Als Melly aufwachte, fühlte sie sich noch freier als am Tag zuvor, endlich stand ihr ein neues Leben offen. Simons Wohnung war kaum größer als ihr Zimmer im Haus ihrer Eltern, aber sie hatte eine Größe, in der sie sich wohlfühlte. In der Einrichtung erkannte sie Simons guten Geschmack.
Auf beiden Seiten einer Kaminumrandung bogen sich die Bretter eines Bücherregals unter ihrer Last. Ein Sisalteppich bedeckte beinahe das gesamte alte Parkett, das unter Mellys Schritten knarrte. Ein Sofa und zwei weiße Leinensessel standen sich zu beiden Seiten eines Couchtischs gegenüber, auf dem sich Kunstbücher stapelten. Die Äste der Platanen reichten bis zu den beiden Fenstern, durch die ein angenehmes Licht in den Raum fiel. An den Wänden sorgten geschmackvolle Plakate für einen Hauch von Farbe in diesem weißen Schmuckkästchen. Melly hatte nicht gewusst, dass Simon so gerne las, und dachte, wenn Alvin an ihrer Stelle vor dieser Bibliothek gestanden hätte, wäre er der glücklichste Mensch gewesen. Eine Vielzahl von Bildbänden zeugte von Simons Reisen. New York, San Francisco, Moskau, Schanghai, Berlin, Rom, Paris, London – so viele Metropolen, in denen sie mit ihm hätte auftreten sollen, waren in diesen Büchern verewigt.
Melly wählte den Band über Hongkong und setzte sich im Schneidersitz auf den Teppich. Sie blätterte das Buch durch, als ihr Blick plötzlich auf einen anderen Band aus derselben Reihe fiel. Sie legte ihr Buch beiseite und griff danach. Das Einbandfoto zeigte einen Leuchtturm.
Melly studierte ihn mit größter Aufmerksamkeit, und plötzlich stiegen ihr Tränen in die Augen, ohne dass sie verstanden hätte, warum. Je mehr sie versuchte, sie zurückzuhalten, desto stärker flossen sie.
Ihr Telefon klingelte, und als sie Simons Stimme hörte, schluchzte sie los.
»Du weinst?«
»Nein, ich habe einen starken Schnupfen.«
»Ich höre genau, dass du weinst, fühlst du dich bei mir nicht wohl?«, fragte er beunruhigt.
»Im Gegenteil«, antwortete Melly.
»Was ist dann los mit dir?«
»Ich weiß es nicht«, stammelte sie, »es ist dieses Buch.«
»Da bin ich wie du, bei bestimmten Romanen muss ich weinen.«
»Es war kein Roman …« Melly schluchzte auf. »Und ich bin noch nicht einmal dazu gekommen, es aufzuschlagen.«
»Ach ja? Welches Buch denn?«
»Ein Bildband mit einem Leuchtturm auf dem Cover.«
»Brant Point!«
»Was?«
»Auf dem Einband ist der Leuchtturm Brant Point abgebildet, es ist einer der bekanntesten des Landes. Im Sommer strömen die Touristen nach Nantucket, um ihn zu sehen. Darf ich erfahren, warum dich dieser Leuchtturm so aus der Fassung bringt?«
»Keine Ahnung, ich habe ihn angeschaut und habe angefangen, wie eine Idiotin zu heulen.«
»Wenn Leute grundlos weinen, sagt man ihnen normalerweise, sie sollen nicht so viel in sich hineinhorchen, aber dir würde ich im Gegenteil gerne raten, etwas mehr in dich hineinzuhorchen. Wenn dich das Foto von einem Leuchtturm in einen solchen Zustand versetzt, dann hat das etwas zu bedeuten. Fragt sich nur, was.«
»Einverstanden, aber was soll ich tun?«
»Ihn dir vielleicht aus der Nähe anschauen?«
»Ja, vielleicht«, murmelte Melly.
