Der Wecker klingelte. Josh schlug die Augen auf und streckte sich, bevor er sich mühsam aus dem Bett quälte. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, betrachtete sich kritisch im Spiegel über dem Waschbecken und beschloss, sich unter der Dusche zu rasieren. Alles, was ihm half, seine Benommenheit loszuwerden, war gut.
Frisch rasiert, trocknete er sich ab, sah auf die Uhr und zog sich in aller Eile an. Die Klausuren rückten immer näher, es würde ein langer Tag werden.
Er überprüfte die Unterlagen, vergewisserte sich, dass sein Handy aufgeladen, sein Schlüsselbund in der Jackentasche war, und schlug die Wohnungstür hinter sich zu.
Unterwegs ergatterte er ein Exemplar der kostenlosen Campus-Tageszeitung und eilte zur Cafeteria.
Als er vor seinem Frühstück saß, ging er die SMS auf seinem Smartphone durch und öffnete die einzige, die es wert war, noch nüchtern gelesen zu werden.
Mein lieber Josh,
ich komme am besten gleich zur Sache: Ein Teil meines Gehirns verführt mich dazu, Dir zu sagen: »Vergessen wir den gestrigen Zwischenfall«, und der andere Teil weiß nicht, warum ich Dir diese Message schicke.
Ich küsse Dich (auf die Wange, versteht sich).
Hope
Es wurmte ihn, dass ihm keine Antwort einfiel, die sie zum Lächeln hätte bringen können. Er dachte noch während der Vorlesungen daran.
Als Luke ihn fragte, warum er seit einer Stunde murmelnd zur Decke starrte, erwiderte Josh: »Ich glaube, ich habe gestern Abend mit Hope Mist gebaut.«
Luke sagte nichts über ihre Begegnung im Labor.
»Hast du ihr etwas über unsere Arbeit verraten?«, wollte Luke wissen.
»Nein, das hat nichts damit zu tun. Ich habe sie bis vor ihre Haustür begleitet, wir hatten ein seltsames Gespräch, und ich dachte schon, sie wollte mich zu sich auf ihr Zimmer einladen. Jetzt weiß ich nicht mehr, woran ich bin.«
»Wie könntest du bei deinen ganzen Eroberungszügen auch noch wissen, woran du bist?«
»Hope ist anders, und so viele Abenteuer habe ich nun auch wieder nicht. Ich baggere zwar viele an, aber schlafe doch nicht mit jeder.«
»Das ist Ansichtssache. Schließlich bin ich es, der mir das Gejammer der Mädchen anhören muss, die du abblitzen lässt.«
»Eben – die ich abblitzen lasse! Und wage nicht zu behaupten, das käme dir nicht gelegen! Übrigens, dürfte ich wissen, wo du geschlafen hast?«
»Ich habe die Nacht im Labor verbracht. Schließlich muss ja einer von uns unser Projekt voranbringen. Sag mal ganz ehrlich: Hast du vor, sie einzuweihen?«, fragte Luke.
Josh tat so, als würde er über die Frage seines Freundes nachdenken. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte er Hope schon längst zu überreden versucht, sich ihnen anzuschließen – ihr Beitrag wäre wertvoll … Doch wie er Luke kannte, war es geschickter, ihn entscheiden zu lassen.
»Warum nicht? Sie ist clever, einfallsreich, neugierig auf alles, und …«
»Ich glaube, du weißt ganz genau, woran du mit ihr bist. Doch ich warne dich: Wenn wir sie in unsere Sache einweihen, musst du deine Gefühle im Zaum halten. Es kommt gar nicht infrage, dass sie wegen irgendeiner Enttäuschung in eurer Liebesgeschichte das Handtuch wirft. Wenn sie mitmachen will, muss ihr Engagement bedingungslos sein.«
Hope kehrte die Woche über nicht ins Labor zurück. In ihrer gesamten Freizeit verschlang sie Bücher über Kryokonservierung. Sie war ehrgeizig: Wenn Luke ihr schließlich alles verraten würde, wollte sie bei dem Thema genauso bewandert sein wie er.
Josh wiederum dachte über die Bedingung nach, die Luke für Hopes Aufnahme in ihr Team gestellt hatte. Eigentlich ein guter Grund, seinen bisherigen Lebensstil fortzuführen, doch diese Vorstellung erfüllte ihn seltsamerweise auch nicht mit Befriedigung.
Nachdem er am Samstag den Lohn für seine Nachhilfestunden einkassiert hatte, bat er Luke, ihm seinen Wagen zu leihen.
