|37|Der schwäbische Mensch tickt mitunter etwas anders als der Rest der Welt. Das drückt sich auch in seiner Sprache aus.
Sind Schwaben gefühlsarm? Das wird immer wieder vermutet, weil ihnen der Satz Ich liebe dich nicht oder nur unter Androhung von Liebesentzug über die Lippen geht.
Selbst in den entlegensten Weltregionen muss man damit rechnen, einem Eingeborenen zu begegnen, der, auch wenn er sonst kein Wort Deutsch kann, die Formel Ich liebe Dich beherrscht. Im schwäbischen Sprachraum hingegen wird man sie kaum vernehmen; auch nicht in schwäbischer Aussprache. Theoretisch müsste die I liab’ de lauten. Doch die Reaktion, die dieser Satz bei Schwaben auslöst, ähnelt der beim Kratzen von Fingernägeln auf der Schultafel. Es ist also nicht die erwünschte.
Die Aversion gegen den standardsprachlichen Liebesschwur wird oft fehlgedeutet als Unfähigkeit, Gefühle zu äußern. Dem liegt das – vor allem bei Intellektuellen – verbreitete Missverständnis zugrunde, Gefühle ließen sich nur mit Hilfe des Mundwerks ausdrücken.
Dieser Irrtum hat unter anderem dazu geführt, dass während der Siebzigerjahre auch biedere Schwäbinnen und Schwaben im studentischen oder städtischen Milieu sich plötzlich genötigt fühlten, anderen Menschen zur Begrüßung um den Hals zu fallen, um nicht als verstockt zu gelten. Doch ihre Körperhaltung verriet das Zwanghafte der Handlung. Das aber beweist, dass auch Schwaben über eine Körpersprache verfügen, mit der sie oft mehr verraten als ihnen lieb ist.
Dennoch kommt es vor, dass Schwaben ihre Zuneigung in Worte fassen wollen. Doch selbst dann lehnen sie den Satz Ich liebe dich ab, der auch in anderen Mundarten und in der Umgangssprache überhaupt durch Umschreibungen wie Ich mag dich oder Ich hab’ dich lieb ersetzt wird.
|39|Diese Formulierungen muten weniger pathetisch an. Aber drücken sie deswegen weniger Emotion aus?
Tatsächlich ist jenes Ich hab’ dich lieb älter als Ich liebe dich, das erst in Mode kommen konnte, nachdem das Verbum lieben am Ende des Mittelalters auch die Bedeutung des älteren „minnen“ übernahm. Wie alt das Bekenntnis Ich mag dich – oder schwäbisch: I mag de – ist, das ist schwer zu sagen. Das Wörterbuch der Brüder Grimm teilt nur mit, dieses mögen im Sinne des Ausdrucks einer Zuneigung sei „gewiss der täglichen Rede von lange her eigen“ und „in oberdeutschen Mundarten namentlich recht gewöhnlich“.
Wer nun einzuwenden hat, mögen stelle den oder die Geliebte(n) auf die gleiche Stufe wie einen Zwiebelrostbraten, der nehme zur Kenntnis, dass die Wortgeschichte von lieben tatsächlich in Richtung Magen deutet: Sie könnte im Laub wurzeln; Kluges Etymologisches Wörterbuch hält einen Zusammenhang mit „der Begierde der Herdentiere nach frischen Laubzweigen“ für denkbar.
Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass niemand auf die Idee käme, das spanische te quiero eines Latin Lovers als emotional minderwertig zu betrachten. Dabei ist es die wörtliche Übersetzung von I mag de.
„I hoff’ net, dass-e g’winn.“ Diesen bemerkenswerten Satz formulierte ein schwäbischer Lotto-Spieler am Tag vor der Ziehung eines 26,7-Millionen-Jackpots.
Zunächst ist man geneigt, den Satz für verdreht zu halten. Denn normalerweise sagt man nicht „ich hoffe nicht, dass“, sondern „ich hoffe, dass nicht“. Ein schwäbischer Lapsus Linguae?
