|131|Zur Folklore gehören neben Liedern und Klischees auch Typen, Sagengestalten und Ausdrucksweisen – bis hin zur Dativbildung.
Es gibt verschämte Schwaben, es gibt bekennende Schwaben und bayerische Schwaben. Aber kaum einer von ihnen wird sagen können, was Schwabe bedeutet.
Die Franken müssen nicht lange nach Erklärungen für ihre Sammelbezeichnung suchen: Sie wurzelt mit hoher Wahrscheinlichkeit im Eigenschaftswort „frank“, das „mutig“ bedeutete. Aber was ist mit den Schwaben?
Natürlich werden Böswillige sofort behaupten, dass dieser Stammesname zurückgehe auf das gleichnamige Insekt, das offiziell „Küchenschabe“ (Periplaneta orientalis) heißt. Zumindest in diesem Punkt hilft Kluges Etymologisches Lexikon weiter. Es stellt fest, dass die Küchenschabe in allen möglichen Ländern mit Namen anderer Völker bezeichnet wird, in Russland etwa als „prusak“ (Preuße) oder in Polen als „francuz“ (Franzose).
Man wird also annehmen dürfen, dass nicht die Schwaben nach den Kakerlaken benannt sind, sondern umgekehrt – wobei noch anzumerken wäre, dass der Vergleich so abwegig gar nicht wäre. Schließlich ist die Küchenschabe das bislang erfolgreichste Lebewesen der Erdgeschichte. Doch was Schwabe eigentlich bedeutet, erklärt Kluge nicht.
Es liegt nahe, im Schwäbischen Wörterbuch nachzuschlagen, das dem Begriff Schwabe und seinen Ableitungen immerhin fünf Spalten einräumt. Zur Herkunft des Wortes hingegen steht dort nur, dass es mit dem lateinischen Suebus identisch, die Herkunft jedoch unsicher sei.
Das Wörterbuch der Brüder Grimm bestätigt dies. Trotzdem liefert es einige Erklärungsversuche, etwa den von Jakob Grimm. Der vermutete einen Zusammenhang zwischen Schwabe und dem altnordischen sofa, das zwar nichts mit dem schwäbischen Schässlo |133|zu tun hat, aber dennoch „schlafen“ bedeutete. Die Konsequenz, dass Schwabe demnach für eine „Schlafmütze“ stehe, hat er allerdings abgemildert in „Friedensbringer“. An anderer Stelle wiederum schreibt Grimm, der Name Sueven sei slawisch, bezeichne – ebenso wie „Slawen“ – einen Freien und sei den Schwaben von ihren östlichen, slawischen Nachbarn zugedacht worden.
Die neueste Deutung, die von Experten als durchaus plausibel erachtet wird, gibt Dieter Berger in dem von ihm verfassten Duden-Taschenbuch „Geographische Namen in Deutschland“ wieder. Der Volksname, der auf Althochdeutsch Swaba lautete, gehe zurück auf Germanisch sweba und weiter auf Indogermanisch suebho-, eine Erweiterung von sue-, das auch im Lateinischen suus/sua (sein/ihr) stecke. Dieses suebho- stehe für „frei, zum eigenen Volk gehörend“, was im Übrigen ganz gut zur Bildung anderer deutscher Stammesnamen passt. So bedeutet auch „deutsch“ – von althochdeutsch „diot“ = Volk – so viel wie „zum Volk gehörig“.
Dass bei den Schwaben noch ein „eigen“ hinzukommt, leuchtet ebenfalls ein. Schließlich wird niemand bestreiten wollen, dass Schwaben manchmal sehr eigen sein können.
Schwaben sehen sich beständig dem Vorwurf ausgesetzt, sie könnten keinen Genitiv bilden. Das stimmt zwar nicht, aber der Dativ ist ihnen in der Tat lieber.