»Und wo willst du hin?«
»Beeinflusst das deine Entscheidung?«
»Nein, reine Neugier.«
»Ich muss mal frische Luft schnappen, ein kleiner Ausflug aufs Land. Bin heute Abend zurück.«
»Wir könnten doch morgen zusammen fahren. So eine kleine Atempause würde mir auch guttun.«
»Ich möchte gerne allein sein.«
»Eine Spritztour aufs Land mit Jackett und gebügeltem Hemd … Darf ich ihren Vornamen wissen?«
»Gibst du mir jetzt den Wagen oder nicht?«
Luke durchwühlte seine Hosentasche und warf ihm die Schlüssel zu. »Vergiss nicht, wieder vollzutanken!«
Josh lief die Treppe hinunter und wartete, bis er am Steuer des Camaro saß, um Hope anzurufen. Es war mehr eine Aufforderung als eine Einladung, ihn am Ausgang des Campus vor der Subway-Station Vassar Street zu treffen. Hope protestierte aus Prinzip, sie sei mit ihrer Arbeit in Verzug, doch sie hörte Josh nur sagen: »Also in zehn Minuten«, ehe er auflegte.
»Na dann«, rief sie und warf ihr Smartphone aufs Bett.
Sie kämmte sich vor dem Spiegel, streifte einen Pullover über, zog ihn gleich wieder aus, um einen anderen anzuziehen, kämmte sich erneut, griff nach ihrem Smartphone, das sie in ihre Handtasche steckte, und verließ das Haus.
Am verabredeten Treffpunkt angelangt, wartete sie vor der Ampel, um die Straße zu überqueren. Mit den Blicken suchte sie Josh auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig, entdeckte dann aber den Camaro, der in zweiter Reihe parkte, wenige Meter von der Kreuzung entfernt.
»Was ist los?«, erkundigte sie sich besorgt und nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
»Wir müssen sprechen, ich lade dich zum Abendessen ein, aber dieses Mal zahle ich. Worauf hast du Lust?«
Hope fragte sich, was in seinem Kopf vorging. Sie hätte gerne die Sonnenblende heruntergeklappt, um einen prüfenden Blick in den kleinen Spiegel zu werfen, doch sie verzichtete lieber darauf.
»Nun?«
»Habe ich freie Hand?«
»Sofern es nicht meine Mittel übersteigt.«
»Wie wäre es mit Austern am Meer? Fahren wir nach Nantucket.«
»Das ist drei Autostunden von hier entfernt, plus die Überfahrt mit der Fähre. Hast du nichts Näheres vorzuschlagen?«
»Nein«, antwortete sie schlagfertig, »aber eine Pizza würde es auch tun, und mit dem, was wir damit gespart haben, können wir ja das Benzin zahlen.«
Josh sah sie an, drehte den Zündschlüssel und fuhr los.
»Wir hätten Richtung Süden abbiegen müssen, jetzt fahren wir nach Norden«, meinte sie, als sie das Stadtgebiet verließen.
»Salem ist fünfundvierzig Minuten entfernt, da finden wir nicht nur deine Austern, sondern auch deine Meeresküste.«
»Gut, dann also Salem. Und du erzählst mir ein paar Hexengeschichten. Worüber willst du überhaupt mit mir sprechen?«
»Über Hexerei in gewissem Sinne, aber warte, bis wir im Restaurant sind.«
Josh schob eine Kassette ins Autoradio und drehte die Lautstärke voll auf.
Beim Klang der Stimmen von Simon and Garfunkel wechselten sie einen verschmitzten Blick, amüsiert darüber, wie sehr Lukes musikalischer Geschmack durch und durch retro war. Hope hörte »Mrs. Robinson« in Endlosschleife und sang dabei aus vollem Halse mit, sodass Josh sich beglückwünschte, dass die Reise nicht bis nach Nantucket ging.
Bald zeichnete sich Salem am Horizont ab. Josh kannte dort ein altes Fischer-Bistro am kleinen Hafen im historischen Zentrum. Um ehrlich zu sein, das einzige Viertel, das die Reise lohnte. Hope hatte Lust auf Meeresfrüchte und Seeluft geäußert und nicht auf eine Besichtigungstour. Er stellte den Wagen auf einem Parkplatz ab und führte sie in das Restaurant.
Dort ließ er bei der Chefin seinen ganzen Charme spielen, woraufhin sie ihnen einen Tisch am Fenster zuwies.
»Wie viele können wir uns leisten?«, flüsterte Hope mit Blick auf die Karte.
