Am Morgen des 25. Dezember führte ein eher unbedeutender Zwischenfall Josh zu einer Überlegung, die entscheidend für seine Zukunft sein sollte.
Schon seit einer Stunde mühte sich die Gruppe ab, Lukes Auto freizuschaufeln, das unter einer hohen Schneedecke lag. Die ganze Nacht über waren dicke Flocken gefallen, und der Schneepflug hatte das, was er von der Straße schob, einfach auf den Bürgersteig bugsiert, was die Lage nicht eben verbesserte.
Josh und Luke schippten ohne Unterlass, während Hope und ihre beiden Freundinnen mit allem, was sie gerade zur Hand hatten, den Schnee um die Reifen herum entfernten.
Josh rutschte auf einer Eisplatte aus und fiel vornüber. Während Luke in schallendes Gelächter ausbrach, wischte er sich das Gesicht mit dem Handschuh ab. Der Geruch nach Schnee, Hopes Lachen und Lukes Stimme, der ihn bat, sich wieder an die Arbeit zu machen, riefen plötzlich tief in seinem Gedächtnis verankerte Erinnerungen wach.
In jenem Winter – er war elf Jahre alt – hatte sein Vater ihn mit nach Connecticut genommen. Sie verbrachten dort den ersten gemeinsamen Urlaub, seit seine Mutter zum Einkaufen gegangen und nie wieder zurückgekommen war …
Sein Vater hatte ein einfaches, aber bequemes Häuschen in der Nähe der Mündung des Saugatuck River gemietet.
»Gray Creek«, murmelte Josh. »Es war in Gray Creek, am Ende der Quentin Road.«
Und die Bilder zogen weiter vor seinem inneren Auge vorbei.
Er sah das Fliegengitter vor der Eingangstür, das einzige Zimmer im Erdgeschoss mit der Kochecke und den beiden abgewetzten Ledersesseln, die vor dem Fernseher standen. Im ersten Stock gab es zwei kleine Schlafzimmer und ein Bad. In dem Haus roch es nach altem Holz und Wachs. Am Dachgesims lief eine elektrische Lichterkette entlang. Josh mochte ihren schwachen Schein, der Dunkelheit und Einsamkeit ein wenig aus seinem Zimmer vertrieb.
Abends ging er zusammen mit seinem Vater zu einem Gemischtwarenladen, wo die Inhaberin Elvira in einem großen Ofen Pizza backte. Josh sah zu, wie der Teig vor seinen Augen eine goldgelbe Färbung annahm.
Eines Morgens sollte er seinem Vater helfen, das Auto von dem Schnee freizuschaufeln, der in der Nacht gefallen war.
Was wie ein Spiel begonnen hatte, wurde zu einem Albtraum. Sein Vater machte sich über ihn lustig, weil er nicht kräftig genug schippte, und je mehr er lachte, desto mehr fühlte sich Josh herabgewürdigt und gedemütigt. Als sein Vater ihm die Schaufel entriss, um zu zeigen, wie er es machen sollte, stürzte er und verletzte sich dabei.
»Da siehst du, warum deine Mutter mich nicht liebt, ich mache alles verkehrt.« Dann hatte sich sein Vater entschuldigt, dass er mit ihm geschimpft hatte.
An diesem Morgen hatte Josh begriffen, dass seine Mutter nie mehr zurückkommen würde.
»Wie konnte ich das nur vergessen?«, fragte er sich.
Und er dachte daran, wie das Zusammenspiel der einzelnen Elemente diese Erinnerung wieder hatte wach werden lassen. Sein Sturz, der Geruch nach Schnee, Lukes Sticheleien – drei Elemente, die, richtig angeordnet, wie eine Zahlenkombination den Safe geöffnet hatten.
Hope hatte nicht unrecht mit ihrer Behauptung, die kleinen Dinge des Lebens seien ganz und gar nicht klein.
Sogleich musste er an die Experimente denken, die er seit mehreren Monaten durchführte. Alles, was er bis zu diesem Tag auf dem Server von Longview hatte speichern können, betraf die unmittelbare Erinnerung. Manchmal war es vorgekommen, dass Luke ihm während der Aufnahmesitzungen bestimmte Ereignisse aus ihrer Kindheit ins Gedächtnis gerufen hatte, doch sie hatten noch nie die Idee gehabt weiterzugehen.
Und um weiterzugehen, mussten sie Schichten erreichen, die im Unterbewusstsein verborgen waren. Doch wie konnte man das stimulieren?
»Alles in Ordnung, Josh? – Josh?«
Hopes Stimme drang wie aus weiter Ferne zu ihm. Er atmete tief durch und lächelte sie an.
»Ja, alles in Ordnung.«
»Hast du dir wehgetan?«, fragte Luke und half ihm auf.
Josh nutzte die Hilfestellung, um ihm zuzuraunen, er solle abends ins Zentrum kommen.
Unter zig Vorsichtsmaßnahmen, um die schlafende Hope nicht zu wecken, verließ Josh am späten Nachmittag das Loft. Er ließ auf der Kiste im Wohnzimmer eine Nachricht zurück und schlich auf Zehenspitzen hinaus.
Er schwang sich auf sein Fahrrad, hatte aber alle erdenkliche Mühe, das Ende der Straße zu erreichen. Der Asphalt war von einer Eisschicht überzogen, und die Reifen schlingerten gefährlich, wenn er in die Pedale trat. Als er an der Kreuzung abbog, legte er unter den Blicken eines verblüfften Passanten, der seinen Hund Gassi führte, eine phänomenale Rutschpartie hin. Drei Straßen weiter fühlte er sich etwas sicherer. Die beißende Kälte ließ seine Wangen schmerzen, doch nichts auf der Welt hätte ihn aufhalten können. Von einem Gefühl der Freiheit erfasst, wechselte er den Gang und legte an Tempo zu.
Er erreichte den Busbahnhof gerade rechtzeitig, kettete sein Rad an einen Laternenpfahl und sprang in den Bus. Luke hatte sich bereit erklärt, ihn an der zehn Minuten vom Zentrum entfernten Haltestelle abzuholen.
Er erwartete ihn in seinem Camaro.
»Müssen wir an Weihnachten wirklich arbeiten?«
»Hast du schon mal davon geträumt, einen Einbruch zu begehen?«
»Soweit ich mich erinnere, nicht«, antwortete Luke.