„’s Nachbers Hund hat ’s Maiers Katz verschüttlet.“ Dieser Satz enthält zwei Genitive und beweist, dass die Schwaben des Wes-Falles sehr wohl mächtig sind. Doch zugegebenermaßen bevorzugen sie in zunehmendem Maße die Umschreibung mit dem Dativ (Wem-Fall), und die lautet em Nachber sei Hund. Das gibt Anlass zu zwei Fragen: 1. Warum ist das so? 2. Ist das falsch?
Festzustellen ist zunächst, dass fast sämtliche Mundarten seit dem 15. Jahrhundert den Genitiv weitgehend aufgegeben haben, wie schon Adolf Bach in seiner „Geschichte der deutschen Sprache“ feststellt. Der Grund dafür wird kaum mehr festzustellen sein. Er könnte eventuell darin liegen, dass em Nachber sei Hund zwar länger, aber vielleicht bequemer auszusprechen ist als ’s Nachbers Hund. Es ist aber auch noch ein ganz anderer Grund denkbar: erhöhte Präzision – und damit das genaue Gegenteil von Schludrigkeit, die den Schwaben in diesem Fall gerne vorgeworfen wird.
Und so muss die Frage lauten: Ist die Umschreibung mit dem Dativ falsch? Antwort: Was falsch ist und was richtig, ist eine Frage der Konvention. In jedem Falle aber wird man sagen können, dass die Umschreibung mit dem sein durchaus plausibel ist. Denn es geht beim Genitiv um Herkunft und damit auch um Zugehörigkeit. Das Verbum gehören aber regiert den Dativ: Wem gehört der Hund? Dem Nachbarn. Es ist sein Hund, also dem Nachbarn sein Hund.
Man kann es auch anders herleiten: Bei „mein Hund“ und „dein Hund“ steht der Besitzer fest. Nicht aber bei „sein Hund“. Also muss |135|man nachfragen. Nach wem muss man fragen? Nach dem Besitzer: Wem sein Hund ist das? Dem Nachbarn sein Hund.
Warum soll, wie oben behauptet, diese Dativ-Konstruktion präziser sein? Das zeigt sich, wenn man Nachbars Hund und dem Nachbarn sein Hund dekliniert und das Ergebnis vergleicht. Nachbars Hund bleibt im Nominativ, Dativ und Akkusativ immer gleich: Wer ist das? Nachbars Hund. Wem gehört der Knochen? Nachbars Hund. Wen hat Katzenbesitzerin Maier vergiftet? Nachbars Hund.
Ganz anders hingegen ist es im Fall von dem Nachbarn sein Hund respektive schwäbisch em Nachber sei Hund: Des isch em Nachber sei Hund. Der Knoche g’hört em Nachber seim Hund. D’ Maiere hat em Nachber sein Hund vergiftet.
Im Genitiv wird es noch krasser: Nachbars Hunds Knochen ist zwar theoretisch möglich, aber praktisch indiskutabel. Deswegen wird auch der entschiedenste Befürworter des Genitivs einen doppelten solchen vermeiden und zum Dativ greifen: der Knochen von (wem?) Nachbars Hund.
Der Schwabe hingegen kann sich entspannt zurücklehnen und konsequent dativisch formulieren: Em Nachber seim Hund sei Knoche.
Ohne die Kehrwoche wäre der schwäbische Mehrparteienhausfrieden ständig in Gefahr. Ist es möglich, dass der Rest der Republik ohne Kehrwoche auskommt?
Bis mindestens 2005 suchte man im normalen Duden das Wort Kehrwoche ebenso vergebens wie in den anderen handelsüblichen Wörterbüchern. Man musste schon zu Dudens dickem Deutschen Universalwörterbuch oder dem achtbändigen Großen Wörterbuch der deutschen Sprache greifen, um darin die Kehrwoche zu finden, die als „süddeutsch, besonders schwäbisch“ ausgewiesen und definiert war als „Woche, in der eine Mietpartei verpflichtet ist, die Treppe (den Bürgersteig) o.ä. zu reinigen“.
