Kapitel 20

S ie bewegten sich eilig durch den mit Reichtümern gefüllten Raum. Skharr ertappte sich dabei, wie er überlegte, ein paar der Edelsteine oder Münzen mitzunehmen, ohne dass Tryam es bemerkte. Er wusste, dass dies das Werk von Magie war. In der Vergangenheit hatte er zu viele Situationen, in denen er nicht so empfunden hatte, erlebt. Es war kein Teil von ihm. Es war eine äußere Stimme, die ihm sagte, dass er es wollte.

Trotzdem fühlte sich jeder Schritt wie eine Prüfung an und jedes Mal, wenn der kühle Glanz des Goldes seinen Blick fing, zuckten seine Finger und das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Dennoch bestärkte er seine Entschlossenheit und überwand dieses Verlangen sowie die unnatürliche Angst vor dem, was ihn außerhalb des Verlieses erwartete, wenn er nichts von dem Schatz mitnehmen würde.

Tryam starrte ebenfalls sehnsüchtig die Berge von Reichtum an und sein Gesichtsausdruck spiegelte perfekt die Gefühle des Barbaren wider. Dies bestätigte den Gedanken, dass es sich um den Einfluss einer äußeren Kraft handelte.

Als sie die Tür erreichten, fühlte er sich, als wäre er tagelang gelaufen. Nachdem er die Tür hinter ihnen geschlossen, tief eingeatmet und den Schweiß auf seiner Haut gekonnt ignoriert hatte, musterte er den Weg, der vor ihnen lag.

Etwas bewegte sich auf der anderen Seite des Walls und versiegelte ihn. Es würde kein Zurück mehr geben.

»Geht es Euch gut?«, fragte er, als der Junge sich zittrig an die Wand lehnte.

»Ich … ich glaube schon.«

»Ihr wart versucht, Schätze mitzunehmen, oder?«

Das Gesicht des Prinzen wurde blass und er nickte.

»Ich war es ebenfalls. Eine Stimme in meinem Kopf versuchte, mir zu sagen, wie ich eine Handvoll Münzen und Edelsteine hinausschmuggeln kann, wenn Ihr nicht hinseht. Es war … es war anstrengend.«

Das Lachen seines Begleiters war unregelmäßig und zitterte leicht, als er sich in die Hocke setzte. »Ich weiß, es sollte mir dadurch nicht besser gehen, aber es fühlt sich gut an, dass Ihr dasselbe erlebt habt. Es ist schrecklich, dass ich mich so fühle und das weiß ich, aber…«

»Es ist nicht schrecklich«, sagte Skharr, als seine Stimme abflaute. »Es war anstrengend. Beruhigt Euch, esst und trinkt etwas. Sammelt Eure innere Kraft. Ich habe das Gefühl, dass die nächsten Prüfungen hier wesentlich anstrengender als der Kampf gegen sich selbst sein werden.«

Tryam blickte nicht zu ihm, sondern durchwühlte seine Beutel und holte ein paar Streifen getrocknetes Fleisch und seinen Trinkschlauch heraus. Der Barbar beschloss, das Gleiche zu tun. Er zog eine Grimasse, da seine Hände zitterten, als er etwas Wegbrot aus seinem Rucksack nahm und vorsichtig hineinbiss. So erschöpft hatte er sich seit seiner Vergiftung nicht mehr gefühlt, aber während er das Brot aß, kam wenigstens etwas Kraft in seine Muskeln zurück. Es war nicht so viel, wie er sich erhofft hatte, doch hatte er dies erwartet.

»Fühlt Ihr Euch besser?«, fragte er, als er den Wasserschlauch nach ein paar Schlucken der kostbaren Flüssigkeit wieder zurücklegte.