»Ich schon. Als Kind habe ich jedes Mal daran gedacht, wenn ich hörte, wie mein Vater beim Öffnen der Rechnungen schimpfte, er würde nicht bis zum Monatsende auskommen.«
»Du hast doch …«
»Nein, ich habe es nie umgesetzt, sonst hätte ich heute nicht so viel Geldprobleme.«
»Warum genau wolltest du mich treffen?«
»Verstehst du, ich dachte nicht an einen bewaffneten Einbruch, Gewalt war nie mein Ding. Was mir gefällt, wäre ein Raubüberfall nach alter Manier, wie in den Gangsterfilmen, die sich mein Vater immer im Fernsehen angesehen hat. Die, in denen die Einbrecher durch die Kanalisation oder die Lüftungsschächte zu den im Keller der Bank untergebrachten Safe gelangten, dorthin, wo der wahre Schatz verborgen war, der das Leben der Diebe für immer verändern könnte.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Seit Monaten begehen wir nur Gaunereien im kleinen Stil. Ich glaube, ich habe einen Plan für den Coup des Jahrhunderts gefunden.«
»Hast du was geraucht?«
»Seit ich mit Hope zusammen bin, habe ich keinen Joint mehr angerührt! Das heißt doch, einmal, aber da haben wir zusammen geraucht, damit sie es ausprobieren kann. Sie hatte den Kopf die ganze Nacht lang über der Kloschüssel, und ich habe ihn gehalten … Seither nichts mehr. Aber wir sind nicht hier, um darüber zu reden.«
»Da bin ich aber beruhigt.«
»Auf die Erinnerungen, die sich im Tiefengedächtnis befinden, hat man nicht immer Zugriff. Ein bisschen so, als würde dir der Kassierer der Bank mit betrübter Miene erklären, der Safe sei derart programmiert, dass man ihn nur zu einer bestimmten Zeit öffnen könne.«
»Könntest du deine Kassierer, Banken und Gauner mal außen vor lassen und zu dem kommen, was uns betrifft?«
»Okay, aber du wirst sehen, dass uns der Kassierer gleich nützlich sein wird. Unsere entfernten Erinnerungen an die Oberfläche zu bringen verlangt eine gewisse Anstrengung, und über je mehr kontextuelle Hinweise wir verfügen, umso leichter wird die Sache. Das Gehirn funktioniert durch drei Prozesse: Encodierung, Speicherung und Abrufung. Die Encodierung wird durch die Konzentration beeinflusst. Aber wozu soll es gut sein, eine Information zu speichern, wenn man ihre Existenz vergisst? Unser Gehirn verwendet zahlreiche Strategien, um eine Erinnerung dauerhaft zu machen, oder besser gesagt, um eine Spur der gespeicherten Dinge zu behalten. Du zum Beispiel kannst dich nie an die Vornamen der Leute erinnern, die du triffst. – Wie hieß deine letzte Freundin?«
»Tolle Frage, meinst du denn, ich hätte Talya schon vergessen?«
»Tyla, nicht Talya, du Trottel, vor allem, wenn man bedenkt, dass sie dich erst vor wenigen Wochen verlassen hat!«
»Das war nur ein Versprecher. Und, zu deiner Information: Wir haben uns in gegenseitigem Einvernehmen getrennt.«
»Gegenseitiges Einvernehmen, dass ich nicht lache! Aber darum geht es auch gar nicht. Wirst du dich in zwanzig Jahren noch an ihren Vornamen erinnern?«
»Keine Ahnung, Josh, und so langsam nervst du mich, was willst du denn von Tyla?«
»Was ihren IQ angeht, so hatte ich immer Zweifel. Sie war nicht die personifizierte Intelligenz, aber man muss zugeben, dass sie einen umwerfenden Busen hatte. Hope und ich haben sie Betty genannt.«
»Warum Betty?«
»Na, wegen Betty Boop.«
»Ich kann nicht glauben, dass ihr so tief gesunken seid.«
»Ich hätte nicht das Imperfekt verwenden sollen, denn ihr Busen ist der Welt ja nicht verloren gegangen, ich kenne da einen Basketballspieler …«
»Willst du zu Fuß weitergehen?«, brauste Luke auf und trat auf die Bremse.
»Fahr zu«, rief Josh. »Du wirst es gleich verstehen. Indem ich dich genervt habe, habe ich ein besonderes Ereignis geschaffen und so eine Reihe von Encodierungen in deinem Gehirn gespeichert, die ab jetzt mit Tyla verbunden sind. Ich habe ihren Vornamen mit ihrer Brust assoziiert und mit dem glücklichen Sportler, der jetzt ihr Liebhaber ist, und mich über sie lustig gemacht. Wenn du also eines Tages ein Basketballspiel oder im Fernsehen einen Zeichentrickfilm mit Betty Boop siehst, oder aber, wenn man sich über die Formen einer Frau lustig macht, für die du Gefühle hegst, wirst du an unser Gespräch denken, und ich bin sicher, du erinnerst dich dann daran, dass sie Tyla hieß.«
»Deine Überlegung ist erschütternd.«
»Warte, die Schlussfolgerung steht noch aus. Die kontextuellen Elemente sind auch Informationsquellen, die die Möglichkeit bieten, sich ein Ereignis dauerhaft zu merken. Sie sind eine Art Zugangscode oder Schlüssel, die uns später helfen, die Türen zu öffnen. Ohne diese Hinweise können wir uns an nichts dauerhaft erinnern. Wir müssen eine externe Sichtweise einnehmen, uns eine Geschichte erzählen. Und von Geschichte zu Geschichte bildet unser Gedächtnis unsere Identität aus.«
»Worauf willst du hinaus, verdammt?«
»Selbst wenn dem Hypocampus in unserem Gehirn gewissermaßen die Rolle des Archivars zukommt«, fuhr Josh ungerührt fort, »speichert nicht er die Informationen. Denn es gibt nicht nur einen einzigen Speicherplatz. Die verschiedenen Gedächtnisarten situieren sich überall und zirkulieren in Form von Millionen elektrischer Impulse. Damit uns eine Erinnerung wieder einfällt, müssen diese Impulse zu einem gegebenen Zeitpunkt eine präzise Kombination reproduzieren. Der Hypocampus ist dabei immer nur der Weichensteller. Seit Wochen verbringen wir unsere Nächte damit, im Zentrum Erinnerungsfragmente aufzuzeichnen, aber wir haben uns geirrt.«
»Entweder stehst du unter dem Einfluss harter Drogen, was einiges erklären würde, oder ich bin neben der Spur.«
»Weder noch, ich habe – wie immer – nur bewiesen, dass meine Intelligenz brillanter ist als deine.«
»Und die damit verbundene Bescheidenheit.«
»Siehst du, genau das, was ich gemeint habe. Du erinnerst mich an einen Vorfall mit Hope, ohne dass wir von ihr gesprochen hätten.«
»So, jetzt sag mir endlich, was wir im Zentrum wollen!«
»Wir werden den Weichensteller aufscheuchen, mein Lieber. Ihn mit Simulationen bombardieren, die ihn dazu zwingen, alle Codes freizugeben, über die er verfügt.«
»Du willst das Gehirn verwirren?«
»Ja, genauso wie dich beim Gedanken an Tylas Busen – vielleicht auch ein bisschen mehr«, meinte Josh und lachte.
Luke blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Sie gingen in ihren Arbeitsraum, und Josh erklärte ihm, was er vorhatte.