»Nächsten Sonntag haben wir frei. Ich nehme ein Flugzeug und fahre mit dir hin.«
»Wo spielst du am Samstag?«
»In Vancouver.«
»Also, dann kommt es überhaupt nicht infrage, dass du wegen mir eine Nacht im Flieger verbringst, und außerdem hast du recht, ich muss alleine dorthin gehen.«
»Ich kann nicht recht haben, denn ich habe soeben das Gegenteil vorgeschlagen.«
»Simon, glaubst du, dass ich eines Tages verstehen werde, was mit mir geschieht? Warum darf ich nicht einfach sein wie alle anderen?«
»Weil die Normalität sterbenslangweilig ist.«
»Du hast jemanden kennengelernt!«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Du hast die Stimme von jemandem, der jemanden kennengelernt hat und seine beste Freundin anruft, um ihr zu erzählen, dass er glücklich ist. Wie heißt er?«
»Gefahr im Verzug.«
»Das soll ein Name sein?«
»Nein, aber es könnte sein, dass ich mein Herz verliere.«
»Warum sagt man verlieren, wenn man doch die Liebe gewinnt?«
»Weil man, wenn man Liebeskummer hat, erst wieder auf die Beine kommen muss.«
»Und wenn es einem guttut?«
»Ich vermute, dass man dann nichts verliert, sondern einfach liebt.«
»Also, das wünsche ich dir, aber pass trotzdem gut auf dich auf – oder nein, vergiss, was ich gerade gesagt habe, lebe das pralle Leben und versage dir nichts und …«
»Und wenn ich doch verliere?«
»Du hast eine Freundin, die dich in die Arme nehmen würde.«
»Melly, das wird wieder, hab Geduld und alles wird wieder normal.«
»Ich dachte, die Normalität sei stinklangweilig.«
»Eins zu null für dich.«
»Geh zu deinem ›Gefahr in Verzug‹ und mach dir um mich keine Sorgen. Ich werde diesen Leuchtturm aufsuchen und dich auf dem Laufenden halten. Du hast Nantucket gesagt, stimmt’s?«
»Meine Autoschlüssel liegen auf dem Abstelltischchen in der Diele. Das Auto steht in der Tiefgarage des Hauses, es gibt nur ein Untergeschoss, du kannst es nicht verfehlen. Fahr bis Cape Cod, nimm die Fähre und ruf mich ganz bestimmt von dort an. Wenn du da übernachten willst, empfehle ich dir ein Bed and Breakfast, das direkt am Hafen liegt. Es ist das älteste der Stadt. Von außen sieht es nach nichts aus, aber wenn du durch die Tür gehst, wirst du einen der hübschesten Orte entdecken, die ich kenne.«
»Versprochen, ich rufe dich sofort nach meiner Ankunft an.«
»Ich verlasse mich darauf. Und sei vorsichtig mit meinem Auto, es ist eine alte Dame, und wie alle Großmütter schön und empfindlich. Ich umarme dich, Melly.«
Melly legte auf und griff wieder nach dem Buch. Lange betrachtete sie das Foto des Leuchtturms Brant Point, und wenn sie keine Angst gehabt hätte, sich selbst für verrückt zu halten, hätte sie schwören können, dass er ihr zulächelte.
Sie ging in die Diele, nahm Simons Autoschlüssel von dem Tischchen und machte sich auf den Weg in die Tiefgarage.
Melly steuerte Richtung Süden. Das Autofahren erschien ihr ebenso einfach wie das Klavierspielen, aber mit ihrem Haar, das im Wind flatterte, sehr viel amüsanter. Sie kam genau zur rechten Zeit in Cape Cod an, um die Fähre zu erreichen, die gerade ablegen wollte.
Sobald die Fähre den Hafen verließ, wurde ihr übel, und sie verließ die Kabine und ging hinauf an Deck.
Die Fähre pflügte durch die leichte Dünung, und Melly berauschte sich an der Meeresluft, während sie sah, wie sich die Möwenschwärme entfernten, die in Küstennähe über den Wellen ihre Pirouetten drehten.
Nantucket war eine wundervolle Insel, noch schöner, als Melly sie sich vorgestellt hatte.
Sie entdeckte das Bed and Breakfast, das Simon ihr empfohlen hatte. Auf seinen Pfählen, die im Wasser standen, hatte es etwas Anmutiges, Fröhliches, und sie ahnte sofort, warum es ihm gefallen hatte.
Ein Souvenirverkäufer wies ihr den Weg zum Leuchtturm Brant Point.