Fast alle schwäbischen Wörter, die bis 1936 geprägt waren, stehen im Schwäbischen Wörterbuch. Umso erstaunlicher ist, dass auch dieses keine Kehrwoche kennt, sondern lediglich einen Kehrtag. Aber der ist nicht etwa das Siebentel einer Kehrwoche, sondern die Kurzform von „Pauli Bekehrung“, die am 25. Januar gefeiert wird. Von den Mundartlexika nennt allein das Badische Wörterbuch die Kehrwoche.
Wir stehen also vor dem Phänomen, dass die Nachschlagewerke ein Wort ignorieren, das, wie Kehrwochen-Schilder aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert beweisen, schon damals zumindest in Mietshäusern flächendeckend verbreitet war und das heute geradezu Kultstatus besitzt: Wer im Internet unter Kehrwoche sucht, findet Tausende von Hinweisen auf Beiträge, von denen viele die Kehrwoche und den damit verbundenen Psychoterror als eine Hauptkonstituante der schwäbischen Mentalität beschreiben.
Das wirft die Frage auf: Bleiben anderswo in der Republik Treppenhäuser und Bürgersteige ungekehrt? Natürlich nicht. Das beweist |137|ein Blick in die deutsche Hausordnungs-Literatur, die überall – wenn auch unter Vermeidung des Wortes Kehrwoche – deren Pflichten auf die Mietparteien verteilt.
Was also ist an der Kehrwoche spezifisch schwäbisch? Nichts, wie der Umstand zeigt, dass das Wort in Bayerisch-Schwaben unbekannt ist. Tatsächlich wird sie oft aus der Verordnungswut der württembergischen Obrigkeit erklärt, die den Bürgern auch das wöchentliche Gehweg-Kehren auferlegte, das auf dem Land heute noch zu beobachten ist. Doch das hat mit der Kehrwoche nichts zu tun, denn dieser Begriff impliziert einen wöchentlichen Wechsel der Kehrpflicht und der macht nur Sinn in Mietshäusern, also in einem städtischen Milieu.
Wenn die Kehrwoche also als typisch württembergisches Phänomen gilt, kann dies im Grunde nur am landesspezifischen Perfektionismus liegen, der auch das Reinigen der verborgensten Details des Treppengeländers fordert. Das sadistische Pochen auf peinlich genaue Erfüllung des Putzkatalogs ist jedoch keineswegs stammesspezifisch. Denn Tatsache ist, dass spitze Hinweise auf mangelhafte Ausführung der Kehrwoche nicht selten in einem von schwäbischen Lauten freien Hochdeutsch ertönen.
Auch unter den Schwaben gibt es lokale Gruppen, die sich durch besondere Charakteristika auszeichnen. Die wohl bekanntesten sind die Tübinger Gogen.
Anrede in einer Tübinger Wahlversammlung: „Meine sehr geehrten Herren Weingärtner!“ – Ein Gog: „Des kennt mr, heut se-mr die Herren Weingärtner ond morge noh wieder d’ Sauraupe.“
Das ist ein Gogenwitz, dem Landfremde drei Informationen entnehmen können: 1. Goge sind Tübinger Weingärtner. 2. (Sau-)Raup ist eine andere Bezeichnung für Gog. 3. Gogen bzw. Raupen lassen sich nichts vormachen und teilen dies auf sehr direkte Weise mit.
Warum aber heißen die Tübinger Weingärtner Gogen respektive Raupen? Darüber haben sich schon die hervorragendsten Schwabenforscher die Köpfe zerbrochen, aber niemand hat bisher den Anspruch erhoben, die wahre und einzig richtige Antwort gefunden zu haben.
Fischer weist im Schwäbischen Wörterbuch darauf hin, dass man die Bezeichnung Raup auch von den Tübinger Weingärntern selbst höre. Hingegen komme Gog – er schreibt Gag – nur „in gebildetem, besonders studentischem Munde“ vor. Damit ist das Spannungsfeld zwischen den Intellektuellen in der Tübinger Oberstadt und den Eingeborenen in der Unterstadt, der Gogerei, angesprochen, aus dem die Gogen-Witze ihre Würze beziehen.
