wie sehr sich sein bester Freund ins Zeug legte.
Mitte des Herbstes bildeten Hope, Josh und Luke ein unzertrennliches Trio. Nach den Vorlesungen trafen sie sich, wenn es das Wetter zuließ, auf dem Vorplatz der Bibliothek, an kalten und regnerischen Tagen im Lesesaal.
Josh arbeitete von den dreien am wenigsten und heimste die besten Noten ein. Nach jeder Prüfung verglich Luke ihre Ergebnisse und musste zugeben, dass die wissenschaftliche Intelligenz von Josh der der beiden anderen überlegen war. Hope milderte sein Urteil ab, Josh sei zwar brillant, aber er nutze über die Maßen seine Verführungskünste, sowohl bei den Professoren als auch bei seinen weiblichen Opfern. Bestenfalls sprach sie ihm mehr Vorstellungskraft als ihnen beiden zu, dafür jedoch sehr viel weniger Gewissenhaftigkeit.
Luke ließ sich zumindest nicht vom ersten Paar Beine ablenken, das an ihm vorbeispazierte und, genau wie die beiden anderen, hatte er sich die Priorität gesetzt, sein Studium erfolgreich abzuschließen.
Eines Abends, als sie in der Cafeteria lernten, verschlang eine Studentin an einem Nebentisch Josh geradezu mit Blicken, der seinerseits nicht darauf verzichtete, ihre Kontaktversuche verstohlen zu erwidern. Hope hatte die Heimlichtuerei unterbrochen und ihm vorgeschlagen, die alberne Gans in seinem Zimmer zu vernaschen, anstatt so zu tun, als arbeite er.
»Eine sehr elegante Bemerkung«, hatte er erwidert.
»Gleichstand«, hatte Luke geschlichtet. »Eine Frage: Warum müsst ihr beiden euch eigentlich ständig zanken? Ihr könntet doch einmal etwas anderes machen.« Angesichts ihres Schweigens hatte er hinzugefügt: »Gemeinsam ausgehen beispielsweise.«
Darauf folgte eine denkwürdige Befangenheit, und Hope zog sich kurz darauf unter dem Vorwand zurück, sie müsse ihre Prüfungen noch einmal durchgehen, was in Gegenwart von zwei Schwachköpfen wie ihnen unmöglich sei, wie sie abschließend feststellte.
»Was ist denn in dich gefahren?«, fragte Josh.
»Ich bin es leid zuzusehen, wie ihr wie zwei Halbwüchsige umeinander herumschleicht. Das ist echt nervtötend.«
»Was geht dich das an? Außerdem sind Hope und ich einfach nur befreundet.«
»Du bist möglicherweise doch weniger intelligent, als man allgemein glaubt. Oder wirklich blind, um in diesem Punkt dermaßen danebenzuliegen.«
Josh hatte mit den Schultern gezuckt und seinerseits die Cafeteria verlassen.
Zurück in der Wohnung, die er sich mit Luke teilte, hatte er sich vor seinen Laptop gesetzt, um einige Recherchen durchzuführen, mit denen er wenig Erfahrung hatte. Nachdem er alle Pseudonyme durchprobiert hatte, die ihm einfielen, musste er zur Kenntnis nehmen, dass Hope die einzige ihm bekannte Person war, die nicht im Netz auftauchte. Diese Unauffälligkeit fand er irgendwie heimtückisch.
Am nächsten Tag wartete er am Ende der Vorlesungen auf Hope. Sie spazierten über den Campus, und seine Versuche, das Thema anzuschneiden, blieben erfolglos. Hope machte sich einen Spaß daraus, die Bibliothek zu umrunden, ohne dass Josh merkte, dass sie wieder am Ausgangspunkt angekommen waren. Dann schlug sie den Weg in Richtung des Gebäudes ein, in dem sie ihr Zimmer hatte.
»Was willst du eigentlich, Josh?«, fragte sie ihn schließlich.