Der erste Teil seines Plans bestand darin, einen Helm zu konzipieren, der sich von dem unterschied, den sie zur Aufnahme der Nervenimpulse entwickelt hatten. Das neue Modell sollte nicht mehr nur mit Elektroden ausgestattet sein, sondern aus neuronalem Gewebe bestehen.
»Wir werden unsere Neuronen nicht mehr auf Siliziumchips vermehren, sondern in einer leitfähigen Flüssigkeit. Wir werden außen das reproduzieren, was innerhalb des Schädels passiert. Zunächst«, erklärte Josh, von seinem Thema fasziniert, »werden wir bei unseren Ratten Rückenmarksflüssigkeit punktieren und diese dann zwischen feine Membranen spritzen.«
»Welche Art Membranen?«, wollte Luke wissen, der langsam begriff, was Josh vorhatte.
»Hirnhaut! Wir legen Kulturen von Hirnhautzellen an und lassen sie sich entwickeln, bis sie sich verdichten. Dann setzen wir unsere Neuronen darauf und warten, dass sie ein Netzwerk bilden. Wenn das Netzwerk dicht genug ist, haben wir eine perfekte Schnittstelle zwischen Computer und Gehirn. Eine Punkt-zu-Punkt-Verbindung. Millionen von organischen Mikroelektroden, die die Kommunikation zwischen dem Server des Zentrums und meiner Hirnrinde übernehmen. Das ist in etwa so, als würde man vom Modem deines Großvaters zur Glasfaser wechseln.«
»Hast du eine Vorstellung, wie lange es dauern kann, eine solche Meisterleistung zu vollbringen? Falls es uns überhaupt eines Tages gelingen sollte.«
»Und hättest du dies vor zwei Jahren für möglich gehalten«, rief Josh und deutete auf die Siliziumplatten, auf denen im Licht die biologischen Chips glänzten, auf die Luke so stolz war.
»Na gut, was du da erzählst, zeigt, wie verrückt du bist, aber gehen wir allein wegen der intellektuellen Herausforderung davon aus, dass es funktioniert. Und dann?«
»Dann stellen wir den Helm so her, dass er sich exakt der Kopfform anpasst. Meiner zum Beispiel. Und sobald ich ihn trage, unterziehst du mich intensiven Stimulationssitzungen. Ich werde mir eine VR-Brille besorgen, und du wirst im Schnelldurchlauf Tausende von Bildern aus Datenbanken abspielen und parallel dazu via Kopfhörer eine Vielzahl von Tönen, alle möglichen Töne, das Geräusch des Windes, des Regens, das Knirschen von Kies unter Schritten, das Schlagen von Türen, quietschende Türangeln, knarrendes Holz, Gummi, das über Papier gleitet, und so weiter, kurz, Töne, die man im Lauf eines Lebens hört, ohne sie weiter zu beachten, doch die zu Encodierungen werden, wenn sie auf unser Gedächtnis wirken.«
»Und wo sollen wir die finden?«
»Die Geräuschemacher beim Film benutzen schon seit Jahren Tondatenbanken. Es gibt unzählige, die man im Internet findet.«
»Ist dir klar, dass du damit dein Gehirn schädigen könntest?«
»Ohne tatsächlich so weit gehen zu wollen, ist das ein bisschen mein Plan. Ich erhoffe mir, dass der Weichensteller aus dem Lot gerät, wenn man ihn in rasantem Tempo mit den Tausenden von Stimulationen konfrontiert.«
»Du willst deinen Hippocampus zum Entgleisen bringen? Du bist ja total verrückt, Josh.«
»Nicht zum Entgleisen, aber ich will ihn dazu zwingen, alle Türen gleichzeitig zu öffnen.«
»Und dann?«
»Das wäre der größte Coup des Jahrhunderts. Wir könnten endlich in die Schatzkammer des Tiefengedächtnisses vordringen und ihren gesamten Inhalt kopieren, bevor wir sterben. Du bist Bonnie und ich Clyde.«
Luke seufzte. Joshs Theorie irritierte ihn derart, dass er am liebsten nach Hause gegangen wäre. Doch dann hörte er Applaus hinter seinem Rücken und wandte sich um.
Flinch hatte soeben den Raum betreten.
»Glauben Sie nicht, dass ich Ihnen nachspioniere. Ich habe nebenan gearbeitet, Geräusche gehört und mich gefragt, woher die wohl an einem solchen Abend kommen könnten.«
»Von einem Verrückten«, erklärte Luke, »und einem zweiten Verrückten, der ihn bis zu Ende angehört hat.«
»Da bin ich nicht Ihrer Meinung, junger Mann. Was ich gerade gehört habe, übertrifft jegliche Unvernunft, aber eben um solche Verrücktheiten hervorzubringen, finanzieren wir Ihr Studium. Ihre Idee ist ebenso herausragend wie unwahrscheinlich, und darum hat sie auch alle Chancen, genial zu sein. Wie sagt man so schön: Nichts liegt näher als das Unmögliche.«
»Danke«, entgegnete Josh, der seine Befriedigung darüber, dass ihn endlich jemand verstand, nicht zu verbergen vermochte.
»Was den Helm betrifft, so haben wir hier vielleicht etwas, was Ihnen Zeit spart. Eines unserer Teams hat ein Material entwickelt, das Ihnen sehr nützlich sein könnte. Ich mache Sie so schnell wie möglich miteinander bekannt. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist schließlich das Herzstück unserer Organisation.«
»Nun zieh nicht so ein Gesicht, wir konnten schließlich nicht ahnen, dass sich Flinch dort herumtrieb.«
»Und ich glaube keine Sekunde, dass er zufällig da war«, wandte Josh ein.
»Was meinst du damit?«
»Dass wir entgegen allen Behauptungen sehr wohl ausspioniert werden.«
»Glaubst du, es gibt ein Mikro in unserem Labor?«
»Das würde mich nicht wundern.«
»Dann frag ihn doch«, entgegnete Luke, als der Camaro die Autobahn verließ.
Er setzte Josh vor seinem Haus ab und versprach, über ihr Gespräch nachzudenken. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag im Zentrum.
»Glaubst du, es war ein Fehler, Tyla zu einem anderen gehen zu lassen?«, fragte Luke, als Josh die Tür öffnete.
»Das ist nicht die Frage, die du dir stellen musst, zumindest nicht in dieser Form.«
»Welche dann?«
»Liebst du sie wirklich?«
»Ich habe mich mit ihr wohlgefühlt, und ich muss gestehen, dass mir die Einsamkeit ein wenig zu schaffen macht, seit sie weg ist.«
»Das tut mir leid, Luke.«
»Letztlich hat die viele Zeit, die ich im Zentrum verbringe, unsere Beziehung zerstört. Mit dir hat das nichts zu tun.«
»Nicht deshalb tut es mir leid. Ich denke, dass du
Tyla hast gehen lassen, weil sie nicht diejenige ist, die du liebst.«
Und ohne Luke Zeit für eine Antwort zu lassen, stieg Josh aus und betrat das Haus.