Bei dem Wort Raup liegt es nahe, an das Ungeziefer zu denken, das auch den Weingärtnern zu schaffen macht. Dagegen spricht jedoch, dass Raup ein Schimpfwort ist – laut Fischer ein „ungeschliffener Mensch“ –, das nicht nur auf Tübinger Weingärtner angewendet wird. Man findet es auch im Bayerischen Wörterbuch mit den Entsprechungen Esel, Taugenichts, Plebejer. Als ursprüngliche |139|Bedeutung von Raup ist hier wie im Schwäbischen Wörterbuch das junge Rind angegeben.
Der Begriff Gog eröffnet ein wesentlich weiteres Feld möglicher Interpretationen, wovon die verbreitetste sich auf die in der Apokalypse genannten Satans-Völker Gog und Magog bezieht. Aber so schlimm sind die Gogen auch wieder nicht. Es gibt Vermutungen, der „Gauch“ (Kuckuck) stecke dahinter oder ein „Georg“ oder das Quaken der Frösche, das in der Gegend von Tübingen „gagen“ (mit offenem o) heiße.
Lässt man die Bedeutung einmal außer Acht, hält der Mundartforscher Arno Ruoff eine Entstehung im studentischen Milieu für naheliegend. Wegen des offenen „Oberländer-o“ denkt er an katholische Studentenkreise, „die stets in besonderem Gegensatz zur rein protestantischen Urbevölkerung standen“.
Die reizvollste aller Erklärungen, die zudem einer der wichtigsten Tätigkeiten der Gogen gerecht wird, findet sich ebenfalls bei Ruoff: Als der deutsche Wortschatz erweitert wurde um die Begriffe Pädagog und Demagog, in denen das altgriechische Verb ago (ich führe) steckt, sei wohl jemand auf die Idee gekommen, den Mistbrüh führenden Weingärter als Mistagog zu bezeichnen.
In manchen Gegenden Schwabens hat sich ein merkwürdiges Wort erhalten. Es lautet Maukenescht und geht zurück auf die Mauke, die mancherorts Mauchet heißt.
Im Cannstatter Stadtteil Hallschlag gibt es einen Abenteuerspielplatz namens Mauganescht, und in manchen Städten des Landes finden sich auch Restaurants, die sich so schreiben – oder so ähnlich. Denn die Schreibweise dieses Wortes ist so uneinheitlich wie die Definitionen, die man dazu findet.
Da man es mit der schwäbischen Schreibweise so oder so halten kann und in beiden Fällen meistens danebenliegt, sei hier der Einfachheit halber die schriftdeutsche Version Maukennest gewählt, auch wenn es dieses Wort in der Schriftsprache nicht gibt. Man sucht es vergebens in den Konversationslexika; fündig wird man hingegen bei der Mauke. Allerdings werden dort nur die Bedeutungen „Tierkrankheit“ (Fußgrind beim Pferd) und „Pflanzenkrankheit“ (Grind der Weinrebe) referiert.
Das hat aber alles nichts zu tun mit der schwäbischen Mauke. Die hat einen interessanten Bedeutungswandel vollzogen, seit Fischer in seinem Schwäbischen Wörterbuch angegeben hat: „Mauke: (besonders von Kindern) heimlich angesammelter Vorrat von Obst, Nüssen und dergleichen.“ Dieselbe Bedeutung weist Fischer dem Maukennest zu, und auch in anderen Nachschlagewerken besteht kein Unterschied zwischen der Mauke und dem Maukennest. Heute rücken beide Wörter in die Nähe des Gruschts: „Des wundert mi überhaupt net, wenn du in deiner Mauke nix meh findesch!“
Wie kann ein Obstversteck zum Chaos mutieren? Das lässt sich nachvollziehen in Gerhard Widmanns Vokabelsammlung „Schwäbisch von Blatt“, wo zu Mauchet, Mauge, Mauganestle, Mauget erklärt |141|wird: „heimlicher/versteckter Vorrat, z.B. Bonbons, aber auch ‚Raritäten‘ von relativem Wert, auch: großes Durcheinander, Unordnung.“ Das zeigt: Es geht nicht primär ums Obst, das die Kinder von heute durch Kaugummi und Gummibärchen ersetzt haben, sondern ums Versteck, in dem sich alles Mögliche anhäufen kann, das seinem Inhaber ans Herz gewachsen ist.