»So viele du willst.«
»Ich wollte sagen, ohne dass wir nachher in der Küche abspülen müssen.«
»Zwölf.«
Hopes Blick wanderte zu dem kleinen Aquarium, in dem drei Hummer herumkrochen, die Zangen mit Gummibändern fixiert.
»Warte«, sagte sie und nahm ihm die Karte ab. »Ich habe eine andere Idee. Vergiss die Austern.«
»War das nicht Sinn und Zweck dieses Ausflugs?«
»Nein, Sinn und Zweck des Ausflugs ist das Wichtige, was du mir sagen willst.«
Bei diesen Worten nahm sie den Kellner beim Arm und führte ihn zum Aquarium. Sie deutete mit dem Finger auf den kleinsten der drei Hummer und bat den jungen Mann, ihn ihr in einer Plastiktüte zu bringen. Josh ließ sie gewähren, ohne einzugreifen.
»Sollen wir ihn nicht vorher kochen?«, erkundigte sich der Kellner, der bei den vielen Spinnern, die die Stadt der Hexen besuchten, eigentlich gedacht hatte, schon alles erlebt zu haben, so etwas allerdings noch nicht.
»Nein, ich möchte ihn so, wie er ist, und dazu die Rechnung bitte.«
Josh zahlte und folgte Hope, die mit dem Hummer in der Plastiktüte zum kleinen Hafen rannte, in dem eine Reihe von Segelbooten auf dem ruhigen Wasser schaukelte.
Sie streckte sich bäuchlings auf dem Quai aus, tauchte die Tüte ins Wasser, zog sie wieder heraus, bevor sie aufstand. Dann sah sie sich um und rief: »Schau dort, die Spitze der Halbinsel scheint mir bestens geeignet …«
»Dürfte ich wissen, was du da vorhast, Hope?«
Ohne zu antworten, machte sie sich auf den Weg und hinterließ eine Wasserspur, da die Tüte nicht wirklich dicht war.
Zehn Minuten später erreichte sie außer Atem das Ende der Mole. Sie zog das Tier heraus und bat Josh, es festzuhalten. Vorsichtig befreite sie seine Zangen von den Fesseln und sah ihm dabei tief in die schwarzen Augen.
»Du wirst dem Hummer deiner Träume begegnen, und wenn ihr viele kleine Hummer bekommen habt, bringst du ihnen bei, sich nicht in den Reusen der Fischer fangen zu lassen. Sie werden auf dich hören, weil du ein Überlebender bist, und wenn du sehr alt sein wirst, erzählst du ihnen, dass eine gewisse Hope dir das Leben gerettet hat.«
Dann bat sie Josh, ihn so weit wie möglich aufs Meer zu werfen.
Der Hummer legte einen fantastischen Gleitflug hin, bevor er im Atlantik abtauchte.
»Du bist total durchgeknallt!«, rief Josh, der die Blasen auf der Wasseroberfläche verschwinden sah.
»Aus deinem Munde klingt das für mich wie ein Kompliment. Für die Austern war es zu spät, sie waren bereits geöffnet.«
»Dann hoffen wir mal, dass dein Schützling es bis ins offene Meer schafft. Ich weiß nicht, wie lange er gefesselt in seinem Behälter verbracht hat, aber seine Glieder dürften etwas steif und gefühllos sein.«
»Ich bin sicher, er schafft es, er hatte so eine richtige Siegervisage.«
»Wenn du es sagst! Und was essen wir jetzt?«
»Ein Sandwich, wenn das deine Mittel nicht übersteigt.«
Sie liefen über den Strand zurück. Hope hatte ihre Schuhe ausgezogen, um den feuchten Sand unter ihren Fußsohlen zu spüren.
»Was wolltest du mir so Dringendes sagen?«, fragte sie unterwegs.
Josh blieb stehen und seufzte. »Vor allem wollte ich mit dir sprechen, bevor Luke es tut.«
»Aber worüber?«
»Wer finanziert dein Studium, Hope?«
Die Hoffnung, dass Josh sie hergeführt hatte, um über sie beide zu sprechen, verschwand so schnell wie das Meer bei Ebbe.
»Mein Vater«, sagte Hope, um Haltung bemüht.