Der junge Prinz musterte ihn mit seinen kalten blauen Augen, bevor er sie schloss. »Ein wenig, ja. Zwar habe ich mir mehr erhofft, aber ich habe noch etwas Kraft in mir. Mir wäre es allerdings lieber, wenn wir diese Zeit effektiv nutzen würden. Es sieht nicht so aus, als ob wir uns hier über irgendetwas Sorgen machen müssten. Meint Ihr, wir sollten uns ausruhen? Vielleicht sollten wir sogar eine kurze Zeit schlafen?«

Der Gedanke war verlockend und Skharr zog es ernsthaft in Erwägung, bis er sich an das letzte Mal, als er in einem Verlies eine Pause eingelegt hatte, erinnerte.

»Es ist besser, wenn wir das nicht tun«, flüsterte er und schüttelte entschlossen den Kopf. »Man weiß nie, was uns angreifen könnte, wenn wir an solchen gottverdammten, höllischen Orten schlafen. Wir werden dieses Verlies bestreiten, Eure Beute finden und im Handumdrehen wieder draußen sein.«

»Es gibt also keine Zeit zum Ausruhen?«

»Wir sollten nicht trödeln, wenn uns Monster im Schlaf angreifen könnten. Wir wissen schon längst, dass sie unseren Verstand beeinflussen können. Es ist das Beste für uns beide, wach zu bleiben und stets zu wissen, was der andere gerade tut, oder?«

»Und was genau soll ich tun, wenn Ihr tollwütig werdet und versucht, mich zu töten?«, fragte Tryam.

Der Barbar zuckte mit den Schultern. »Stecht mir eine Klinge in den Bauch, dreht sie und zieht sie heraus. Hoffentlich trefft Ihr hoch genug, damit ich schnell verblute. Genau hier gibt es eine Stelle…« Er deutete auf eine Stelle in der Nähe seines Brustkorbs. »Eine Wunde dort wird mich schnell verbluten lassen.«

»Ich dürfte Euch tatsächlich töten?«

Ein weiteres Achselzucken folgte auf diese Frage. »Falls ich verrückt werde und noch ein bisschen Kontrolle behalte, werde ich versuchen, Euch zu helfen. Aber vielleicht kann ich weder mir noch Euch helfen. Meint Ihr, Ihr könntet mich töten, wenn ich Euch angreifen würde?«

»Das bezweifle ich.« Er sah den Krieger genau an. »Aber ich würde es versuchen müssen. Ich würde wissen, dass Ihr nicht Ihr selbst seid und da ich Eure … sagen wir mal, Erlaubnis habe, würde ich nicht zögern.«

Skharr lächelte und nickte. »Gut. Sehr gut. Das gefällt mir.«

»Euch gefällt es, dass ich Euch töten würde?«

»Rücksichtslosigkeit gefällt mir. Sie hat etwas Endgültiges an sich. Diejenigen, die von meinem Kampfgeschick wissen, würden mich nur dann angreifen, wenn sie bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen und wissen, dass ich dasselbe tue.«

Der Prinz nickte. »Gnade ist eine Tugend.«

»Rücksichtslosigkeit schließt Gnade nicht aus. Wenn Gewalt erforderlich ist, darf man nicht zögern. Ein Moment des Zögerns wird der Unterschied zwischen meinem Tod und Eurem Platz auf dem kaiserlichen Thron oder natürlich Eurem Tod sein. Dann werde ich für den Rest meines Lebens von Schuldgefühlen geplagt, während das Reich unter der Herrschaft Eures Bruders zerfällt. Was davon ist gnädiger?«

Tryam dachte nach und schien verwirrt, als er über die Frage nachdachte.

»Antwortet nicht«, sagte Skharr schnell. »Denkt darüber nach. Findet heraus, wozu Ihr bereit seid, wenn Ihr Euch auf einem Thron wiederfindet und Entscheidungen treffen müsst, die sich auf Zehntausende von Leben auswirken.«

Der junge Prinz besaß immer noch einen finsteren Gesichtsausdruck, als der Krieger ihm ein Zeichen zum Weitergehen gab.

Die Beleuchtung war in allen Räumen die gleiche. Sie wurden von dem violetten Licht, das sie beim Betreten des Verlieses zum ersten Mal gesehen hatten, verfolgt. Die Gleichmäßigkeit war nervtötend und begleitete sie durch jeden Zentimeter der Festung.