»Dir Gesellschaft leisten, sonst nichts.«
»Bist du in Verzug und willst, dass ich dir bei deinen Aufgaben helfe?«
»Ich bin nie in Verzug.«
»Wie schaffst du es, auf dem Laufenden zu sein, wo du so viel Zeit damit zubringst, Joints zu rauchen? Ein wissenschaftliches Phänomen!«
»Ich befasse mich mit dem Wesentlichen, ich optimiere meine Arbeitsstunden.«
»Ich neige eher zu der Annahme, dass es eine ganze Armee kleiner Laborantinnen gibt, die dir zu Diensten sind.«
»Es nervt, Hope, dass du immer über mich urteilst. Wofür hältst du mich eigentlich?«
»Für einen Hochbegabten, und das ärgert mich noch mehr, deshalb kann ich es nur schwer zugeben.«
Josh fragte sich, ob sie es ehrlich oder ironisch meinte.
Vor ihrem Wohnheim erinnerte Hope ihn daran, dass Jungen der Zutritt verboten war. Er würde nicht durch die Eingangshalle kommen, es sei denn, mit einer Perücke auf dem Kopf.
Schließlich stellte Josh die Frage, die ihn hierhergeführt hatte.
»Woher weißt du, dass ich in den sozialen Netzwerken nicht auftauche?«, fragte Hope zurück.
»Ich habe nichts gefunden.«
»Du hast also gesucht!«
Joshs Schweigen konnte als Eingeständnis gelten.
»Willst du nichts dazu sagen?«, beharrte er.
»Nein, ich versuche zu verstehen, was dich dazu gebracht haben könnte, deine wertvolle Zeit damit zuzubringen, Informationen über mich im Internet zu finden. Wäre es nicht einfacher gewesen, mich einfach zu fragen?«
»Gut, dann frage ich dich eben jetzt.«
»Wenn wir alles posten, was wir so treiben, wollen wir den anderen damit zeigen, dass unser Leben schöner ist als ihres. Meines ist einfach deswegen anders, weil es mein Leben ist und nicht das einer anderen, und deshalb behalte ich es für mich. Außerdem bist du auch nicht auf Facebook!«
»Ach ja? Woher weißt du das?«, fragte Josh mit diesem Lächeln, das Hope in höchstem Maße ärgerte.
»Gleichstand, wie Luke sagen würde«, antwortete sie.
»Ich mag die sozialen Netzwerke nicht, ich mag überhaupt keine Netzwerke«, antwortete Josh, »ich bin ein Einzelgänger.«
»Was willst du später einmal machen?«
»Elefanten im Zirkus trainieren.«
»Das ist genau die Art von Antwort, bei der ich denke, dass wir nie miteinander schlafen werden«, gab Hope zurück, ohne sich der Ungeheuerlichkeit bewusst zu sein, die sie soeben geäußert hatte.
In Verlegenheit gebracht, gelang es Josh nicht zu reagieren.
»Vielleicht, weil du es nie in Erwägung gezogen hast?«, fuhr Hope fort.
»Doch, aber mir war klar, dass du niemals einen Elefantendompteur in deinem Bett würdest haben wollen, deshalb habe ich nichts in der Richtung versucht.«
»Gegen Elefanten habe ich letztlich nichts … Aber gut, du wärst nur meine x-te Eroberung«, sagte sie, wobei sie sich ganz offen über ihn lustig machte. »Und denk bloß an den nächsten Morgen … Es wäre so unangenehm, dir gestehen zu müssen, dass du dir keine Illusionen machen und nicht hoffen sollst, mit uns beiden könnte es etwas Ernstes werden. Ich sehe mich in der Morgendämmerung verstohlen davonschleichen, während du noch schläfst und ich schon halb tot bin vor Scham. Du verdienst etwas Besseres als mich, das schwöre ich dir …«
»So siehst du mich also?«, unterbrach Josh sie. »Du glaubst, dass ich so ein Typ bin, ungeniert und vulgär?«
»Vulgär niemals, aber ungeniert sicherlich.«
Mit bestürzter Miene entfernte sich Josh, und Hope fragte sich, ob sie nicht etwas zu weit gegangen war. Sie rannte ihm nach.