Hope saß im Schneidersitz, ein Buch auf den Knien, auf dem Boden. In ihre Lektüre vertieft, hatte sie Josh nicht hereinkommen hören, und er nutzte die Gelegenheit, um sie zu betrachten. Hätte er zeichnen können, dann hätte er sie genauso dargestellt. Hope lernte stets am Boden sitzend, einen Bleistift zwischen den Lippen wie eine Zigarette, um die linke Hand wickelte sie eine Haarsträhne.
»Ich dachte schon, du kämst gar nicht mehr nach Hause«, meinte sie, ohne den Kopf zu heben.
Josh ging hinter ihr vorbei und küsste sie, ehe er ihr gegenüber Platz nahm.
Hope warf ihm einen verschmitzten Blick zu.
»Was hast du denn diesmal gefunden?«
»Warum sagst du das?«
»Du verdrückst dich still und heimlich, während ich schlafe, und drei Stunden später höre ich Lukes Auto. Du strahlst wie ein Kind, dem man eine Woche Disneyland versprochen hat, und außerdem richtet ihr beide es immer so ein, eine Entdeckung zu machen, wenn ich nicht dabei bin. Ich glaube, in der Wissenschaft nennt man das eine Vielfalt von übereinstimmenden Komponenten. Entweder erzählst du mir jetzt etwas mehr darüber, oder du kannst gleich bei Luke schlafen!«
Josh wusste, was ihm blühte, wenn er Hope sein Projekt darlegen würde, und ihre Reaktion entsprach seinen Erwartungen. Zunächst beglückwünschte sie ihn. Seine Überlegung war in der Theorie brillant, das hob sie hervor. So brillant, dass sie nur die Frucht eines genialen Geistes sein konnte. Im Übrigen wollte sie ihm sagen, wie sehr sie eine solche Intelligenz bewunderte, kurz … einen Teil dieser Intelligenz, erklärte sie, bevor sie hinzufügte: »Weil die praktische Umsetzung einer solchen Idee nur auf einen kranken Geist hindeuten kann. Bist du verrückt geworden, Josh? Ist dir klar, welches Risiko du eingehst? Und wenn du bei dem Versuch, den Zauberlehrling zu spielen, nun dein Gehirn schädigst?«
Josh bemühte sich, sie zu beruhigen. Es würde Monate dauern, bis der Prototyp des Helms entwickelt wäre, außerdem hatte er schon an einige Sicherheitsvorkehrungen gedacht. Die Stimulationssitzungen würden sich progressiv steigern und am Anfang nur wenige Minuten, vielleicht auch nur Sekunden dauern, und natürlich lägen sie weit genug auseinander, um mögliche Nebenwirkungen überprüfen zu können. Und sollte das Kontroll-EEG die geringste Anomalie aufzeigen, würde der Versuch sofort abgebrochen.
»Das Einzige, was mich beruhigen könnte, wäre, dass es dir nicht gelingt, den verdammten Helm zu entwickeln«, schimpfte Hope und vertiefte sich wieder in ihre Lektüre.
Josh hütete sich, die Hilfe zu erwähnen, die Flinch ihnen angeboten hatte.
Als sie am nächsten Tag wieder im Zentrum waren, dachte Luke über die verschiedenen Etappen zur Entwicklung des Helms nach. Josh hatte seinerseits begonnen, nach den notwendigen Bild- und Tondatenbanken zu suchen. Er hatte schon diverses Material auf seinen Laptop heruntergeladen.
Flinch kam zu ihnen und forderte sie auf, ihm zu folgen. Er führte sie durch das Zentrum, bis zu einer Tür, die sie noch nie durchschritten hatten.
Dahinter entdeckten sie einen Flügel des Gebäudes, der größere Arbeitsräume beherbergte und über eine eindrucksvollere Ausrüstung verfügte.
»Bald ziehen Sie hierher um«, verkündete Flinch. »Betrachten Sie das als eine Beförderung. Nur jene Forscher, die an als vorrangig eingestuften Projekten arbeiten, haben Zugang zu diesem Teil des Zentrums.«
»Was verstehen Sie unter ›vorrangig‹?«, fragte Josh.
Flinch blieb stehen und wandte sich zu ihm um.
»Lesen Sie gerne?«
»Ja, wenn ich Zeit dazu habe.«
»Das ist die Schwachstelle Ihrer Generation. Sie haben keine Zeit mehr, sich mit einem guten Roman hinzusetzen, aber wenn Sie wüssten, wie oft die Literatur die Entwicklung der Wissenschaft vorwegnimmt. Manchmal frage ich mich ernsthaft, ob die Schriftsteller ihre Vorstellungskraft nicht mit mehr Elan nutzen als die Wissenschaftler – oder die Wissenschaftler nicht mehr genug lesen, um ihre Vorstellungskraft zu stimulieren. Aber so ist es nun einmal. Sehen Sie, vor knapp sechzig Jahren schrieb ein junger Mann namens Jack Kerouac ein Buch, das für eine ganze Generation zur Kultlektüre wurde, On the Road/Unterwegs. Haben Sie es gelesen?«
»Nein«, gestand Josh.
»Das sollten Sie aber. Kerouac inszenierte eine Welt, die der Geschwindigkeit und der Freiheit huldigt. Jugendliche Ihres Alters fahren durch Amerika, genießen das Dasein nach Herzenslust, und der einzige Lebenssinn ist der Wunsch zu lieben. Dieser Roman war in meiner Jugend ein regelrechtes Manifest. Ich weiß, Sie denken sicher, dass man mir meine uneingeschränkte Bewunderung für die Beatniks nicht ansieht, aber lassen Sie sich nicht von Äußerlichkeiten täuschen … Vor einigen Jahren veröffentlichte ein anderer großer Schriftsteller einen Roman mit dem Titel On the Road/Die Straße. Cormac McCarthy.«
»Ich habe die Verfilmung gesehen«, verkündete Josh, erleichtert, nicht ganz so unwissend dazustehen.
»Längst nicht so gut wie der Roman, aber auch nicht schlecht, darum geht es hier nicht. Tatsächlich ist McCarthys Straße eine postapokalyptische Autobahn, seine Helden überleben in einer von Staub bedeckten Welt, sie töten sich gegenseitig, und als einziges Fluchtmittel schiebt der Held einen kaputten Einkaufswagen. Sie fragen sich, worauf ich hinauswill? Innerhalb von fünfzig Jahren ist der Glaube an die Zukunft gestorben. Unzählige Romane und Filme verkünden uns den bevorstehenden Untergang der Welt, der Demokratien, der Menschheit. Wenn der Grund nicht der von einem Fanatiker geführte Krieg ist, dann sind es Viren oder Roboter, die uns auslöschen. Hier verfolgen wir eine andere Vision von morgen, und wir arbeiten daran, sie umzusetzen. Also betrachten Sie diesen Bereich des Zentrums als Vorzimmer der Zukunft. Einer Zukunft voller Hoffnung.«
Flinch ging weiter, und Josh und Luke wechselten einen verwunderten Blick.
