Als Simon von seiner Reise zurückkehrte, studierte Hope die Anzeigen auf der Suche nach einer Wohnung, die sie sich leisten konnte. Sam hatte damals einen kleinen Geldbetrag auf das Konto von Longview eingezahlt, für den Fall dass … und der hatte innerhalb von vierzig Jahren Zinsen getragen.
Luke hatte dafür gesorgt, dass er ihr zukam. Er hatte seine Kontakte genutzt, um ihr eine Arbeit in der Bibliothek des Campus’ zu verschaffen, bis sie sich entschlossen hätte, was sie aus ihrem neuen Leben machen wollte.
Simon konnte sie schließlich überzeugen, bei ihm wohnen zu bleiben. Sie tat ihm einen Gefallen, wenn sie die Wohnung während seiner langen Abwesenheiten betreute. Seine Grünpflanzen waren noch nie so schön gewesen wie jetzt, wo sie da war. Der Pförtner hatte einfach keinen grünen Daumen, da war nichts zu machen.
Während der Woche, die er in Boston war, half er ihr bei ihren Nachforschungen und verbrachte Stunden auf Externet, um die sozialen Netzwerke auf der Suche nach einem Josh zu durchforsten, der der Mann sein konnte, den Hope suchte.
Sie hatten einige hoffnungsvolle Scheinerfolge, die ihre Herzen schneller schlagen ließen, bis zusätzliche Informationen jedes Mal eine Enttäuschung brachten.
Dann flog Simon wieder ab, und sie tauschten erneut Mails aus.
Inzwischen waren drei Monate seit ihrer Reise nach Nantucket vergangen. Hope verbrachte die meiste Zeit damit, nach Josh zu suchen. Sie hatte Anzeigen in allen Zeitungen des Landes und in der einschlägigen Fachpresse aufgegeben. Und da Simon ihr gesagt hatte, man dürfe nie den Schauplatz des Verbrechens außer Acht lassen, hatte sie sogar Zettel in den Cafés des Viertels aufgehängt, in dem sie früher gewohnt hatten. Eines Abends rief der Pförtner sie an, um ihr zu sagen, in der Halle erwarte sie eine Frau, die sie sprechen wolle.
»Wer ist es?«, fragte Hope.
»Eine nicht mehr ganz junge Dame«, flüsterte er, »offenbar japanischer Abstammung.«
Kaum hatte der Mann die Worte ausgesprochen, war Hope schon im Treppenhaus.
Als Kasuko aus dem Lift stieg, bekam sie einen Schock. Sie betrachtete Hope lange und traute ihren Augen nicht.
»Das ist wirklich ungerecht«, erklärte sie lachend und schloss sie in die Arme.
Hope bat sie herein und bot ihr Tee an.
Kasuko nahm auf dem Sofa Platz und vermochte nicht, den Blick von diesem jungen Gesicht abzuwenden.
»Kein Wunder, dass es so schwer war, dich zu finden«, meinte sie schließlich.
»Ich hätte dich suchen müssen. Aber ich bin nicht auf die Idee gekommen, dass du in Boston geblieben bist. Es fällt mir schwer, die Dinge klar zu sehen, dafür ist in den letzten drei Monaten zu viel passiert …«
»Ich weiß.«
»Und wie hast du mich gefunden?«
»Luke hat mir schließlich die Wahrheit gestanden. Seit du im Zentrum aufgewacht bist, habe ich ihm fast täglich Fragen über dich gestellt. In letzter Zeit habe ich bemerkt, dass er mich belog, und ihm gedroht, ihn zu verlassen, wenn er so weitermachen würde. Also hat er mir schließlich gestanden, dass Patient 102 das Gedächtnis wiedererlangt habe und dass es deins wäre. Und er hat auch von dem Geld gesprochen, das dein Vater dir hinterlassen hat, und von der Arbeit, die er in der Bibliothek für dich gefunden hat. Ich bin hingegangen und habe dort diese Adresse bekommen. Aber mal ehrlich, Hope, die Bibliothek des Campus’ bei deinem Studienniveau und deinen wissenschaftlichen Kompetenzen?«
»Ich befürchte, meine Kompetenzen sind nicht auf dem neuesten Stand. Alle wissenschaftlichen Werke zur Verfügung zu haben, sie lesen zu können und noch dafür bezahlt zu werden, ist gar nicht so schlecht. Allerdings habe ich noch kein Buch aufgeschlagen, ich verbringe meine ganze Freizeit damit, Josh zu suchen. Du wusstest es also auch?«