Zu diesem Schluss führt auch die Analyse des Wortes. Zu ihm gehört das Verbum maukle (etwas heimlich tun), das schriftdeutsch maugeln heißt und mit mogeln und meucheln verwandt ist. Es hängt zusammen mit mittelhochdeutsch muchen (verstecken, verbergen) und althochdeutsch muhhen (heimlich lauern). Der Pädagoge und Mundartforscher Josef Karlmann Brechenmacher hat das Wort und seine Verwandten sogar zurückverfolgt bis nach Mykene, in dem das altgriechische Wort mychoí steckt, das „im Winkel“ heißt – in diesem Falle im Winkel von Argos.
Dort stieß übrigens der Archäologe Heinrich Schliemann 1876 auf ein antikes Maukennest. Es ist in die Geschichte eingegangen als „Schatz des Agamemnon“.
Eines der berühmtesten schwäbischen Lieder ist das von der schwäbischen Eisenbahn, das in den Liederbüchern „Auf de schwäb’sche Eisebahne“ heißt.
Fragt man den gemeinen Schwaben nach dem Anfang jenes Liedes, wird er spontan antworten: „Auf dr schwäb’sche Eisebahne“. Aber in der Literatur und auf den Postkarten steht „Auf de schwäb’sche Eisebahne“, als würde ein Norddeutscher erfolglos versuchen, das schwäbische dr herauszubringen.
Allerdings ist einzuräumen, dass auch „auf dr Eisebahne“ merkwürdig, da grammatisch unsinnig ist, denn der Schwabe sagt nicht „auf dr Bahne“, sondern „auf dr Bah“. Also muss es heißen „auf dr Eisebah“. Und deswegen erhebt der Dichter dieses Liedes an dessen Ende völlig zu Recht sein Glas „aufs Wohl dr schwäb’sche Eisebah“ und nicht etwa Eisebahne – wobei es zugegebenermaßen in korrektem Schwäbisch „auf dr Eisebah ihr Wohl“ oder mindestens „aufs Wohl von dr Eisebah“ heißen müsste. Aber das würde nicht ins Versmaß passen, weshalb die Schwaben in diesem Fall den Genitiv akzeptieren, mit dem sie im Übrigen eher sparsam umgehen.
Dem Versmaß zuliebe schluckt auch der schwäbische Musenfreund alle möglichen Ungereimtheiten, und das wird wohl der Grund sein, warum dieses merkwürdige „Auf de schwäb’sche Eisebahne“ nicht hinterfragt wird. A propos Ungereimtheit: Sprachpuristen mögen die Nase darüber rümpfen, dass zu „-bahne“ das Wort „fahre“ passen soll. Aber hätte der unbekannte Dichter „fahne“ statt „fahre“ eingefügt, hätte sich das zwar gereimt, jedoch keinen rechten Sinn ergeben.
Zurück zum Liedanfang: Ist die Form „schwäb’sche Eisebahne“ nun eine der Metrik geschuldete dichterische Freiheit? Oder handelt |143|es sich hier um eine Mehrzahl, also um „die schwäbischen Eisenbahnen“, und wenn ja, warum?