Schwäbisch ja, Lapsus nein. Hätte der Lottospieler gesagt: „I hoff, dass-e net g’winn“, hätte man ihn zu Recht für verrückt halten dürfen, denn niemand zahlt Einsatz für ein Spiel, das er nicht gewinnen will. Doch das „I hoff net, dass“ bedeutet, dass er zwar nichts dagegen gehabt hätte, 26,7 Millionen Euro zu gewinnen, dass er aber nicht aktiv darauf hoffen wollte.
Für diese scheinbar irrationale Nicht-Hoffnung gibt es eine Reihe guter mentalitätsbedingter und damit schwäbischer Gründe. Einer wäre Gottesfurcht, gepaart mit Bauernschläue: Man hofft nicht auf den Hauptgewinn, um beim Herrgott, der seine Allmacht auch bei der Ziehung der Lottozahlen geltend machen kann, keinen habgierigen Eindruck zu erwecken.
Ein anderer Grund wäre, dass das Nicht-Hoffen auf die anderen souverän wirken und damit hämische Reaktionen im Falle des Nicht-Gewinnens verhindern soll. Denn solche zu ertragen ist der Schwabe auch in so einem Fall nicht souverän genug.
Der dritte und wohl eigentliche Grund aber ist die zutiefst schwäbische Angst vor den möglichen Folgen eines Erfolges: Was droht einem, der 26,7 Millionen Euro gewonnen hat, nicht alles an Ungemach durch Diebe, Räuber, Erpresser, Freunde und Verwandte. Und dann die Qualen des Entscheidungsdrucks, wie man das Geld am profitabelsten anlegen oder womöglich ausgeben soll! Da muss |41|man zum Schluss kommen, dass so viel Geld nicht glücklich machen kann, selbst wenn man’s gerne gewinnen täte.
Wie weit die schwäbische Angst vor den negativen Folgen des Erfolgs führen kann, beweist eines der berüchtigten Grablieder, durch die der schwäbische Pfarrer Michael von Jung (1781–1858) unsterblich geworden ist. Es heißt „Bei dem Grabe einer vortrefflichen Sängerin, die an der Kolera starb“. Darin beklagte er den Tod einer jungen Frau, die mit ihrem Gesang jedermann entzückte. Sie war in der Residenzstadt zur Sängerin am Hoftheater avanciert, als die Cholera ihr tugendhaftes Leben abrupt beendete.
An diesem Punkt angelangt, gab der Pfarrer den trauernden Hinterbliebenen allerdings zu bedenken, dass ihr Tod auch sein Gutes gehabt haben mag. Schließlich hätte sie im Theater ihre Herzensunschuld einbüßen können, woraus Jung messerscharf schloss, „dass die Kolera sogar/für ihre Seele besser war.“
Man muss davon ausgehen, dass diese Schlussfolgerung den leidgeprüften Eltern wirklich zum Trost gereichte. Ebenso darf man annehmen, dass der Lottospieler erleichtert aufseufzte, als der Gewinn nach Nordrhein-Westfalen floss.
Was sagt eine schwäbische Gastgeberin, wenn sie ihre Gäste veranlassen will, den Kuchen ohne weitere Widerrede zu essen? Sie sagt dann: „Langet zu! Der mueß weg!“
Man stelle sich vor, bei einem Staatsbankett würde die Gattin des Bundespräsidenten der Königin von England ein Stück Kuchen auf den Teller legen und sagen: „Greifen Sie zu, Majestät, der muss gegessen werden.“ Ein Bruch der diplomatischen Beziehungen würde drohen, denn die Queen müsste annehmen, man würde ihr Nahrungsmittel auftischen, deren Verfallsdatum bereits überschritten ist.
In Schwaben ist das ganz anders. Hier wird der Satz Des mueß weg! von den Gästen als Aufforderung verstanden, sich ohne Hemmungen nach Herzenslust zu bedienen.