»Schau mir in die Augen und schwör mir, dass du nicht so ein Typ bist.«
»Du kannst von mir aus denken, was du willst.«
Josh beschleunigte seinen Schritt, aber Hope holte ihn ein und baute sich vor ihm auf.
»Gib mir eine Nacht im Labor, und ich werde eine Pille entwickeln, die ich morgen früh unauffällig in deinem Kaffee auflöse«, sagte sie.
»Und welche Wirkung hätte diese Pille?«, fragte Josh, der den Schlag noch nicht verdaut hatte.
»Sie wird aus deinem Gedächtnis alles löschen, was wir uns in den letzten vierundzwanzig Stunden gesagt haben, also vor allem alles, was ich von mir gegeben habe, meinen zweifelhaften Humor … und alle meine Fehler. Aber sei beruhigt, an meinen Vornamen wirst du dich noch erinnern.«
Was Josh überwältigte, waren die beiden Grübchen, die sich in ihren Mundwinkeln zu bilden begannen, als sie ihn anlächelte, wie zwei Klammern, die den Rest seines Lebens einfassen sollten. Auf Hopes Gesicht war etwas Einzigartiges aufgetaucht. Ob es nun ein Ausdruck war, den sie noch nie gezeigt hatte oder den er noch nie wahrgenommen hatte, in diesem Augenblick spürte er auf jeden Fall, dass zwischen ihnen nichts mehr so sein würde wie zuvor. Keiner seiner Eroberungen war es bisher gelungen, seinen Panzer zu knacken, aber an diesem Abend hatte Hope mit ihren Bemerkungen genau ins Schwarze getroffen.
Er küsste sie auf die Wange, bereute diesen Übereifer, den er schrecklich ungeschickt fand, und machte die ebenso schreckliche Feststellung, dass es ihm nicht gelingen würde, drei sinnvolle Worte aneinanderzureihen, und wäre es nur, um seiner Freundin einen schönen Abend zu wünschen.
»Sollen wir hierbleiben und die erleuchteten Fenster zählen?«, schlug Hope vor. »Ich hätte dir gerne vorgeschlagen, die Sterne zu zählen, ich weiß ja, dass du sie liebst, aber der Himmel ist heute Abend bedeckt.«
Hope fragte sich, was sie dazu trieb, Josh so zu provozieren. Auch sie hatte das Gefühl, eine seltsame Befangenheit läge in der Luft. Die Zeit war gekommen, die Deckung fallen zu lassen. Wenn sie ihn weiter zurückstieß, würde sie ihn wirklich von sich entfernen. Es war vergebene Liebesmüh, sich schützen zu wollen, sie war verrückt nach ihm, und sich in Verweigerung zu verstricken, würde daran nichts ändern. Auch wenn sie ihr Sexualleben, im Gegensatz zu vielen ihrer Freundinnen, nicht an die erste Stelle ihrer Beschäftigungen setzte, musste sie doch zugeben, dass sich eine gewisse, um nicht zu sagen völlige Abstinenz bei ihr eingestellt hatte, seit sie Josh begegnet war, und das war womöglich kein Zufall. Konnte man wirklich so naiv sein, unbewusst jemandem treu zu sein, mit dem gar nichts lief? Welches idiotische Molekül konnte das Gehirn dazu bringen, sich so einzuschränken?
Josh beobachtete sie ratlos.