»Meins wird in Form eines Kredits von einem Labor bezahlt. Sobald ich mein Diplom in der Tasche habe, muss ich ihnen alles zurückerstatten oder zehn Jahre für sie arbeiten.«
»Und du sagst, dass mein Hummer lange gefesselt war?«
»Nicht alle Studenten haben Eltern, die ihnen helfen können.«
»Wie hast du dich rekrutieren lassen?«
»Es war eine Art Wettbewerb. Man musste ein Konzept vorstellen, das heute noch utopisch ist, in der Zukunft aber realisierbar erscheint.«
»Was für eine sonderbare Idee!«
»Die meisten technologischen Fortschritte, die unsere Lebensweise verändert haben, wären vor dreißig Jahren für unmöglich gehalten worden. Das gibt zu denken, oder?«
»Vielleicht, aber das hängt von deinen Interessenschwerpunkten ab. Hat Luke auch seine Seele verkauft?«
»Wir haben zusammen an dem Wettbewerb teilgenommen.«
»Und um welches innovative Projekt handelt es sich?«
»Um die Erstellung eines digitalen Abbilds aller Gehirnverbindungen.«
»Na klar … Und ihr vollbringt diese Glanzleistung, während ihr gleichzeitig studiert? Du solltest vielleicht nicht so viele Joints rauchen.«
»Die Sache ist absolut seriös. Wir gehören einer Gruppe von Forschern an, einem sehr wichtigen Team, dem beachtliche Summen bewilligt werden, um ihre Projekte zum Abschluss zu bringen. Luke und ich hatten das Glück, ins Schwarze zu treffen und dazugehören zu dürfen.«
»Natürlich … Und wie habt ihr es geschafft, ins Schwarze zu treffen?«, fragte Hope zweifelnd und ein bisschen neidisch.
»Schwör mir, dass das unter uns bleibt. Kein Wort zu Luke, und sollte er das Thema erwähnen, so musst du mir versprechen, ganz erstaunt zu tun.«
»Ich spüre jetzt schon, dass ich es sein werde – ganz erstaunt.«
Josh setzte ein breites Lächeln auf und erwiderte: »Es ist tatsächlich ganz einfach – ich bin genial!«
Hope traute ihren Ohren nicht.
»Und von atemberaubender Bescheidenheit.«
»Das auch.«
»Hab schon verstanden! Nachdem du denkst, mein Genie sei dem deinen überlegen, möchtest du, dass ich mit euch arbeite!«
»Ganz genau, du bist brillant, du bist aufgeschlossen und träumst wie wir davon, die Welt zu verändern.«
»Nehmen wir einmal an, du hättest recht … Bevor ich dir antworte, möchte ich mit euch beiden darüber sprechen können, wie eure Arbeit ausgewertet wird, solltet ihr etwas Konkretes erreichen. Ich habe die starke Vermutung, dass du da etwas im Hinterkopf hast. Und sag mir zuerst einmal, warum du unbedingt noch vor Luke mit mir darüber sprechen wolltest.«
»Weil er eine Bedingung für deine eventuelle Mitarbeit gestellt hat.«
»Und zwar?«
»Dass zwischen uns beiden nichts läuft.«
Und während die Möglichkeit einer Liebesgeschichte zwischen beiden endgültig in weite Ferne rückte, fühlte sich Hope einerseits enttäuscht, andererseits geschmeichelt, dass die beiden sie ausgewählt hatten – aber auch verärgert.
»Ich weiß gar nicht, wo das Problem liegen soll, da zwischen uns nichts läuft und auch niemals etwas laufen wird. Und was mischt er sich da überhaupt ein?«
Josh ging einen Schritt auf sie zu und schloss sie in die Arme.
Hope hatte nie als Erste geküsst, und im Allgemeinen waren die ersten Küsse ein Fiasko gewesen, fade oder fordernde Lippen, aber der Kuss, den sie mit Josh tauschte, war … sie suchte nach dem treffenden Wort, um diesen Schauer zu beschreiben, der sie durchfuhr, der ihr über den Rücken rieselte, um sich im Nacken in tausend Funken zu entladen … sein Kuss war zart und behutsam. Und diese Behutsamkeit war es, die sie zur glücklichsten Frau der Welt machte, eine Eigenschaft, die sie mehr als alle anderen schätzte, da sie von einem perfekten Gleichgewicht zwischen Herz und Geist zeugte.
Josh sah sie an. Sie betete innerlich, dass er nichts sagen, dass kein Wort den Rausch dieses ersten Mals verderben würde. Er kniff die Augen zusammen, was ihn noch unwiderstehlicher machte, und streichelte ihre Wange.
»Du bist wirklich schön, Hope, umwerfend hübsch. Und die Einzige, die es nicht merkt.«
Hope sagte sich, dass sie bei so viel Komplimenten am Ende aufwachen würde, es wäre Sonntagmorgen, draußen würde es in Strömen gießen, und sie fände sich allein in einem alten zerknitterten Pyjama in ihrem Bett wieder, mit einem fürchterlichen Kater oder einer dieser Migränen, die ihr das Leben schwer machten.