Um zu begreifen, was hier vor sich geht, müssen Nichtschwaben sich mit den klassischen schwäbischen Anstandsregeln auseinandersetzen. Denn selbst wenn auch die sich allmählich in Wohlgefallen auflösen – woran ausnahmsweise nicht die Globalisierung, sondern mangelnde Erziehung schuld ist –, sind sie noch immer wirksam, etwa in der Aufforderung Des mueß weg.
Die ist zu verstehen auf dem Hintergrund der alten Verhaltensvorschrift, erst dankend abzulehnen – und zwar drei Mal! –, wenn einem etwas angeboten wird. Sie ist am anrührendsten dokumentiert in der alten Geschichte vom kleinen Buben, der bei Nachbars Kindergeburtstag plötzlich bitterlich zu weinen anfängt. Nach dem Grund gefragt, schluchzt er, er hätte gern einen Kuchen gegessen, aber seine Mutter habe gesagt, er dürfe erst einen annehmen, wenn man ihn zum dritten Mal gefragt habe. Die Nachbarin hatte nur zweimal gefragt.
|43|Diese Regel stammt aus Zeiten, als selbst der Hefezopf noch ein nicht alltäglicher Luxus war. Man teilte dem Gastgeber auf diese Art mit, dass man ihn nicht schädigen möchte, ließ dabei aber – bewusst oder unbewusst? – meist erkennen, dass man eigentlich schon wollen täte. Alle Schwaben kennen dieses Zeremoniell, und das Erstaunliche ist, dass sich noch immer viele daran halten, wenn auch oft in der reduzierten Form des geziert-zögernden Zugreifens: „Dann ben-e halt so frei!“ Denn auch, wenn sie es für ein Jenseits-Gschiiß halten, wollen sie schließlich zeigen, dass man weiß, was sich gehört.
Dieses Getue kann der Gastgebende kategorisch unterbinden, indem er sagt: Des mueß weg! Dahinter steckt die mehr oder weniger ernst gemeinte Drohung, das Angebotene werde, wenn es nicht aufgegessen wird, im Abfall landen. Das wäre auch nach modernem schwäbischem Selbstverständnis eine Sünde, die unter allen Umständen zu vermeiden ist. Und deshalb wäre es grob unhöflich, dieser Einladung nicht zu folgen.
Natürlich hat auch sie ihre zwei Seiten: Wenn das Essen schmeckt, ist sie höchst willkommen. Sollte das hingegen nicht der Fall sein und will der Gastgeber das Zeug aus diesem guten Grund loswerden, sitzen die Gäste in der Falle.
Sparsam zu sein ist unter Schwaben aller Ehren wert. Geizhälse hingegen werden verachtet. Das manifestiert sich in despektierlichen Vokabeln wie Fuuzklemmer.
Wenn die Schwaben immer wieder mit den Schotten verglichen werden, dann spricht daraus mangelndes Differenzierungsvermögen bei der Anwendung von Stereotypen. Denn den Schwaben wird gemeinhin das Eigenschaftswort sparsam zugeordnet, den Schotten hingegen das Adjektiv geizig – ob zu Recht oder nicht, sei hier einmal dahingestellt. Da aber zwischen sparsam und geizig ein himmelweiter Unterschied besteht, sind die Klischees vom Schwaben und vom Schotten nicht deckungsgleich.
Sparsam ist, wer unnötige Ausgaben – auch für sich selber – vermeidet. Und geizig ist, wer am Geld klebt und es an sich rafft. Geiz und Habsucht sind aus einem Guss; für geizig und habgierig kennt das Lateinische ein einziges Wort: avarus. Daher kommt das französische Hauptwort l’avare (der Geizige), mit dem Molière seine 1668 verfasste Komödie überschrieben hat.
Die wurde 1975 von Thaddäus Troll ins Schwäbische übertragen – unter dem genialen Titel „Der Entaklemmer”. Denn als solchen bezeichnen die Schwaben einen Geizhals. Was aber hat Geiz mit Enten bzw. mit klemmen zu tun?