Hope hatte eine Wahnsinnslust, ihn zu sich einzuladen. Um diese Zeit war die Eingangshalle menschenleer. Die Treppe hinaufzugehen, die paar Meter über den Flur bis zu ihrer Zimmertür zurückzulegen, war mit keiner großen Gefahr verbunden, wenn man diskret vorging. Schlimmstenfalls würde man einer anderen Studentin begegnen – die Wahrscheinlichkeit, dass ein Unschuldsengel sie verpfeifen würde, war ziemlich gering. Sie hatte bereits einige ihrer Nachbarinnen dabei überrascht, dieses Risiko einzugehen. Das alles hatte Hope sich innerhalb von wenigen Sekunden vorgestellt, aber der heikelste Teil ihres Plans bestand darin, ihn mit demjenigen zu besprechen, der sie mit seinen Blicken fixierte. Dabei genügte es, etwas Einfaches zu sagen wie: »Möchtest du auf ein Gläschen mit raufkommen?« – Wohl wissend, dass es in ihrem Zimmer weder Alkohol noch ein anderes Glas als ihr Zahnputzglas gab – oder, ebenso kompromittierend, aber glaubwürdiger: »Sollen wir unsere Unterhaltung oben fortsetzen?« Sie nahm dreimal Anlauf, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken.
Josh starrte sie weiter an, die Zeit verrann, und er musste zur Tat schreiten … oder auch nicht.
Es gelang ihr, ihn etwas glücklicher anzulächeln als bisher, dann zuckte sie mit den Schultern und verschwand schließlich allein im Haus.
Nachdenklich versuchte Josh, das Ausmaß des Schadens einzuschätzen, das diese Unterhaltung ihrer Freundschaft zufügen würde, wobei er auch die Tatsache berücksichtigte, einen Moment lang sogar Monogamie in Erwägung gezogen zu haben. Das beunruhigte ihn möglicherweise noch mehr als der erste Punkt, und er beschloss, vor dem nächsten Tag keinerlei endgültige Schlussfolgerungen zu ziehen, überhaupt gar keine Schlussfolgerung, bis sich alles wieder normalisiert hätte, und vor allem nie mehr seinen Blick auf Hopes Mund zu richten.
Hope streckte sich auf ihrem Bett aus, starrte an die Decke, griff nach einem ihrer Lehrbücher, dessen Seiten sie umblätterte, ohne sich konzentrieren zu können, und bedauerte ein einziges Mal, keine Mitbewohnerin zu haben, und da sie merkte, dass sie nicht würde schlafen können, stand sie auf und beschloss, ins Labor zu gehen.
In schlaflosen Nächten arbeitete sie gerne dort. Das Campus-Labor, ein riesiger Raum mit rosa Wänden, eine Deko, die Hope als geheimnisvoll empfand, verfügte über alle Materialien, die sich ein Student nur wünschen konnte. Mikroskope, Zentrifugen, Kühlschränke, Autoklaven und rund dreißig Labortische mit Spüle und Computer. Um jedoch dorthin zu gelangen, musste sie einen Korridor entlanggehen, der ihr eine Heidenangst einjagte. Sie atmete tief ein, dachte daran, dass sie den restlichen Abend mit Josh hätte verbringen können, wenn es ihr einmal gelungen wäre, ihre Gefühle auszusprechen, und verließ ihr Zimmer.
Sie ging einen Weg hinauf und erreichte die Eingangshalle des Gebäudes. Ihre ökologischen Überzeugungen über Energiesparmaßnahmen gerieten in dem Moment ins Wanken, als sie über den ins Halbdunkel getauchten Flur zum Labor ging. Sie beschleunigte ihre Schritte und begann, vor sich hin zu trällern.
Als sie die Tür zum Labor aufstieß, war sie überrascht, Luke dort vorzufinden. Er war über ein Mikroskop gebeugt und schien sie nicht eintreten gehört zu haben. Hope näherte sich mit leisen Schritten, fest entschlossen, ihm den Schrecken seines Lebens einzujagen.
»Sei nicht albern, Hope«, brummte er schließlich hinter seiner Schutzmaske, die einen guten Teil seines Gesichts bedeckte, »ich hantiere hier mit etwas Empfindlichem.«
»Und womit hantierst du da zu so später Stunde?«, fragte Hope, enttäuscht, ihren Auftritt vermasselt zu haben.