»Kneif mich!«, sagte sie.
»Wie bitte?«
»Bitte, denn wenn ich mich selbst kneife, tue ich mir weh.«
Sie umarmten und küssten sich weiter, hielten von Zeit zu Zeit inne, um sich in der Stille der ersten Emotionen zu betrachten.
Josh nahm Hope bei der Hand und führte sie zum Hafen zurück.
Sie traten in eine Pizzeria. Die Einrichtung war ihnen zu trist, und so beschlossen sie, ihre Pizza auf dem Mäuerchen entlang der Mole zu verzehren.
Nach diesem improvisierten Abendessen spazierten sie durch die Straßen der Altstadt. Josh hatte seinen Arm um Hopes Taille gelegt, als über ihnen knisternd das Neonleuchtschild eines Bed and Breakfast aufflammte. Hope hob die Augen und legte ihren Zeigefinger auf Joshs Lippen.
»Lass dir ja nicht einfallen, dich im Morgengrauen davonzustehlen und mich ganz allein in Salem zurückzulassen.«
»Wenn wir nicht in einigen Wochen Prüfungen hätten und wenn ich nicht Gefahr laufen würde, dass Luke mich umbringt, weil ich ihm seinen Wagen nicht zurückgebracht habe, dann hätte ich dir jetzt vorgeschlagen, so lange hierzubleiben, bis du mich nicht mehr erträgst.«
Hope betrat das Hotel und entschied sich für das günstigste Zimmer. Als sie die Treppe zum obersten Stockwerk hinaufstiegen, spürten beide, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte.
Das Mansardenzimmer hatte durchaus Charme. Die Wände waren mit einem altmodischen Muster ähnlich der Toile-de-Jouy tapeziert, ein Dachfenster ging auf den Hafen hinaus. Hope öffnete es und wollte sich rauslehnen, um die frische Meeresbrise einzuatmen, doch Josh hielt sie zurück und begann sie auszukleiden. Seine Gesten waren unbeholfen, was Hope als beruhigend empfand.
Sie streifte ihren Pullover über den Kopf, entblößte dabei ihre Brüste und gab Josh zu verstehen, er solle sein Hemd ausziehen. Ihre Jeans landeten auf dem Stuhl, während sie sich aufs Bett fallen ließen.
»Warte«, sagte sie und nahm sein Gesicht in beide Hände.
Aber Josh wartete nicht, und ihre Körper vereinten sich auf den zerwühlten Laken.
Einem Einbrecher gleich drang das Tageslicht in das Dachzimmer. Hope zog sich die Bettdecke übers Gesicht und drehte sich zu Josh um. Er schlief, einen Arm um ihren Körper geschlungen. Als er die Augen öffnete, dachte er, die Frau an seiner Seite gehöre zu denen, die man nicht kommen sieht, bei denen man sich ständig fragt, was sie denken und ob man gut genug ist für sie. Und die einen hoffen lassen, jemand Besseres zu werden.
»Ist es spät?«, brummte er.
»Ich würde sagen acht Uhr, aber es könnte auch schon Mittag sein, und ich habe keine Lust, auf meinem Smartphone nachzusehen.«
»Ich auch nicht. Meine Mailbox quillt sicher über von Lukes Gemecker.«
»Sagen wir einfach: Es ist so spät oder früh, wie es ist.«
»Wir müssten uns eigentlich auf die Prüfungen vorbereiten. Ich habe einen sehr schlechten Einfluss auf dich.«
»Eingebildeter Fatzke! Ich könnte die Person sein, die den schlechten Einfluss auf dich ausübt!«
»Dein Gesicht sieht anders aus.«
Hope drehte sich um und setzte sich auf ihn.
»Wie anders?«
»Ich weiß nicht … strahlend.«
»Mein Gesicht strahlt nicht, es wird nur von diesem verdammten Sonnenlicht geblendet. Wenn du ein Gentleman wärst, würdest du den Vorhang zuziehen.«
»Das wäre schade – dieses Licht steht dir gut.«
»Okay, ich fühle mich gut. Aber glaub ja nicht, es hätte damit zu tun, dass du ein so toller Liebhaber bist. Jeder, der sich hingeben möchte, kann eine heiße Liebesnacht erleben.«
»Wenn ich also kein toller Liebhaber bin, was lässt dich dann so … strahlen?«
»Jemand, der einen im Schlaf in den Armen hält, der einen anlächelt, wenn er die Augen öffnet, das ist wie ein Funken Liebe, der einen glücklich machen kann. Und gerat nicht in Panik, weil ich dieses Wort ausgesprochen habe, das habe ich nur so dahingesagt.«
»Ich habe keine Angst. Und du, hast du den Mut, auf diese Frage zu antworten: Glaubst du, du könntest eines Tages einen Mann lieben, der alle meine Fehler hat?«
Hope sah im Spiegel über dem Bett den Stuhl, auf dem ihre verknäulten Jeans lagen.