Vielleicht liegt des Rätsels Lösung in der Geschichte des Liedes, dessen Ursprung unbekannt ist. Es kann erst entstanden sein, als eine Bahnlinie Stuttgart, Ulm, Biberach, Durlesbach und Meckenbeuren (und nicht umgekehrt, wie der Reim es verlangt) miteinander verbunden hat, also nicht vor 1850. Damals wurde die 104 Kilometer lange „Südbahn“ eröffnet. So hieß der südliche Teil der „Württembergischen Hauptbahn“, die auch als „schwäbische Eisenbahn“ bezeichnet wurde und wird – aber eben in der Einzahl!
Die Mehrzahl „Eisenbahnen“ jedoch finden wir im Namen der Behörde, welche diese Strecke bauen ließ. Das war – pardon: waren – die Königlich Württembergischen Staats-Eisenbahnen (Mehrzahl!), gegründet 1843. Hat der anonyme Dichter des respektlosen Liedtextes diesen respektablen Behördennamen verballhornt zu „de schwäb’sche Eisebahne“?
Er kann uns diese Frage nicht mehr beantworten – und ebenso wenig eine andere, die nicht minder wichtig ist: Muss es im Refrain richtig „rullala“ oder „trullala“ heißen?
Das bekannteste, den Schwaben zugeschriebene Lied hört man öfter an der Waterkant als im Schwäbischen. Und Elvis Presley hat ihm zu Weltruhm verholfen.
„Old Bavarian folksong“ lautet eine Erklärung zum Lied Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus. So unumstößlich für den Amerikaner feststeht, dass deutsche Folklore per se bayerisch ist, so klar erkennt der Deutsche an dem -le des ersten Hauptworts, dass es sich um ein schwäbisches Lied handelt.
Spätestens seit Elvis Presley 1960 im Film „G.I. Blues“ Muss i denn angestimmt hat, ist es unter dem Titel „Wooden Heart“ zum bislang einzigen schwäbischen Welthit avanciert. Jawohl: schwäbisch! Denn der King of Rock ’n’ Roll, dessen Grab bei Memphis, Tennessee, heute zu den wichtigsten Pilgerstätten der USA gehört, nimmt darin neben vielen englischen auch zwei schwäbische Wörter in den Mund, nämlich „i“ und „Städtele“. Immerhin schaffte es dieses Stück im Januar 1961 auf Platz 2 der deutschen Hitparade – hinter „Ramona“ von den Blue Diamonds.
Es war der Komponist Bert Kaempfert, der Muss i denn für Elvis bearbeitete. Im Zweiten Weltkrieg hatte Kaempfert im Marine-Musikkorps gespielt, wo er zwangsläufig mit diesem Abschiedslied in enge Beziehung geraten sein muss. Denn dessen Intonieren beim Ablegen eines Schiffes gehört zu den festen Ritualen in der deutschen Seefahrt.
Vor Presley hatten bereits die Comedian Harmonists Muss i denn interpretiert. Nach ihm tat es sein Landmann Gus Backus, wobei die B-Seite jener Platte („Da sprach der alte Häuptling der Indianer“) mehr Erfolg hatte. Backus sang sein Muss i denn auch in dem Streifen „Und du mein Schatz bleibst hier“, worin übrigens Udo Jürgens 1961 |145|sein Filmdebüt feierte. Als weitere Muss-i-denn-Interpreten folgten Nana Mouskouri, Peter Alexander, Freddy Quinn und Helmut Lotti.
Wem verdanken wir dieses Lied? „Schwäbisch aus dem Remsthal“ heißt es in der Sammlung „Deutscher Liederhort“, worin die Melodie als „lebendig, treuherzig, zuthulich“ klassifiziert ist. Zuerst gedruckt wurde es um 1827 in Friedrich Silchers „XII Volkslieder für Männerstimmen“. Darin folgen der originalen ersten Strophe zwei neue, die 1824 ein gewisser Heinrich Wagner hinzugedichtet hat.