Sie betraten einen Raum, in dem er ihnen ein Team von sechs Forschern vorstellte. Luke bemerkte sofort die Vertrautheit, die zwischen Flinch und den Wissenschaftlern herrschte.
Einer von ihnen legte ihnen das Projekt dar.
»Neurolink«, erklärte er, »verfolgt das Ziel, eine leistungsstarke Schnittstelle zwischen Mikroelektroden und dem Kortex zu entwickeln, um im Gehirn elektrische Tiefenmessungen vornehmen zu können. Die biochemische Zusammensetzung unserer Elektroden ermöglicht uns eine Verbindung von bislang unerreichter Präzision mit den neuronalen Signalen, wie wir dies an einem Affen aufzeigen konnten. Seit mehreren Monaten haben unsere flexiblen Elektroden, deren Leistungen all unsere Erwartungen übertreffen, eine regelrechte Schnittstelle Gehirn-Computer geschaffen. Wir nennen sie hier ICO.«
»Es ist Ihnen gelungen, einen Computerklon vom Gehirn eines Affen zu erschaffen?«, fragte Josh verblüfft.
Der Forscher sah Flinch fragend an, ehe er antwortete. Und da dieser nickte, wandte er sich an Josh.
»Genau. Unser Computer ist in der Lage, sein Gehirn zu simulieren. Der Bildschirm vor Ihnen ist sozusagen eine Art elektronischer Primat von unglaublicher Intelligenz.«
»Ich glaube, die Grundlagen für ein gutes Verständnis sind gegeben«, rief Flinch hochzufrieden aus. »In ein oder zwei Wochen können Sie bei Neurolink mitarbeiten. So lange dauert es, bis die offiziellen Zugänge eingerichtet sind.«
Das Versprechen der Zusammenarbeit wurde mit einem Händedruck besiegelt. Luke waren sofort die Vorteile klar, und er begriff als Erster, wie viel Zeit sie dadurch sparen würden. Er war sichtlich begeistert, lediglich ein Gefühl der Eifersucht trübte dies ein.
Josh hingegen dachte an Hope. Er hielt es für besser, ihr für den Moment nichts von den neuen Gegebenheiten zu erzählen. Wenn sie ins Zentrum käme, müsste er einen Weg finden, sich diskret zu verhalten. Während der Rückfahrt sprach er mit Luke darüber, und als dieser nach den Gründen fragte, teilte Josh ihm Hopes Befürchtungen hinsichtlich der Auswirkungen ihres Forschungsprojekts auf seine mentale Gesundheit mit. Luke schien das nicht weiter zu beunruhigen und versprach Verschwiegenheit.
Hope bekam einen Anruf von ihrem Vater. Er wollte wissen, ob die Kreditkarte, die er ihr anvertraut hatte, sie vom rechten Weg abgebracht hätte.
»Ich brauchte eine Brille«, antwortete sie kleinlaut.
»Und die Gläser sind in einem Bekleidungs- und einem Möbelgeschäft eingesetzt worden?«
»Ist es warm in Honolulu?«, fragte sie.
»Ich verstehe den Zusammenhang nicht.«
»Hier sind wir halb erfroren, wir brauchten Mäntel und auch Zusatzheizungen.«
»Du hättest mich fragen können, Hope.«
»Ich wollte dich nicht während deiner Liebesreise mit Amelia stören.«
»Missbrauch mein Vertrauen nicht, ist das klar?«
»Klarer geht’s nicht«, brummte Hope.
»Wir fahren Ende der Woche zurück, ich rufe dich an, wenn wir zu Hause sind. Geht es dir ansonsten gut?«
»Ja, warum?«
»Deine Stimme klingt so seltsam.«
»Ich bin nur etwas müde.«
»Na, dann ruh dich aus.«
Sam legte auf, und Hope saß eine Weile, den Hörer ans Ohr gepresst, reglos da.
Sie dachte an all das, was sie mit dem Geld ihres Vaters gekauft hatte, und hatte furchtbare Schuldgefühle. Sie hatte das Bedürfnis, das Loft zu verlassen, zu Josh zu laufen und sich in seine Arme zu schmiegen. Ihr Vater hatte sich nicht getäuscht, sie fühlte sich wirklich nicht besonders in Form. Josh fehlte ihr, und der Winter, der gerade erst begonnen hatte, setzte ihr schon jetzt zu. Was war mit ihrer Lebensfreude geschehen? Doch sie wollte sich nicht länger gehen lassen und suchte in ihren Unterlagen nach der Telefonnummer ihrer japanischen Freundin. Sie fand sie schließlich und rief sie an. Glücklicherweise war sie noch auf dem Campus und hatte ein Auto. Sie verabredeten sich, Kasuko würde sie in einer halben Stunde abholen, und sie würden gemeinsam zum Zentrum fahren.
Kasuko eilte in ihr Labor, und Hope in den Raum, wo Josh und Luke arbeiteten. Doch sie traf nur Luke an.
»Wo ist Josh?«, fragte sie.
»Ich glaube bei Flinch«, antwortete Luke verlegen.
»Es ist schon lange her, dass wir beide nicht mehr miteinander geredet haben.«
»Du hast uns in letzter Zeit oft allein gelassen, und ich denke, du mochtest Betty Boop nicht wirklich.«
»Josh hätte den Mund halten können. Dieser Spitzname war nicht böse gemeint, aber ich muss zugeben, dass …«
»Willst du etwas Bestimmtes, Hope?«
»Josh, aber er ist nicht da.«
»Sobald er zurückkommt, schicke ich ihn zu dir. Arbeitest du mit deinen neuen Freundinnen weiter, oder hast du beschlossen, ins Nest zurückzukehren?«
»Wenn ihr mich noch immer wollt … Josh fehlt mir und du auch.«
»Wir haben dich nicht vertrieben. Aber da du es anbietest, vielleicht könntest du mir einen Gefallen tun?«
»Welche Art Gefallen?«
»Ich möchte andere elektrische Messungen als die von Joshs Gehirn durchführen, um einen Vergleich zu haben. Wärest du bereit, deine Gehirnströme messen zu lassen? Das dauert höchstens zehn Minuten.«
Hope war einverstanden, das Versuchskaninchen zu spielen. Luke ließ sie in einem Sessel Platz nehmen. Er setzte ihr einen mit Elektroden bestückten Helm auf, der durch Kabel mit der Zentraleinheit des Computers verbunden war.
»Hast du das schon mal gemacht?«, fragte Luke und schloss den Riemen unter ihrem Kinn.
»Nein, es ist mein erstes EEG.«
»Du brauchst nur die Augen zu öffnen und zu schließen, wenn ich es dir sage, oder den Arm zu heben, an etwas Schönes zu denken, aber auch an etwas Unangenehmes. Nicht weiter schlimm, nur ein paar Stimulationen, während ich die elektrischen Aktivitäten deines Gehirns aufzeichne.«
»Das scheint mir im Rahmen meiner Möglichkeiten.«
Sie ließ sich auf das Spiel ein, öffnete und schloss die Lider, wenn Luke es ihr sagte, erinnerte sich an glückliche Momente mit ihrem Vater, ihre Begegnung mit Josh, ihren ersten Kuss und vertrieb die Frage, was genau Luke den Linien entnehmen könnte, die die Maschine bei der Aufzeichnung ihrer Gehirnwellen erstellte. Über die Kurven gebeugt, forderte Luke sie dreimal auf, den linken Arm zu heben.