»Mit sich erwärmenden Zellen.«
»Woran arbeitest du?«
»Wenn du mich weiter ablenkst, an gar nichts! Ich vermute, wenn du mitten in der Nacht hergekommen bist, dann, um ebenfalls zu arbeiten, oder?«
»Charmant!«, antwortete sie, bewegte sich jedoch keinen Zentimeter vom Fleck.
Luke hob den Kopf und drehte sich auf seinem Stuhl herum. »Was willst du, Hope?«
»Hat Josh Humor? Ich meine, hat er hinter seinem unechten umwerfenden Lächeln wirklich Humor?«
Luke blickte Hope ernst an und wandte sich wieder seinem Mikroskop zu.
»Ich spreche auch gern mit deinem Rücken«, nahm Hope den Faden wieder auf, »aber du könntest schon ein bisschen höflicher sein.«
Luke drehte seinen Stuhl wieder zurück.
»Josh ist mein bester Freund, du bist neu in unserer Clique, also wenn du dir einbildest, ich würde hinter seinem Rücken mit dir über ihn sprechen, täuschst du dich.«
»Warum erwärmst du Zellen?«
»Wir sind uns schon einig, dass diese Frage mit der vorherigen nichts zu tun hat?«
»Ich dachte, das Thema wäre abgeschlossen, also habe ich es gewechselt.«
»Gut! Um zu versuchen, sie wieder aufzuwecken.«
»Du hattest sie in Schlaf versetzt?«
»Ja, indem ich sie eingefroren habe.«
»Aber warum?«
Luke merkte, dass er sie nicht so einfach wieder loswerden würde. Er war müde, und seine Arbeiten würden noch einen Großteil der Nacht dauern. Er wühlte in der Tasche seines Arbeitskittels, holte zwei Fünfundzwanzig-Cent-Münzen heraus und reichte sie Hope.
»Der Kaffeeautomat ist auf dem Gang. Für mich einen Kaffee mit Milch und der doppelten Dosis Zucker, für dich, was du möchtest.«
Hope sah ihn amüsiert an, die Hände in die Hüften gestützt. »Wofür hältst du mich?«
Luke fixierte sie schweigend.
»Du solltest dich schämen«, sagte sie und machte sich auf den Weg zum Kaffeeautomaten.
Kurz darauf war sie zurück und stellte den Becher auf den Labortisch.
»Also, woran arbeitest du?«
»Versprich mir zuerst, dass du Josh nichts davon sagen wirst.«
Der Gedanke, mit Luke ein Geheimnis zu teilen, egal worum es ging, und dass Josh nichts davon wusste, erfüllte Hope mit Freude. Sie nickte und widmete ihm ihre ganze Aufmerksamkeit.
»Du hast sicher schon mal etwas von Biostase gehört?«
»Vom Winterschlaf?«
»Beinahe, der Zustand ähnelt dem Winterschlaf, geht jedoch noch etwas weiter. Man spricht auch von einem ›reversiblen Tod‹.«
Hope zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.