Vom Holzsteg aus erschien er ihr kleiner als auf dem Foto, aber er hatte Stil. Sie fragte sich, was sie hier eigentlich machte und ob die Hoffnung nicht falsch gewesen war, diese Reise werde ihr Antworten bringen.
Melly lehnte sich auf das Geländer, füllte ihre Lungen mit Luft und ließ den Blick über die Wellen schweifen.
Im Rauschen des Windes hörte sie:
»Wirf mich ins Meer, mein Josh. Auch ich möchte eine zweite Chance haben.«
Sie blickte suchend um sich, woher diese Stimme kam.
»Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?«
»An manchen Tagen, wenn ich wirklich Angst habe, schon.«
Wahrscheinlich unterhielt sich ein Paar auf der anderen Seite des Leuchtturms. Sie umrundete ihn und kam an ihren Ausgangspunkt zurück, ohne jemanden gesehen zu haben.
»Hast du Angst vor dem Tod?«
»Ja, vor deinem Tod.«
»Wenn es wirklich ein Leben nach dem Tod gibt, werde ich sehr jung sein, wenn es beginnt, während du es erst als hinkender Greis anfangen wirst.«
»Warum sollte ich so alt werden?«
»Weil das Leben schön ist, und weil ich es dir befehle.«
Melly vermutete, der Wind trage diese Worte bis zu ihr. Sie drehte sich um und blickte suchend über den Strand.
Etwa hundert Meter entfernt erhoben sich drei kleine, von Hibiskusbüschen überwachsene Hügel. Hinter dem am weitesten entfernten bemerkte sie eine verfallene weiß gekalkte Hütte.
Da sie sich ganz sicher sein wollte, ging sie auf dem Steg zurück in Richtung dieser Hütte.
Die Stimmen kamen näher.
»Je weniger von jedem Einzelnen allein bleibt, desto mehr bleibt von uns beiden.«
Die Umgebung war verlassen, nur drei kleine Jungen spielten auf der Düne. Sie begriff, dass diese Worte von nirgendwoher kamen, sondern sie sie in ihrem Kopf hörte.
Ihr Herz begann heftig zu schlagen, sie beschleunigte den Schritt und blieb plötzlich vor einem weißen Stein stehen, der am Fuß des Häuschens auf einem weichen Graspolster lag.
Melly kniete sich davor, wischte mit der Hand die dünne Sandschicht ab und entdeckte zwei eingravierte Vornamen.
Eine elektrische Entladung lief ihren Nacken entlang, sie verdrehte die Augen und verlor das Bewusstsein.
»Ma’am? Ma’am?«
Der Junge schüttelte sie an den Schultern, seine beiden Kameraden sahen ihm dabei zu.
»Was meinst du, Fred, sollen wir vielleicht Hilfe holen?«
»Warte, Momo, ich glaube, sie macht die Augen auf.«
»Ma’am? Schläfst du oder bist du tot?«
Melly richtete sich auf und hielt sich dabei den Kopf. Sie hatte den Eindruck, vom Blitz getroffen worden zu sein. Sie blieb im Sand sitzen, noch zu benommen, um aufzustehen.
»Bist du ganz von alleine hingefallen?«
»Ich glaube schon«, sagte sie und lächelte das Kind an.
Noch immer hörte sie die Stimmen, die ihr zuraunten.
»Und wenn ich wirklich eines Tages zurückkäme und dich nicht finden würde?«
»Du wirst mich finden, da bin ich mir ganz sicher, und wenn nicht ich es bin, wirst du mich im Blick eines anderen finden, in seinem Herzen, seiner Jugend, und du wirst ihn mit all der Kraft lieben, die ich dir gegeben habe. Dann wird es an dir sein, mir einen Moment der Ewigkeit zu schenken. Du wirst ihm erzählen, dass wir als Erste verrückt genug waren, den Tod herauszufordern, und du wirst über unsere Intelligenz lachen. Das wird das erste und letzte Mal sein, dass du von mir sprichst, danach musst du ihm Platz lassen.«
»Ist dir bewusst, was du da sagst? Deine Geschichte, mein Josh, ist der Horizont auf den Kopf gestellt.«
»Ich bin Fred, das ist Momo, und mein Freund mit der Kappe ist Samy, und wie heißt du, Ma’am?«
»Hope, ich heiße Hope«, antwortete sie.