Dazu ist festzustellen, dass das Verbum klemmen im Schwäbischen – abweichend vom Schriftdeutschen – auch „zwicken“ bedeutet, ganz dem ursprünglichen Wortsinn entsprechend, der laut Kluges Etymologischem Wörterbuch lautete: „mit den Klauen packen, einzwängen, zusammendrücken.“
Ein Entaklemmer ist also ein Mann, der mit seinen Klauen die Enten, präziser gesagt: deren Hinterteil, zusammendrückt, bevor er |45|sie ins Freie entlässt. Spürt er am Ende des Legedarms ein Ei, bedeutet das für die Ente Ausgangssperre, denn sie könnte ja sonst ihre Leibesfrucht irgendwo in der freien Landschaft deponieren, wo der Enten-Eigentümer sie nicht findet.
Diese Vorsichtsmaßnahme war nicht auf Enten beschränkt. So verzeichnet Fischers Schwäbisches Wörterbuch auch den Hennegreifer. Und den gibt es – womit die Schwaben rehabilitiert sind – ebenso in anderen deutschen Landen, wo als Hennengreifer jedoch eher ein kleinlicher Mensch bezeichnet wird. Beim Hennentaster entfernt sich die Bedeutung noch weiter vom Entenklemmer in Richtung eines Schlappschwanzes, der den Ehebruch seiner Gattin schweigend hinnimmt.
Freilich dürfte nur eine absolute Minderheit der Schwaben freilaufende Enten besitzen. Es ist daher kein Wunder, dass es auch für die geflügellose Mehrheit ein entsprechendes Wort gibt, das ohne Ente, Huhn oder sonstiges Medium auskommt: der auf sich selbst konzentrierte Fuuzklemmer. Das ist einer, der nach einer verbreiteten Definition den Furz verhebt, bis zwei daraus werden. Was ihm das allerdings bringen soll, kann wohl nur ein Tiefenpsychologe beantworten.
Verhaltensweisen, die zwar jenen, die sie ausüben, sinnvoll erscheinen, der Umwelt aber merkwürdig vorkommen, nennt man im Schwäbischen Mödele.
Wenn ein Schwabe beim Stammtisch die Brezel vor dem Verzehr ins Bierglas taucht, wenn er am Arbeitsplatz ständig die Bleistifte der Größe nach und sämtliche Notizzettel rechtwinklig anordnet, wenn die Schwäbin in der Speisekammer die Raviolidosen nach Verfallsdatum aufstellt, wenn sie aus allen greifbaren Apothekerzeitungen, Bäckerblumen, Fernsehzeitschriften und Goldenen Blättern sämtliche Rezepte säuberlich ausschneidet und sammelt, um sie dann doch nie zu verwenden, dann sind das Mödele.
Das Wort Mödele bezeichnet somit gewohnheitsmäßige bis rituelle Verhaltensweisen, die jenen, die sie praktizieren, sinnvoll bis zwingend erscheinen, nicht aber den Mitmenschen. Denen kommen diese Manieren eher seltsam vor. Weil man meist mehrere solcher Schrullen hat, steht das Wort Mödele ebenso wie „Manieren“ überwiegend in der Mehrzahl.
Die Sektoren Ordnung, Sparsamkeit, Ernährung und Gesundheit sind die bevorzugten Tummelplätze aller möglichen Mödele, wobei sich die Frage stellt, von welchem Punkt an eine Angewohnheit aus dem Bereich des gesellschaftlich Gebilligten in den der belächelten Mödele hinüberdriftet. Am Beispiel des Händewaschens mag sich das verdeutlichen lassen: Vor dem Essen gilt das Händewaschen nicht nur als normal, sondern als geboten. Wenn sich nun aber jemand nach jedem Händedruck, den er mit jemandem gewechselt hat, die Finger wäscht, ist das aus bakteriologischer Sicht vielleicht sinnvoll und im Einzelfall oft gut nachvollziehbar. Doch als fixe Verhaltensweise ist es den Mödele zuzurechnen, weil die anderen es nicht tun.