»Nein, das Einzige, was ich wusste, ist, dass Neurolink die Kontrolle über den Gedächtnistransfer des Patienten 102 übernommen hat. Der Techniker stellte eine Anomalie fest, die mir einen Moment lang die Hoffnung gab, dass …«
»Dass was?«
»Dass du zurückkommen würdest. Luke hat versucht, den Prozess zu unterbrechen, aber ich habe vorher die Zugangsdaten ändern können. Doch ich glaube sowieso nicht, dass Neurolink ihn hätte gewähren lassen. Flinch hatte das Abkommen in den Quellcode integriert.«
»Warum hat Luke versucht, den Prozess zu unterbrechen, und welches Abkommen meinst du?«
»Das ist eine lange Geschichte, Hope, und ich bin gekommen, um sie dir zu erzählen. Sie betrifft nicht nur dich, sondern auch Josh.«
»Weißt du, wo er ist?«
»Ja und nein, es ist kompliziert.«
»Hat er ein neues Leben begonnen? Wenn er glücklich ist …«
»Sei still und lass mich erzählen, es ist schon so schwierig genug, und ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll.«
»Bei ihm, denn nur er interessiert mich.«
»Josh konnte sich nie an den Gedanken gewöhnen, von dir getrennt zu sein, nach deinem Tod ebenso wenig wie vorher. Er hatte noch zu deinen Lebzeiten einen völlig verrückten und gefährlichen Plan ersonnen. Den hat er heimlich und ohne das Wissen anderer – Luke, dich und mich eingeschlossen – umgesetzt. Erinnere dich, als ihr mit dem Plan, dein Gedächtnis zu kopieren aus Nantucket zurückgekommen seid, war seins bereits fast vollständig gespeichert. Am Tag nach deinem Tod ist er ins Zentrum zurückgekehrt. Luke und ich konnten kaum glauben, dass er so stark war. Natürlich war er gramgebeugt, aber er war aktiv, und wir bewunderten ihn für seine Stärke. Aber er hat uns hinters Licht geführt. Als sein gesamtes Gedächtnis gespeichert war, ist er zu Flinch, dem guten alten Flinch, gegangen. Denn während der Wochen, in denen er Tag und Nacht über dich gewacht hat, hat dein Josh sein wissenschaftliches Genie auf eine harte Probe gestellt. Alle wussten, dass er der Kopf des Tandems war, das er mit Luke bildete. Luke war neidisch auf ihn … und all die Zugeständnisse, die er Flinch gegenüber machte, um sein Liebling zu werden, konnten daran nichts ändern. Wenn sie auch gemeinsam den Weg gefunden hatten, um das Gedächtnis zu encodieren, so war es doch Josh, der das Mittel entdeckt hat, es auch wieder zu aktivieren. Seine Entdeckung steckte noch in den Kinderschuhen, und es hat dreißig Jahre gedauert, sie wirklich funktionsfähig zu machen, aber Josh hat die Grundlagen geliefert, und er allein war der Erfinder.«
»Was hat das mit Flinch zu tun?«
»Sehr viel, du wirst gleich verstehen, warum. Josh hat ein Abkommen mit Flinch geschlossen. Er hat ihm seine Erfindung überlassen, nicht nur das, was er schon erschaffen hatte, sondern auch alles, was im Lauf seines Lebens noch dazukommen würde. Durch diesen Pakt hat Josh seine Seele endgültig an Longview verkauft.«
»Und was bekam er dafür?«
»Zwei Versprechen. Josh war der Meinung, nach der einhundertsten Gedächtnisübertragung könne man Neurolink als ein ausgereiftes und sicheres Programm betrachten. Longview musste sich verpflichten, danach dein Gedächtnis auf den ersten kompatiblen Körper zu übertragen. Josh hat nie an die Kryokonservierung geglaubt. Er hat sich aus Liebe zu dir auf das Spiel eingelassen, hingegen war er felsenfest von seinem Programm überzeugt. Und wie jeder Lügner, der etwas auf sich hält, vertraute Josh niemandem. Flinch musste ihm den Zugang zum Herzen von Neurolink gewähren, also zur Programmierung, die der Ursprung dieser künstlichen Intelligenz war. Und genau um diesen Punkt ging es bei dem Abkommen, eine Art Win-win-Situation für beide. Nach dem einhundertsten Patienten würde Neurolink dein Gedächtnis auf den ersten kompatiblen Körper übertragen. Das war bei der Nummer 102 der Fall.«