»Bestimmte Säugetiere können ihren Stoffwechsel so weit verlangsamen, dass sie nahezu tot sind. Hierfür senken sie ihre Körpertemperatur schrittweise auf beinahe null Grad ab. In diesem lethargischen Zustand verringert das Tier seinen Sauerstoffverbrauch drastisch, senkt den Herzrhythmus und reduziert damit den Blutfluss erheblich, sodass sein Herzschlag kaum noch wahrnehmbar ist. Um zu überleben, produziert der Organismus wirksame Antikoagulanzien, damit die Bildung von Blutgerinnseln verhindert wird. Die Zellprozesse kommen sozusagen zum Erliegen. Das ist ganz schön faszinierend, oder? Die Frage ist, ob auch andere Säugetiere über dieselbe Fähigkeit verfügen, es jedoch nicht verstehen, sie auch zu nutzen. Du hast sicher schon von den seltenen, aber dennoch vorkommenden Fällen gehört, wo Menschen, die in eiskaltes Wasser gefallen waren oder im Gebirge vermisst wurden, nach relativ langer Zeit gerettet wurden und eine starke und lange Unterkühlung ohne neurologische Folgen überlebt haben. Ihr Organismus hat ähnlich reagiert, indem er sich in eine Art extremen Stand-by-Modus versetzt hat, um seine lebenswichtigen Organe genauso zu schützen wie die Tiere, von denen ich gesprochen habe.«
»Okay, okay, das weiß ich alles, aber warum arbeitest du an der Biostase?«
»Immer mit der Ruhe. Der Zustand der Biostase würde es theoretisch ermöglichen, und ich betone das Wort theoretisch, einen Organismus gefrieren zu lassen und auf unbestimmte Zeit zu konservieren.«
»Macht man das nicht bereits mit Spermatozoiden für die In-vitro-Befruchtung?«
»Und sogar mit Embryonen im frühen Teilungsstadium, wobei diese maximal acht Zellen umfassen dürfen. Das sind sozusagen die einzigen Organismen, bei denen die Konservierung auf diese Weise gelingt und bei denen es vor allem möglich ist, sie auf Wunsch wieder zum Leben zu erwecken. Erhalten ist eine Sache, wieder zum Leben zu erwecken eine andere. Die heutige Wissenschaft stößt auf ein physikalisches Problem. Nähert man sich der extremen Kälte, bilden sich in den Geweben Eiskristalle und zerstören oder beschädigen die Zellen.«
»Und was genau willst du beweisen?«
»Nichts, ich begnüge mich damit, es zu studieren, dieses Gebiet fasziniert mich. Die Kryokonservierung ist eine Kreuzung aus mehreren Disziplinen, aus der Medizin natürlich, der Kältetechnik, der Chemie, der Physik, aber das Schwierigste ist, jemanden zu finden, der es versteht, alle diese Kompetenzen zu orchestrieren.«
»Möchtest du eines Tages der Dirigent dieses Orchesters sein?«
»Eines Tages vielleicht … träumen ist schließlich erlaubt, oder?«
»Warum muss das Josh gegenüber ein Geheimnis bleiben?«
»Ich habe meine Gründe, und du hast mir ein Versprechen gegeben, ich hoffe, du hältst dich daran.«
»Ehrlich gesagt finde ich es absolut nicht sensationell, die Nacht damit zu verbringen, eingefrorene Zellen zu beobachten. Du kannst auf meine Diskretion zählen.«
Luke beugte sich über sein Mikroskop und zuckte mit den Schultern. »Vergiss es, du hältst mich wahrscheinlich für einen Fantasten, und ich muss jetzt wirklich weiterarbeiten.«
Hope beobachtete ihn. Irgendetwas quälte sie, sie war sich sicher, dass Luke nicht nur vor Josh etwas verbarg.
»Weißt du, warum ich mich für dieses Studium entschieden habe?«, fragte sie nach kurzem Schweigen.
»Nein, und ich pfeif drauf!«
»Um das Molekül zu entwickeln, dass der Entwicklung neurodegenerativer Erkrankungen vorbeugen wird.«
»Sag bloß! Du wirst also Alzheimer … ausrotten, aber sonst geht’s dir gut?«
»Alzheimer und verwandte Krankheiten, du siehst also, dass ich in der Kategorie der großen Fantasten auch meinen Platz habe.«
Luke drehte sich zu Hope um. Sein hartnäckiger Blick bereitete ihr Unbehagen.
»Eines Tages werde ich es dir erklären, aber nicht heute Abend. Lass mich jetzt in Ruhe, du bist ja sicher gekommen, weil du auch zu arbeiten hast.«
Hope spürte, dass sie nichts weiter erfahren würde, und setzte sich an einen anderen Tisch.