|47|Das Wort Mödele ist die schwäbische Verkleinerungsform des französischen Lehnwortes Mode. Während dieses im Deutschen nur noch die rasch wechselnden Erscheinungsformen des Zeitgeistes bezeichnet, bedeutet es im Schwäbischen auch noch „Verhaltensweise“ und „Angewohnheit“. „Was isch denn des wieder für a dumme Mode?“, fragt etwa die Mutter, wenn ihr Sprössling Ketchup und Majo über seine Spätzle verteilt.
Lässt die Kombination „dumme Mode“ – die Mehrzahl lautet übrigens „dumme Modene“ – deutlich Missbilligung und Tadel erkennen, so ist das Mödele versöhnlicher. Es erlaubt ohne Weiteres das selbstkritische Eingestehen eigener Mödele, von denen ohnehin keiner frei ist.
Welche Auswirkungen haben Mödele auf das menschliche Miteinander? Es gibt Indizien, dass das Entwickeln von Mödele im Alter in dem Maße zunimmt, wie die Toleranz abnimmt. Für Partnerschaften von der Ehe bis zur Senioren-WG ist es daher ratsam, die jeweiligen Mödele so aufeinander abzustimmen, dass sie mit denen des anderen nicht kollidieren. Sonst wird aus dem an sich harmlosen Mödele ein Mordmotiv.
Es gehört zu den aussterbenden Wörtern des Schwäbischen, das Adjektiv degenmäßig. Es hat nichts mit Hauen und Stechen zu tun, sondern eher mit Zurückstutzen.
„I han em mit ’re Dienschtaufsichtsbeschwerde droht, und nå war er degemäßig!“ Auch wer mit dem Begriff degenmäßig nichts anfangen kann, entnimmt diesem Satz, dass er einen Sieg meldet, der mit der Unterwerfung des anderen vollzogen ist. Dieser andere kann ein Großmaul sein, das nunmehr sehr kleinlaut geworden ist, kann aber auch sonstwer sein, der sich gezwungen sieht, klein beizugeben.
„Stets mit spöttischem Ton gebraucht über einen, der vorher großsprecherisch widerspänstig war, aber durch Gewalt oder sonst zahm geworden ist.“ So erklärt Fischers Schwäbisches Wörterbuch das Wort degenmäßig, dem es im Übrigen bescheinigt, in Württemberg, aber auch nur dort, allgemein verbreitet zu sein. Die Deutung ist umstritten. Zwar ist der zweite Teil klar: -mäßig bedeutet „nach Art des/der“. „Saumäßig“ ist „nach Art der Sau“. Was aber soll mit „nach Art des Degens“ gemeint sein?
Unter einem Degen versteht man noch heute eine Stichwaffe, und das Degenfechten mit der 90 Zentimeter langen Klinge gehört seit 1900 zu den olympischen Disziplinen. Die Degenspitze, früher tödlich, ist längst stumpf – fast möchte man sagen: degenmäßig – gemacht worden. Aber als der Begriff degenmäßig geprägt wurde, war der Degen noch Waffe und kein Sportartikel, weshalb dieser Abstumpfungsvorgang keine Antwort bietet.
Fischer liefert mehrere Erklärungen – zum Teil mit Fragezeichen: „Dem Degen gemäß, dessen Tragen Ruhe und Würde verlangt; oder ironisch: wie einer, der keinen Degen anhat? oder: dem Degen gehorchend?“ Das klingt wenig überzeugend. Kluges Etymologisches |49|Wörterbuch, das degenmäßig als „westoberdeutsch“ kennzeichnet, hält degen- für eine offenbar regionale Weiterbildung von mittelhochdeutsch teig (weich) und vergleicht es mit altnordisch deigr (weich, stumpf, feige“) oder mittelniederdeutsch deg (teigig).