»Du hast gesagt, es gab zwei Bedingungen bei dem Abkommen, welche war die zweite?«
»Dass Josh der Nächste wäre …«
»Aber das ist unmöglich, es kann nicht dasselbe Bewusstsein in zwei Körpern geben.«
»Nein, in der Tat, so etwas hätte Neurolink verhindert.«
»Dann verstehe ich es nicht.«
»Auch Flinch hat sich reinlegen lassen, als er dieses Abkommen unterschrieben hat. Josh hat elf Monate gebraucht, um den Quelltext von Neurolink zu ändern. Die Aufnahme seines eigenen Gedächtnisses war abgeschlossen und auf dem Server gespeichert. Er hatte erreicht, was er von Anfang an wollte.«
»Aber was wollte er denn?«
»Ich dachte, du hättest es verstanden. Sterben, um zugleich mit dir wieder aufzuerstehen. Josh hat sich an deinem Todestag umgebracht.«
Hope schwieg eine lange Weile. Sie war unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen. Kasuko blieb bei ihr und machte etwas zu essen. Sie setzten sich an den Couchtisch, und Hope stellte die Frage, die sie bis dahin noch nicht zu formulieren gewagt hatte: »Wie lange dauert es noch, bis ein kompatibler Körper … ihn ins Leben zurückbringt?«
»Der Prozess ist heute Morgen abgeschlossen worden, und er hat die Augen wieder geöffnet. Ich wusste deine Adresse schon seit einigen Wochen, aber ich wollte dich erst dann besuchen, wenn ich in der Lage wäre, dir auf diese Frage zu antworten.«
»Ist Josh hier in Boston?«, fragte Hope flehentlich.
»Nein, seit Neurolink wirklich aktiv ist, haben wir mehrere Zentren im ganzen Land eröffnet. Ich habe alle mir zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt, um über den Zeitpunkt und den Ort informiert zu werden, an dem es geschehen würde. Joshs Gedächtnis ist in Seattle übertragen worden. Ich habe mir erlaubt, dir ein Flugticket zu kaufen und eine kleine Wohnung in der Nähe des Zentrums zu mieten.«
»Eine Wohnung?«
»Hope, eure Fälle sind identisch, ihr habt zur gleichen Zeit denselben Prozess durchlaufen, und alles deutet darauf hin, dass Josh unter denselben Umständen zu sich kommt wie du. Du wirst dich gedulden und warten müssen, bis sein Gedächtnis wieder funktioniert, um ihn wirklich wiederzufinden.«
Kasuko verbrachte die Nacht bei Hope. Am Morgen fuhr sie sie zum Flughafen.
Als sie sich von ihr verabschiedete, bat sie Hope zu versuchen, Luke eines Tages zu verzeihen.
»In dem Jahr, in dem du gestorben bist, hat er die beiden Menschen verloren, die ihm am wichtigsten auf der Welt waren: seinen Freund und jene Frau, die er geliebt hat, seit er zum ersten Mal auf einem Rasen des Campus’ ihrem Blick begegnet war. Sag jetzt nichts, ich möchte, dass zumindest einer von uns vieren nie gelogen hat. Du hast immer gewusst, dass Luke dich liebte, und um diese unerwiderte Liebe zu trösten, hast du ihn mir vorgestellt. Und das wusste ich auch, man brauchte ihn nur in deiner Gegenwart zu beobachten. Aber ich liebe ihn von ganzem Herzen, wenngleich er mich erst an zweiter Stelle liebt, reicht mir ein Teil von ihm, und ich bedauere nichts. Als du aufgewacht bist, hatte er Angst, und das verstehe ich, denn ich selbst hatte auch Angst. Und jetzt geht unser Leben dem Ende entgegen, während das eure erst beginnt, also tu alles dafür, dass sich das Ganze auch gelohnt hat. Werdet glücklich.«
Kasuko schloss Hope in die Arme und sah ihr nach, als sie zum Terminal eilte.