»Wie könnte ich einen Mann nicht lieben, der einen Hummer gerettet hat?«
»Ich bin also kein toller Liebhaber!«
»Vielleicht doch, aber ich sage es dir nicht jetzt gleich, ich möchte nicht mit ansehen müssen, dass du dir etwas darauf einbildest. Du hast zu viele Mädchen erobert, die nur mit dem Hintern wackeln können.«
Josh warf ihr einen finsteren Blick zu und vergrub den Kopf tief in seinem Kissen.
»War das etwa ernst gemeint?«, fragte Hope und hob mit dem Finger sein Kinn an. »Du willst mich doch nicht glauben machen, du hättest dich heute Nacht in mich verliebt?«
»Ein so intelligenter Mensch wie du kann nicht derart unbeholfen sein, das ist erschütternd.«
»Spiel nicht mit solchen Dingen, Josh. Ich habe nur ein Herz und will nicht, dass es verletzt wird.«
»Glaubst du, ich würde von Liebe sprechen, wenn ich es nicht ernst meinen würde?«
»Keine Ahnung.«
»Gut, vergiss es. Ich hätte besser den Mund halten sollen. Am besten wir ziehen uns an, es ist Zeit zu gehen«, sagte er und stand auf.
Hope packte ihn am Arm und zog ihn wieder aufs Bett.
»Was wirst du Luke sagen, wenn wir zurück sind? Die Wahrheit oder dass du eine Panne mit seinem Wagen hattest?«
»Ich glaube, du hast Angst vor dem Glück, Hope. Vielleicht fürchtest du, wenn du es kostest, könnte es dir zwischen den Fingern zerrinnen. Aber das Glück verlangt, dass man Risiken eingeht. Wenn du dir eine Freude machen willst, fällt dir nichts anderes ein, als ins Labor zu gehen oder deine Bücher in der Bibliothek durchzuackern. Wie kannst du mit einer solchen Wut im Bauch die Welt verändern wollen und dich gleichzeitig mit der Monotonie deines Lebens begnügen? Aber wenn du nicht zu allem bereit bist, um die Mauern deines Alltags zu versetzen, dann willst du ja vielleicht gar nicht glücklich sein.«
»Du bist unwiderstehlich sexy, wenn du dich aufregst, Josh. Und es ist nichts Sexistisches daran, einem Mann zu sagen, dass er sexy ist, wenn es stimmt.«
Hope presste ihre Lippen auf seine und küsste ihn leidenschaftlich, bevor sie ihn liebte. Sie schlang ihre Beine um seine Hüften, klammerte sich an seine Schultern, während er sich zwischen ihren Schenkeln hin und her bewegte. Sie kamen beide gleichzeitig zum Höhepunkt und ließen sich auf die Kopfkissen sinken. Hope wartete, bis sich sein Atem beruhigt hatte.
»Deine lange Tirade über das Glück war von bemitleidenswerter Naivität, vollgestopft mit idiotischen Vorurteilen über das, was ich aus meinem Leben mache, doch es ist die schönste Liebeserklärung, die ich jemals gehört habe.«
Damit sprang sie aus dem Bett, schnappte sich ihr T-Shirt, das am Boden lag, um ihre noch schweißfeuchten Brüste zu bedecken, griff nach ihrer Jeans, um ihr Geschlecht zu verbergen, und eilte ins Badezimmer, in dem sie sich einschloss.
»Ich rate dir, eine Zeitung zu kaufen, weil ich ein Bad nehmen werde, das eine Ewigkeit dauern wird«, rief sie durch die Tür.
Sie ließen ihre Verpflichtungen Verpflichtungen sein, ignorierten die Anrufe von Luke, vergaßen sogar die Tatsache, dass sie ihr Geld eigentlich brauchten, um bis zum Monatsende durchzuhalten. Sie standen spät auf, leisteten sich ein richtiges Mittagessen, dann schenkten sie sich gegenseitig ein T-Shirt mit dem Namen der Stadt über der Abbildung einer Hexe, die an einem Baumast hing, kauften eine Tasse von ebenso schlechtem Geschmack für Luke und zwei Waffeln, bevor sie den Rückweg antraten.