Allerdings weist der „Liederhort“ noch auf eine ältere Form hin, die aus dem Odenwald stammt und Muss ich denn, muss ich denn zum Dörflein hinaus lautet. Dessen zweite Strophe ist bei weitem nicht so zartfühlend wie die Worte jenes Heinrich Wagner. Sie beginnt: „Kein Bauernmädchen mag ich nicht, Schau mich nur keine an!“
Diese ältere Version wirft die Frage auf: Ist Muss i denn nun eigentlich schwäbisch oder nicht? Zunächst vielleicht nicht. Aber nachdem Heinrich Wagner dem Städtele weitere Suebismen wie Mädele, Träuble und Schätzele zur Seite gestellt hat, ist die Zugehörigkeit jenes Stückes zum schwäbischen Liedgut für alle Zeiten zementiert.
Das Eigenartige am Schwäbischen Gruß ist, dass ihn jeder unter dieser Bezeichnung kennt, dass aber niemand genau weiß, seit wann und warum er so heißt.
Leck me am Arsch! Was eigentlich – außer dem me – soll an dieser Formel schwäbisch sein? Hieße es Leck me am Fiedle, läge der Fall klarer, weil dieses in der spezifisch schwäbischen Anatomie anzusiedeln ist. Doch schon mit dem Verbum lecken entstünde das nächste Problem. Denn an seiner Statt benutzen die Schwaben normalerweise schlecken. Das bestätigt das Schwäbische Wörterbuch – mit dem Hinweis auf die Ausnahme, dass es stets „im (am) Arsch lecken“ heiße.
Daraus ist zu schließen, dass die Schwaben diese Aufforderung nicht erfunden, sondern übernommen haben. Tatsächlich hat schon Luther, der nicht zu den Schwaben zählt, den Satz formuliert: „Wenn man aber nun den Teufel kennt, so kann man leichtlich zu ihm sagen: Leck mich im Arsch.“
Zu größerem literarischem Ruhm hat es der Schwäbische Gruß in Goethes Götz von Berlichingen gebracht, wobei sich der Dichterfürst aus der 1731 erschienenen „Lebensbeschreibung Herrn Götzens von Berlichingen“ bedient hatte. Es ist anzunehmen, dass die Bezeichnung Schwäbischer Gruß auf Götz von Berlichingen Bezug nimmt. Doch der war kein Schwabe, sondern Franke.
Warum also Schwäbischer Gruß? Enzyklopädien und Konversationslexika helfen nicht weiter; sie verbinden mit Schwäbisch alles Mögliche, von der Schwäbischen Alb über die Schwäbische Dichterschule bis zur Schwäbischen Türkei, aber keinen Schwäbischen Gruß.
Nicht einmal Fischers Schwäbisches Wörterbuch kennt ihn. Unter dem Stichwort Gruß findet man nur den englischen (Ave Maria).
|147|Andere Wörterbücher führen neben dem englischen Gruß (der nichts zu tun hat mit einem britischen Gruß) noch den deutschen Gruß an, der in den Dreißiger- und Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts eine Zeit lang in Mode war. Doch der Schwäbische, der sich ungebrochener Beliebtheit erfreut, fehlt auch hier.
Nur das „Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten“ erwähnt ihn als Ausdruck des Staunens und der Verwunderung, etwa unter Bekannten, die sich lange nicht gesehen haben: „Jetzt l. m. i. A. – wo kommst du her?“ Das aber bedeutet, dass das Wesen des Schwäbischen Grußes nicht im Vokabular steckt, sondern im situativen Gebrauch: Die Schwaben sind anscheinend die Einzigen, die ihrer freudigen Überraschung auf diese Weise Ausdruck verleihen.
Eine andere Frage ist: Kann der Begriff schwäbischer Gruß nicht auch eine unverfängliche landsmannschaftliche Begrüßung bezeichnen? Antwort: Das hängt vom bestimmten oder unbestimmten Artikel ab. Der Schwäbische Gruß ist das Götz-Zitat, nicht aber ein schwäbischer Gruß oder schwäbischer Gruß ohne der oder ein.
In diesem Sinne: Mit schwäbischen Grüßen!