In ihrem Kopf schwirrten die Gedanken. Während sie die Kenntnisse wiederkäute, die sie im ersten Studienjahr erworben hatte, versuchte sie zu erraten, inwiefern die Kryokonservierung der Medizin nutzen könnte. Sie hatte einen Artikel über ein laufendes Experiment in der Notfallabteilung des Krankenhauses von Pittsburgh gelesen. Verletzte in kritischem Zustand wurden in eine tiefe Hypothermie versetzt, um den Chirurgen die nötige Zeit zu verschaffen, ihre Verletzungen zu operieren. Während des Eingriffs wurde die Körpertemperatur auf zehn Grad abgesenkt, was den Organismus in einen Zustand versetzte, der quasi dem klinischen Tod entsprach, bevor man diesen Organismus dann wieder reanimierte. Schließlich, so dachte sie, würde die Kälte künftig vielleicht weitere, wichtige therapeutische Fortschritte bieten. Und sie wollte herausfinden, welche Luke dazu bringen konnten, die Nacht hinter dem Rücken von Josh zu verbringen.
Sie hob den Kopf, er saß noch immer über sein Mikroskop gebeugt da.
»Man könnte die Kälte also gezielt einsetzen, um Krebszellen anzugreifen? Nehmen wir einmal an, man würde die Körpertemperatur vor einer Chemotherapiesitzung absenken. Logischerweise würden dadurch die bösartigen Zellen in Schlaf versetzt, wären also empfindlicher.«
»Und in diesem Fall auch die gesunden Zellen«, antwortete Luke. »Also los, sprich morgen in der Vorlesung darüber, dann wird man sehen, was der Professor dazu zu sagen hat.«
»Ganz sicher nicht, denn wenn ich eine geniale Idee habe, ziehe ich es vor, mich zuerst ausgiebig selber damit zu befassen.«
»Dein Genie ist wirklich insofern bemerkenswert, als du glaubst, vor dir habe noch niemand daran gedacht«, äußerte Luke im Plauderton. »Wenn du dir die Mühe machst, ein paar Recherchen durchzuführen, und zwar vor deiner nächsten genialen Entdeckung, so wirst du erfahren, dass man seit mehreren Jahren Kryosonden auf kleinen Tumoren platziert, um ihre Temperatur auf minus vierzig Grad abzusenken. Im Inneren der bösartigen Zellen bilden sich Eiskristalle, und wenn sie sich wieder erwärmen, platzen sie. Zu dumm, dass die Medizin Fortschritte macht, während du mich hier störst.«
»Es ist nicht nötig, so unfreundlich zu sein. Ich wollte nur diskutieren.«
»Nein, du willst wissen, was ich mache, und darauf kann ich dir keine Antwort geben. Ich experimentiere.«
»Aber welche Art Experiment unternimmst du?«
»Eine Art, die dazu führen kann, dass ich von der Uni fliege, deshalb arbeite ich nachts und ziehe es vor, dir nichts mehr darüber zu sagen. Verstehst du es nun?«
»Ich verstehe vor allem, dass ich jetzt doppelt so neugierig bin. Du kennst mich offenbar sehr schlecht. Gut, gibst du mir nun die Information oder nicht?«
Luke stand auf und setzte sich neben sie. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und näherte sein Gesicht dem ihren.
»Denk gut darüber nach, denn wenn ich dieses Geheimnis mit dir teile, bist du eine Komplizin, ob du willst oder nicht.«
»Das ist gut überlegt!«
Aber Luke ging an seinen Platz zurück, und Hope wusste, dass sie momentan nichts weiter von ihm hören würde. Sie nahm ihre Sachen und verließ das Labor. Sie empfand keinerlei Angst, als sie über den Flur zurückging, dazu war sie viel zu aufgeregt.
Wieder in ihrem Zimmer streckte sie sich auf dem Bett aus, griff nach ihrem Smartphone und schrieb eine Mail. Sie las den Text noch einmal durch, zögerte und schickte ihn dann ab.