Der Verkehr war dicht, als sie die Stadtgrenze erreichten.
»Erzählst du mir ein bisschen mehr über das, was ihr beide, Luke und du, so treibt?«, fragte Hope.
»Vor etwa einem Monat ist es einem Team von Wissenschaftlern gelungen, auf einem Computer einen Teil des Gehirns einer Ratte zu rekonstruieren. Eine künstliche Intelligenz wird sich mit der dieses kleinen Säugetiers vereinen, um dessen kognitive Fähigkeiten, sein Gedächtnis, seine Lern- und Entscheidungsfähigkeit, seine Anpassungsfähigkeit auf sich zu übertragen …«
»Genial, und das ergibt was? Einen Mac, der Schweizer Käse frisst?«
Josh ließ sich nicht aus dem Konzept bringen und fuhr fort: »Das eröffnet ein großes Feld von Möglichkeiten.«
»Und was ist eure Rolle in dem Ganzen?«
»Wir denken über den nächsten Schritt nach.«
»Das menschliche Gehirn künstlich zu rekonstruieren?«, spöttelte Hope.
»Das wird noch ein Weilchen dauern, aber daran basteln wir, oder etwas bescheidener ausgedrückt, daran arbeiten wir mit.«
»Aber wer, außer euch beiden, könnte so gestört sein, sein Gedächtnis auf eine Maschine übertragen zu wollen?«
»Alle, die von einer Form der Unsterblichkeit träumen … Stell dir vor, Einsteins gedankliches Universum wäre nicht mit ihm gestorben.«
»Wir verdanken ihm die Atombombe, und da möchtest du, dass eine künstliche Intelligenz über sein kreatives Genie verfügt?«
»Er hat vor allem die Relativitätstheorie entwickelt.«
»Okay, aber von welcher der beiden Seiten seines Gehirns wird deine künstliche Intelligenz Gebrauch machen?«
»Das ist nicht das Thema! Der Mensch ist mit seinem eigenen Ende konfrontiert. Die meisten Religionen streben nach der Reinkarnation oder stellen sich vor, dass Sterben bedeutet, den Geist vom Körper zu befreien. Die Menschheit hat sich im Rahmen dieses fortwährenden Kampfs mit dem Nichts entwickelt und als einzigen Ausweg dafür das ehrende Andenken der Verstorbenen und deren Leben gefunden. Wie sollen wir die Ungewissheit des Lebens akzeptieren können, wenn wir mit dem Tod vollkommen ausgelöscht werden? Die Technologie könnte dem Menschen eines Tages die Möglichkeit bieten, dass die Erinnerung an sein Leben nicht mehr einzig durch seine Nachkommen, sondern durch ihn selbst übermittelt wird.«
»Moment … Euer Projekt besteht darin, eine Methode zu entwickeln, dass jeder von uns sein Leben auf einer Festplatte abspeichert?«
»Nein, aber das tun ja viele Menschen in gewisser Weise bereits, indem sie ihr Leben in sozialen Netzwerken öffentlich machen. Ich spreche davon, ein Abbild aller Gehirnverbindungen zu erstellen, so wie andere sich mal vorgestellt haben, die gesamte DNA-Sequenzierung zu erstellen, was damals unmöglich schien. Wenn wir endlich begreifen, wie diese Verbindungen agieren, dann, ja dann werden wir unser Gedächtnis übertragen können, allerdings nicht auf einen digitalen Datenträger, was nur einer Abspeicherung des momentanen Standes gleichkäme, sondern auf ein künstliches Neuronennetz, um einen echten Klon unseres Gehirns zu erhalten.«
»Und um weiter in deinem Netzwerk zu existieren, ohne Körper, das heißt ohne Lust, ohne Nahrung, ohne Sex? Ihr seid total verrückt!«
»Bevor du urteilst«, brauste Josh auf, »solltest du versuchen, über den von der Wissenschaft oder unserer Ignoranz vorgegebenen Rahmen hinaus zu denken. Ich bitte dich, gönn dir die geistige Freiheit oder Naivität, wie du es nennst, eines Jules Verne, der Von der Erde zum Mond geschrieben hat, oder die eines George Orwell, der 1984 veröffentlicht hat. Erlaub dir die Offenheit jener harmlosen Spinner, die vorausgesagt haben, dass wir eines Tages in den Weltraum reisen würden, oder derer, die unter dem Hohn und Spott der Wissenschaftsgemeinde die Möglichkeit