»Aber das tue ich doch«, schimpfte Hope, als Luke schließlich eine Tonlage lauter wurde.
Er wandte sich zu ihr um und stellte fest, dass sie tatsächlich den Arm zur Decke gestreckt hielt. Er beugte sich wieder über seine Kurven und runzelte die Stirn.
»Kannst du ihn bitte noch einmal herunternehmen?«
Seufzend rollte er mit seinem Hocker zu ihr. Er rückte den Helm zurecht und zog den Gurt fester.
»He, du erstickst mich ja!«
»Tut mir leid«, meinte er und lockerte ihn ein wenig. Dann kehrte er zu seinem Apparat zurück und wiederholte den Versuch.
»Stimmt etwas nicht?«, erkundigte sich Hope, als sie Lukes verärgerte Miene bemerkte.
»Das Gerät scheint nicht richtig zu funktionieren, da stimmt was nicht. Sieht so aus, als wäre eine ganze Reihe von Elektroden ausgefallen.«
»Vielleicht hat mein Gehirn sie geschrottet«, scherzte sie.
»Mal den Teufel nicht an die Wand. Vor dem neuen Jahr bekomme ich bestimmt keinen anderen Helm, und wir würden eine Woche verlieren. So ein Mist«, schimpfte Luke.
»Wenn du damit sagen willst, dass Josh dann jeden Abend frei hat, dann soll der verflixte Helm gesegnet sein!«, erklärte sie und nahm ihn ab.
Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar, erhob sich und umarmte Luke.
»Kann ich gehen?«, fragte sie dann und lachte.
»Ja«, knurrte Luke, »und trotzdem danke.«
»Komm morgen Abend zu uns zum Essen, ich mache karamellisierte Schweinerippchen, damit du mir verzeihst.«
»Was denn?«
»Dass meine außergewöhnliche Intelligenz das Gerät sabotiert hat.«
»Morgen ist unser Scanner-Abend, ich hoffe, der hat nicht auch eine Panne.«
»Soll ich vorbeikommen? Gib mir eine Chance, den auch kaputt zu machen, denn nichts täte ich lieber.«
»Bis morgen, Hope«, antwortete Luke trocken.
Eine Viertelstunde später betrat Josh das Labor. Luke plagte sich damit ab, die Elektroden zu überprüfen, doch sie waren alle korrekt mit dem Helm verschweißt.
»Ist Hope nicht da?«, erkundigte sich Josh.
»Doch, aber sie hat sich im Kühlschrank versteckt.«
Josh sah ihn verblüfft an.
»Du siehst doch, dass sie nicht da ist. Du findest sie wahrscheinlich bei ihren beiden Freundinnen.«
»Ich glaube, an dem Tag, an dem ich dich mal gut gelaunt erlebe, muss ich mir Sorgen machen. Was ist denn nun wieder los?«
»Nichts, ich würde nur gerne mit zuverlässigem Material arbeiten. Hock dich auf den Stuhl, ich muss etwas testen.«
Luke setzte Josh den Helm auf und unterzog ihn derselben Untersuchung wie Hope. Die kleinen Sonden, die vorhin nicht funktioniert hatten, leuchteten jetzt normal auf, wenn Josh den Arm hob. Luke betrachtete aufmerksam die Kurve und überlegte, woher die Panne rühren könnte. Da jetzt alles normal zu sein schien, setzte er den Versuch fort.
Die Stunden vergingen. Josh war müde.
»Es reicht für heute«, erklärte er und nahm den Helm ab. »Ich hole Hope … Bringst du uns nach Hause?«
Luke speicherte die Aufzeichnungen und schaltete den Monitor aus.
»Ich warte auf dem Parkplatz auf euch, aber trödelt nicht.«
»Ich tue mein Bestes«, meinte Josh, der schon auf der Schwelle stand.
»Josh, ich möchte dich um etwas bitten. Richte es so ein, dass Hope dich morgen begleitet.«
»Wenn du willst, aber warum?«
»Weil sie vorhin hier war, und während sie auf dich gewartet hat, habe ich ein paar Aufzeichnungen mit ihr gemacht, die möchte ich mit denen des Scanners vergleichen.«
»Du hättest mit mir darüber sprechen können.«
»Habe ich doch gerade, oder? Übrigens habe ich eine sehr schöne Aufzeichnung von dem Tag, an dem ihr euch begegnet seid.«
»Ach ja? Zeigst du sie mir?«
»Ein andermal, ich habe jetzt schon den Terminal ausgeschaltet und möchte nach Hause. Aber keine Sorge, die elektrische Aktivität zeugt von großer emotionaler Intensität, die Kurven schlagen in alle Richtungen aus. Los, und jetzt beeil dich ein bisschen.«
»Und wenn wir zu Silvester wieder nach Salem fahren würden?«, schlug Hope vor, als sie unter die Decke schlüpfte.
»Das würde ich gerne tun, aber ich glaube, ich kann Luke nicht bitten, uns an diesem Abend das Auto zu leihen, und ihn alleine hier zurücklassen.«
»Du hast recht, mein Josh, das wäre etwas schwierig.«
»Wann hast du angefangen, mich ›mein Josh‹ zu nennen?«
»An dem Tag, an dem ich wusste, dass ich wirklich dir gehöre. Ich musste ja einen Weg finden, dass es bei dir genauso ist.«
Hope wandte sich zu ihm und schob die Decke zurück. Sie war nackt.
»Aber gehörst du wirklich mir?«, fragte sie und setzte sich rittlings auf ihn.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
Nachdem Josh ausgezogen war, hatte Luke sich im Zimmer seines Freundes einen kleinen Arbeitsbereich eingerichtet. Zunächst hatte er daran gedacht, dort zu schlafen, doch auch Hope hatte hier gelebt, und manchmal hatte
er den Eindruck, ihre Anwesenheit zu spüren. Beim Arbeiten störte ihn das nicht, beim Schlafen schon.
Aus der Innentasche seiner Jacke zog er die Dokumente, die er im Zentrum diskret hatte mitgehen lassen, und setzte sich an den Tisch, um sie eingehend zu studieren. Die Kurven waren eigenartig, und je länger er sie betrachtete, desto mehr zweifelte er daran, dass eine Dysfunktion der Elektroden der Grund dafür war. Die Anomalien beunruhigten ihn, und er wollte so schnell wie möglich sichergehen, dass seine Befürchtungen unbegründet waren.