Es gab jedoch noch ein anderes Wort Degen, das „Krieger“ bedeutete und mit der Waffenbezeichnung, die wohl von französisch dague herrührt, nichts zu tun hatte. Der Mundartforscher Josef Karlmann Brechenmacher hat darauf hingewiesen, dass jener Degen, bevor er „Krieger“ wurde, erst einmal für „Knecht“ und noch früher für „Knabe“ stand. Das männliche Kind hieß im Althochdeutschen thegankind.
Brechenmachers Version klingt am plausibelsten. Wer degenmäßig wurde, ist auf das Kleinformat des Buben zurückgestutzt, ist auf seinen unteren Rang in der Hackordnung verwiesen – ein (außer bei Großmäulern) unschöner Vorgang, der das Bedauern über das allmähliche Aussterben dieses Wortes relativieren mag. Allerdings: Auch wenn das Wort verschwindet – der Sachverhalt bleibt uns erhalten.
Ältere Schwaben männlichen Geschlechts, die über ausgeprägte Ecken und Kanten verfügen und damit beständig und überall anecken, nennt man hagebüchen.
Wird von einem Mitmenschen gesagt „Des isch fei a ganz Hagebüchener“, so vermittelt diese Mitteilung ein Bündel unterschiedlicher Botschaften. Die erste lautet: Vorsicht! Der Umgang mit diesem Menschen ist nicht ganz einfach. Doch wäre es falsch, dies als Warnung vor einem Widerling zu begreifen.
Daraus erhellt, dass ein Hagebüchener zwar „oige“, aber „net ôôrecht“ ist. Seine Eigenart besteht in einer Schnörkellosigkeit, die von Menschen aus anderen Kulturkreisen gerne als derb, grob oder saugrob empfunden wird und die der Schwabe als „räs“ bezeichnet. Damit ist aber nur die Außenwirkung des Begriffs hagebüchen abgedeckt. Jene Eigenschaft umfasst zugleich ein hohes Maß an Widerstandsfähigkeit, die aber keinesfalls als Unempfindlichkeit zu deuten ist.
Spricht etwas dagegen, hagebüchen mit „knorrig“ gleichzusetzen? Antwort: Ja, die Baumart. Das Eigenschaftswort „knorrig“ wird gerne auf Eichen angewandt, also auf den Inbegriff des stolzen, großen Symbols der Kraft und der Stärke.
Das Wort hagebüchen hingegen leitet sich direkt von der Hage(n) buch(e) ab, wie die Hain- oder Weißbuche im Schwäbischen heißt. Die Charakteristika jener Baumart, die übrigens nicht zu den Buchen, sondern zu den Birkengewächsen gehört, entspricht den Charakterzügen der Hagebüchenen: Ihr Holz ist das härteste unter den einheimischen Baumarten, sie wird nicht besonders groß, steht daher beständig im Schatten der anderen, woran sie sich aber gewöhnt hat. Und: Sie hält die größten Verstümmelungen aus, ist also unglaublich strapazierfähig.
|51|Geradezu hanebüchen ist der Bedeutungswandel, den das Wort hanebüchen vollzogen hat. Denn das war zunächst identisch mit hagebüchen, so wie die Hanebuche, von der es stammt, eine zusammengezogene Ableitung des alten hagene-buche war. Hanebüchen bedeutete ursprünglich ebenfalls „streng, grob“ und war vor allem im mitteldeutschen Sprachraum verbreitet, wo beispielsweise im Winter mitunter eine „hanebüchene Kälte“ herrschte.
Zurück ins Schwabenland: Auf Frauen, auch wenn sie noch so zäh und strapazierfähig sind, wird das Adjektiv hagebüchen nicht angewandt. Es bleibt Männern vorbehalten, die jedoch alt genug sein müssen, um jene Charaktereigenschaft hinreichend ausgeprägt zu haben.