in den Raum gestellt haben, dass neben unserem Universum noch andere existieren, oder dass man ein Herz, die Lunge, die Nieren transplantieren oder den Fötus im Bauch der Mutter operieren kann, um angeborene Fehlbildungen zu korrigieren. Wer hätte im letzten Jahrhundert geglaubt, dass wir in der Lage sein würden, aus Stammzellen Organe züchten zu können? Warum sollte man sich dann also nicht vorstellen, dass wir in der Zukunft einen Geist, der dazu verdammt ist, in einem alternden oder kranken Körper zu leben, auf einen anderen Organismus übertragen könnten, und sei es nur für die Zeit, bis der ursprüngliche wiederhergestellt wurde?«
»Ich wusste gar nicht, dass du von einem solchen Eifer beseelt bist. Das ist einerseits berührend, aber was du da sagst, scheint mir erschreckend.«
»Du findest nichts Schockierendes daran, dass die Wissenschaft uns ermöglicht, mit künstlichen Gliedmaßen oder Organen zu leben – warum dann nicht auch mit einem Gehirn, wenn es eine originalgetreue Kopie ist?«
»Weil wir, soweit ich weiß, nicht mit unseren Armen oder unseren Beinen denken.«
»Unserem Körper ist das, was wir sind oder was unsere Persönlichkeit ausmacht, nicht fremd. Aber, ich wiederhole, darum geht es hier auch gar nicht. Ich versuche lediglich, dir zu erklären, dass ich nicht der Einzige bin, der sich vorstellen kann, dass in diesem oder dem nächsten Jahrhundert der Mensch endlich das Alter und den Tod besiegen wird.«
»Und wenn unser Tod die Voraussetzung für die Entwicklung der Menschheit, für ihr Überleben wäre?«
»Erzähl das den Eltern eines Kindes, das unheilbar krank ist. Und wenn ich dich richtig verstanden habe, hätten wir auf Antibiotika, Chemie, die Fortschritte in der Chirurgie und Neurologie, auf die Forschung im Allgemeinen verzichten müssen, ebenso wie auf all die Bemühungen, unsere Lebenserwartung zu verlängern … Weil wir ein Alter festlegen müssen, in dem wir sterben, um den nachfolgenden Generationen Platz zu machen?«
Die letzten Spuren des Tageslichts schlichen sich zwischen die Wolkenkratzer. Sie fuhren in die Stadt, als würden sie von einer großen Reise zurückkehren, dabei waren sie gar nicht so lange weg gewesen.
»Ich hätte niemals gedacht, so etwas zu verspüren«, gestand Josh und stellte den Wagen ab.
Hope wartete, neugierig zu erfahren, worauf er hinauswollte.
»Du wirst in deinem Zimmer schlafen und ich in meinem. Und ich werde nicht aufhören, unseren Abend in Salem Revue passieren zu lassen. Ich weiß mich in solchen Dingen nicht besonders geschickt auszudrücken, doch mir missfällt der Gedanke, dass wir diese Nacht nicht zusammen verbringen.«
Hope antwortete ihm nicht, ihre Gedanken waren anderswo. Auch wenn ihr Liebesausflug all ihre Hoffnungen erfüllt hatte, so hatte ihr Gespräch auf der Rückfahrt doch eine merkwürdige melancholische Stimmung bei ihr ausgelöst. Sie, die sich gerne als »aufgeschlossen« sah, konnte die Idee nicht vorbehaltlos akzeptieren, dass der Mann, in den sie sich verliebt hatte, an Forschungen arbeitete, deren Zielsetzung ihr undurchsichtig erschien.
»Und du hast mich einen Verführer genannt … Ich hätte besser den Mund gehalten«, knurrte Josh.
»Ich könnte zu dir kommen, vorausgesetzt du wirst deinen Mitbewohner los. Was willst du ihm übrigens sagen?«
»Was sollte ich deiner Meinung nach vor ihm verbergen?«
»Ich glaubte, verstanden zu haben, dass er es nicht gerne sieht, sollte etwas zwischen uns laufen.«
»Und ich glaubte, verstanden zu haben, dass unsere Arbeit dich nicht gerade begeistert. Also sehe ich nicht, was ihn unsere Beziehung angeht.«
Hope küsste Josh auf die Wange und ging.
Er sah ihr hinterher. Als sie im Haus verschwunden war, schlug er wütend auf das Lenkrad und fuhr los.