Die ersten Sonnenstrahlen weckten Hope. Das Morgenlicht fiel durch das Fenster auf den hellen Holzboden des Lofts. Josh schlief tief und fest, und sie lächelte schelmisch, als sie ihn leicht in die Wange kniff. Er brummte und vergrub den Kopf im Kissen, das sie anhob, um ihm zuzuflüstern: »Mach mir Pfannkuchen!«
»Hope, bitte«, knurrte er.
»Mit Ahornsirup.«
»Nein.«
»Heute ist unser Jahrestag.«
Josh wandte sich um und sah sie zweifelnd an.
»Welcher Jahrestag?«
»Der unserer ersten Nacht.«
»Wirklich?«
»Ich glaube, ich mag deine rüpelhafte Art.«
»Das hast du dir schön ausgedacht, aber unsere erste Nacht war am 10. November.«
»Machst du mir Pfannkuchen, nachdem du jetzt sowieso wach bist?«
»Du bist unmöglich«, sagte Josh und stand auf.
Er zog eine Jeans an und ging hinter die Küchentheke.
»Wann stellst du mir deinen Vater vor?«, fragte Hope und trat zu ihm.
Er seufzte. »Wird es irgendwann irgendjemandem gelingen, die weibliche Denkstruktur zu entschlüsseln?«
»Darf ich erfahren, was diese kleine Bemerkung zu bedeuten hat?«
»Wie bist du von den Pfannkuchen auf meinen Vater gekommen?«
»Meiner hat mir oft welche gemacht, und deine Gesten, wenn du das Gas anzündest, sind wie seine. Dieselbe Art, eilig die Hand zurückzuziehen, als könnte der Gasherd explodieren.«
»Das hat natürlich eine unwiderlegbare Logik.«
»Also, wann besuchen wir ihn?«
»Wir haben uns lange nicht gesehen.«
»Warum?«
»Weil wir zerstritten sind, Hope. Und ich habe jetzt ebenso wenig Lust, über ihn zu reden, wie dazu, Pfannkuchen zu machen.«
»Warum seid ihr zerstritten?«
»Das ist eine alte und lange Geschichte.«
»Ich möchte, dass du dich mit ihm versöhnst.«
»Bestimmt nicht. Und was geht dich das an?«
»Wenn wir eines Tages Kinder haben, sollen sie ihren Großvater lieben können.«
Josh wandte sich um und sah sie merkwürdig an.
»Nun mach doch nicht so ein Gesicht, als hätte ich dir den Weltuntergang verkündet. Ich habe gesagt ›wenn wir eines Tages‹, nicht jetzt.«
»Können wir erst einen Kaffee trinken, ehe wir den Weltuntergang in Gesellschaft meines Vaters ins Auge fassen?«, fragte er und füllte den Wasserspeicher der Kaffeemaschine.
»Wenn du mir versprochen hast, dass ich ihn kennenlernen werde, hast du gehört, Josh?«
»Klar und deutlich.«
»Woher kommt dieser Ausdruck?«
»Von ihm, du hast es geschafft, ihn in seiner Abwesenheit zu Wort kommen zu lassen. Jedes Mal, wenn er mir eine Strafpredigt hielt, endete die mit den Worten: ›Ich hoffe, du hast mich gehört, und zwar klar und deutlich!‹«
Hope reckte sich auf die Zehenspitzen und nahm zwei Becher aus dem Schrank.
»Ich hatte heute Nacht einen Albtraum.«
»Du hast oft welche, seit wir hier sind. Vielleicht bekommt dir dieses Loft nicht, oder die Straßenlaternen erhellen das Zimmer zu sehr. Ich versuche, etwas zu basteln, um die Fenster zu verdunkeln.«
»Fragst du nicht, was ich geträumt habe?«
»Ich habe schon eine Ahnung, denn du redest im Schlaf, Hope.«
»Und was habe ich gesagt?«
»Dass ich der geduldigste Mensch überhaupt bin«, antwortete Josh, legte zwei Pfannkuchen auf einen Teller und reichte ihn Hope.
»Ich habe geträumt, wir sind am Meer spazieren gegangen, plötzlich habe ich mich umgedreht und bin auf die Wellen zugelaufen, und du hast mich gehen lassen. Ich bin ohne den geringsten Widerstand ertrunken. Ich hatte keine Angst zu sterben, aber unter Wasser war ich entsetzt bei der Vorstellung, dich zu verlieren.«
Josh nahm sie in die Arme.
»Du schwimmst besser als alle anderen, und ich laufe schneller als du. Dein Albtraum ist also nicht logisch, ich hätte dich eingeholt, bevor du ertrunken wärst.«
»Ich fühle mich schlecht im Moment.«
»Wie, schlecht?«
»Ich habe den Eindruck, nicht mehr ich selbst zu sein.«
»Wir arbeiten zu viel. Sicher ist das auf irgendeine Mangelerscheinung zurückzuführen, vielleicht Kalzium oder Eisen. Wenn du willst, gehen wir zu einem Arzt.«
»Red keinen Unsinn, ich habe einen Vater, der Arzt ist.«
»Dann sprich mit ihm darüber. Vielleicht kann er dir ein Medikament verschreiben, damit du ruhiger schlafen kannst.«
»Nie im Leben! Mein Vater reagiert völlig irrational, sobald es um meine Gesundheit geht. Ich bin wahrscheinlich diejenige mit den meisten Tetanus-Auffrischungen überhaupt. Bei der kleinsten Verletzung war ich dran.«
»Dann lass uns in die Uniklinik gehen, eine kleine Blutabnahme, und wir wissen Bescheid.«
»Nie im Leben! Ich habe Horror vor Spritzen.«
»In Ordnung … Ich sehe, was ich wegen Lukes Auto tun kann. Dann fahren wir zwei Tage ans Meer, du ruhst dich aus, und wenn wir zurück sind, fühlst du dich nicht mehr schlecht.«
»Was gefällt dir, mein Busen ausgenommen, noch an mir?«
»Warum fragst du so etwas?«
»Vielleicht sollte ich ihm Augenbrauen aufmalen, dann würdest du von Zeit zu Zeit glauben, mir in die Augen zu sehen.«
»Bitte, Hope, ich habe ihn angesehen, weil du nackt bist.«
»Na, das ist mein Gesicht ja auch.«
»Wie soll ich nicht verwirrt sein, wenn du nichts anziehst?«
»Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Was findet ein Mann wie du an einem Mädchen wie mir?«
Josh griff nach der Küchenschürze und warf sie ihr zu. »Manchmal«, sagte er, »ist es unmöglich zu erklären, was man für jemanden empfindet, aber man weiß, dass dieser Jemand einen dahin bringt, wo man noch nie war.«
»Und wo warst du noch nie, bevor du mich kennengelernt hast, Josh Kepler?«
»Das ist das erste Mal, dass du meinen Familiennamen aussprichst.«
»Vielleicht weil du mir zum ersten Mal etwas so Schönes sagst.«
»An deiner Seite, Hope, ist der schönste Ort, den ich je in meinem Leben aufgesucht habe. Und um dir zu beweisen, dass ich das nicht nur so dahinsage, musst du wissen, dass du auch den schönsten Busen hast, den ich je gesehen habe … aber bitte, mal ihm keine Augenbrauen auf.«
Josh rief Luke an, um ihm zu sagen, er würde erst zu ihrer abendlichen Verabredung vor dem Leichenkeller kommen.