Dieser Umstand führt gelegentlich zu Verwechslungen mit dem Hagestolz, mit dem der Hagebüchene über den Hag (Hecke, eingehegtes Grundstück) tatsächlich verwandt ist. Im Übrigen aber ist der Hagestolz ein alter Junggeselle. Sein Familienstand bietet ihm jedoch sattsam Gelegenheit, seine Ecken und Kanten ungehindert zu schärfen. Und das prädestiniert ihn natürlich dazu, sich zu den Hagebüchensten der Hagebüchenen zu entwickeln.
Zwei Wörter können das Klischee vom Schwaben, der dem Ideal der Rastlosigkeit huldigt und den Müßiggang verabscheut, konterkarieren: die Luse und die Ôômueß.
„Des isch dr’ vielleicht a Ôômueß!“ So lautet das Urteil über einen Menschen, der die Ôômueß im Leib hat und ständig eine Ôômueß verursacht. Die Ôômueß ist also ein Femininum, das zum Maskulinum mutieret, wenn ein Mensch von der Ôômueß befallen ist und das Wort auf ihn übergeht. Zwar wird das Grundwort -mueß in Ôômueß gleich ausgesprochen wie das Mus, das im Apfel- und dem Mehlmus steckt. Doch dieses Mus ist ein Neutrum, und daher hat die oder der Unmuß, wie man das Wort korrekt schreiben müsste, nichts mit jenen breiigen Nahrungsmitteln zu tun.
Im Mittelhochdeutschen lautete es noch unmuoze, und die war das Gegenteil der muoze, die auf Neuhochdeutsch Muße lautet und nach wie vor „Ruhe, freie Zeit, Untätigkeit“ bedeutet. Diese Muße hat mit den Musen, den griechischen Göttinnen der Kunst und Wissenschaften, nichts zu tun. Vielmehr ist sie verwandt mit müssen, dem in Urzeiten einmal der Sinn von „die Möglichkeit haben“ anhaftete.
Jedenfalls ist Unmuß bzw. Ôômueß das Gegenteil der Muße und bedeutet daher „Unruhe“. Und wie die Beispiele gezeigt haben, ist dieser Begriff bei den Schwaben keineswegs positiv besetzt. Das heißt nun aber nicht, dass Schwaben, welche die Ôômueß ablehnen, zur Fraktion der Müßiggänger gehörten. Vielmehr orientieren sie ihren Tätigkeitsdrang an den Worten des Predigers Salomo (3.1), der da sagt: „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde.“ Wer also zur unrechten Zeit Betriebsamkeit entfaltet, ist ein Ôomueß und stört nicht nur Salomo, sondern auch die Schwaben.
|53|Daraus folgt umgekehrt, dass auch die Schwaben gelegentlich der Muße frönen, obwohl dieses Wort unüblich ist. An seiner Stelle wird ein Begriff verwendet, der kurioserweise Luse lautet. Ein kleiner Unterschied zur Muße besteht allerdings schon: Der Begriff Luse kann auch ein „Zuviel“ andeuten, also „zu viel Freizeit“. Daher sind es meistens die anderen, die Luse haben. In Verbindung mit der 1. Person Singular aber steht meistens ein „koi“ davor: „Dadrzu han i jetzt koi Luse!“
Woher stammt dieses rätselhafte Wort? Vom lateinischen „lusus“ (Zeitvertreib)? Fischers Schwäbisches Wörterbuch setzt dazu lediglich ein Fragezeichen, doch zeigt die dort ebenfalls registrierte Form Lusem (das -e- geht in Richtung -a-) eine auffallende Ähnlichkeit zu dem mittelhochdeutschen Wort lussam. Das ist die zusammengezogene Form des Eigenschaftswortes lustsam und bedeutet „Anmut, Schönheit“. Der Bedeutungswandel zu Muße wäre allerdings schon gewaltig, was erklären mag, dass Fischer sich mit einem Fragezeichen begnügt hat.
Aber vielleicht wird einer seiner Nachfolger dereinst diese Frage lösen. Der sollte sich die Luse nehmen, auf den Kuss der dafür zuständigen Muse Kalliope zu warten.