Als er auflegte, hatte Hope ihr Lächeln wiedergefunden. Sie nahmen einander gegenüber Platz und frühstückten genüsslich.
Später am Vormittag fuhren sie mit dem Bus bis zu einer Haltestelle in der Nähe des Flusses. Eine Stunde lang liefen sie am Ufer entlang und nutzten den Tag, an dem die Sonne endlich beschlossen hatte, sich zu zeigen. Als sie am Spätnachmittag das Kino verließen, in dem sie La grande bellezza – Die große Schönheit gesehen hatten – es war Hope gelungen, Josh in ein Filmkunsttheater zu locken –, diskutierten sie bei einem Stück Kuchen über den Film. Hope war sicher, dass Joshs Augen am Ende des Films feucht gewesen waren, was er hartnäckig abstritt.
»Warum willst du nicht zugeben, dass du zu Tränen gerührt warst?«
»Ich behaupte ja nicht das Gegenteil, aber deswegen habe ich noch lange nicht geweint.«
»Auch Männer haben das Recht zu weinen, mein Josh. Ich möchte, dass du mir etwas versprichst.«
»Nicht, ehe ich weiß, was.«
»Oh doch! Lieben bedeutet, nie am anderen zu zweifeln.«
Josh betrachtete den Kuchenrest, der auf seinem Teller lag, und nickte, als er ihn in den Mund schob.
»Im Frühjahr ist es an mir, deinen Vater kennenzulernen, wir fahren ihn besuchen.«
Josh verschluckte sich.
Sie kamen ein wenig zu spät. Luke trat vor dem Leichenkeller ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Sie liefen über den Gang und eilten dann weiter zur Radiologie.
Luke setzte sich an das Schaltpult, schob einen USB-Stick in den Computer und übertrug die Daten, die er im Zentrum aufgenommen hatte. Währenddessen legte sich Josh in die Röhre. Die Untersuchung begann, doch nach zwanzig Minuten unterbrach Luke sie und wandte sich an Hope. Diese war seit ihrer Ankunft in ihre Bücher vertieft und hatte dem Vorgehen kaum Aufmerksamkeit geschenkt.
»Jetzt bist du dran«, meinte Luke und nahm ihr das Buch aus der Hand.
»Du willst, dass ich mich in diese Röhre lege? Nie im Leben, ich leide unter Klaustrophobie.«
»Die Röhre ist auf beiden Seiten offen, du hast nichts zu befürchten.«
»In einem Aufzug im Prinzip auch nicht, und trotzdem nehme ich immer die Treppe.«
»Ich brauche deine Hilfe«, beharrte Luke, »und man kann nicht gerade behaupten, dass du dich in den letzten Wochen viel an unseren Forschungen beteiligt hättest. Also gib dir bitte einen Ruck.«
»Aber warum brauchst du mich denn?«
»Das habe ich dir schon letztes Mal erklärt, um Vergleichsdaten zu bekommen. Die von unseren beiden Gehirnen aufgenommenen reichen nicht aus. Josh kann neben dir sitzen, und wenn die Untersuchung wirklich unerträglich wird, dann höre ich sofort auf, versprochen.«
Hope zögerte, sie war sich bewusst, dass sie ihre Partner in letzter Zeit vernachlässigt und sich mehr mit den Arbeiten beschäftigt hatte, die sie mit Kasuko durchführte – vor allem, seit deren deutsche Kollegin entlassen worden war. Luke deutete auf den Scanner hinter der Glasscheibe, und Joshs Lächeln besiegte ihren letzten Widerstand. Sie legte ihre Brille auf die Ablage und vergewisserte sich, dass sich keine metallischen Gegenstände in ihren Taschen befanden.
Luke bat sie, in der Kabine ihre Kleidung abzulegen und den Kittel überzustreifen, der dort hing. Hope zuckte mit den Schultern und folgte seinen Anweisungen.
Josh half ihr auf die Liege, fixierte ihren Kopf mit Schaumstoffkeilen und versprach, sich nicht zu entfernen, während ihr Körper in die Röhre glitt.
Ein CT-Ring begann sich über ihr zu drehen, und Hope zog es vor, die Augen zu schließen.
Die von Luke waren auf den Kontrollbildschirm gerichtet. Als die ersten Schnittbilder zu sehen waren, atmete er tief durch und biss sich auf die Unterlippe, während er die Untersuchung fortsetzte.
Zwanzig Minuten später sah er auf die Uhr. Es wurde Zeit zu gehen, also kopierte er die Daten auf seinen USB-Stick, ließ die Liege aus der Röhre fahren und informierte Hope über das Mikro, dass sie sich anziehen könne.
»Und, entspricht das Ergebnis deinen Erwartungen?«, fragte Josh, als er zu ihm in die Kabine trat.
»Ja, wir müssen uns beeilen, damit wir verschwunden sind, ehe der Wartungsdienst kommt. Ich schalte den Monitor aus, und wir treffen uns im Gang.«
Sie verließen die Uniklinik und stiegen in den Camaro. Hope setzte sich auf die Rückbank, Josh auf den Beifahrersitz.
»Na?«, fragte sie und beugte sich vor. »Hat es diesmal funktioniert?«
»Ja«, erklärte Luke lakonisch.
»Wovon sprecht ihr?«, wollte Josh wissen.
»Von nichts«, antwortete Luke.
»Was heißt hier nichts? Dein Freund, der mich für sein neues Versuchskaninchen hält, hat bei mir eine Elektroenzephalografie gemacht, und die Macht meines Gehirns hat seinen Apparat geschrottet, ich war sehr stolz und er sehr wütend.«
»Warum hast du mir das nicht erzählt?«, fragte Josh.
»Habe ich ja«, erwiderte Luke, »aber du hast mir nicht zugehört. Nichts Schlimmes, nur ein Wackelkontakt im Helm, den ich schon repariert hatte, als du kamst.«
Josh bedachte Luke mit einem finsteren Blick, doch dieser hielt die Augen auf die Straße gerichtet.
Vor dem Loft trennten sie sich. Luke fuhr, ohne zu warten, weiter, und Josh sah den Camaro in der einsamen Nacht verschwinden.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Hope.
»Nein, nein. Lass uns nach oben gehen, es ist schon spät.«
Sobald er in seiner Wohnung war, setzte Luke sich an den Computer, schob den USB-Stick hinein und lud die MRT-Aufnahmen von Hope herunter. Dann stand er auf, holte ein Buch aus seinem Regal und verglich die Schnittbilder von Hopes Gehirn mit denen in seinem Buch. Das dauerte einen guten Teil der Nacht, und um drei Uhr morgens schrieb er Josh eine SMS.