Der nächste Gang war jedoch etwas anders. Die Beleuchtung war irgendwie stärker und schien den Raum mit mehr Licht zu erfüllen. Nach einem Moment wurde Skharr klar, warum.

»Schwert«, flüsterte er barsch, als er sein Schwert zog und vorsichtig in einen der Spiegel, die an den Wänden hingen, blickte. In einem vorherigen Verlies hatte er die Erfahrung gemacht, dass sie nie etwas Gutes und schon gar nicht ihr schlichtes Spiegelbild enthielten.

Tryam sah ihn neugierig an und zog ohne Protest seine Waffe.

»Was?«, fragte der Barbar.

»Ich glaube, das ist das erste Mal, dass Ihr wirklich beängstigt ausseht.«

Ihm wurde klar, dass er sich das letzte Monster, welches er in einem Spiegel gesehen hatte, ins Gedächtnis zurückgerufen hatte.

»Angst ist wichtig«, erwiderte er und versuchte, die Heiserkeit seiner Stimme vor dem Jungen zu verstecken. »Sie erinnert Euch daran, wann man kämpfen und wann man fliehen sollte. Panik ist das wahre Monster, welches Euch um den Verstand bringt. Dann rennt Ihr wie ein Besessener los oder erstarrt auf der Stelle.«

Der Prinz nickte, während sie weitergingen und nach jeglichen Bewegungen in den glitzernden Wänden Ausschau hielten. Sie gingen dicht beieinander. Auf diese Weise war es einfacher, mehr als einen Spiegel zu betrachten. Allerdings war er sich nicht sicher, warum das kalte Gefühl in seinem Magen dadurch nur noch stärker wurde.

Skharr erschrak, als das eigentlich erwartete Geräusch hinter der Glasoberfläche ertönte. Es war ihm vertraut, da er es oft in seinen Träumen hörte. Der schwere Schritt von gepanzerten Stiefeln auf hartem Stein übertönte bald alles, während sie Schritt für Schritt näher kamen.

»Sie sind hier«, flüsterte er, hob seine Waffe an und verzog sein Gesicht, als sich den ersten Schritten, die sich weiter unten im Korridor befanden, weitere anschlossen.

Zwanzig Schritte vor ihnen trat eine schwarze Gestalt aus dem Spiegel. Sie war etwa so groß wie ein Mann, der etwas kleiner als Skharr war und von Kopf bis Fuß in eine komplett schwarze Rüstung gekleidet. Dort, wo sich normalerweise Augen befanden, wurde kein Licht reflektiert. Alles an der Kreatur war verrottet und verdorben, um ein Monster, das sich nur der Gewalt verschrieben hatte, zu schaffen.

»Was ist das?«, fragte Tryam und wich instinktiv ein paar Schritte zurück.

»Ein Schwarzer Ritter. Eine Kreatur, die zur Verteidigung ihres Meisters auferweckt wurde. Es wird noch mehr geben.«

»Noch mehr Schwarze Ritter?«

»Nein, mehr Kreaturen, die zur Verteidigung ihres Meisters auferweckt wurden.«

Der Barbar rückte vor, als weitere Monster auftauchten und die Luft mit dem Gestank von verfaulendem Fleisch verpesteten. Schon bald stand er dem ersten gesichtslosen Feind gegenüber. Der Ritter hielt eine Streitaxt in der Hand und bewegte sich schnell vorwärts, um sie nach ihm zu schwingen.

Er machte einen Schritt zurück und lehnte sich zur Seite, um nicht durch den Schlag geköpft zu werden. Sein Gegner trat noch weiter vor und schlug mit der Waffe nach seinem Bauch, wodurch er gezwungen war, einen weiteren Schritt zurückzugehen. Er wollte sich nicht dem Ritter entgegenstellen, da er wahrscheinlich stärker als er war. Es ergab keinen Sinn, sich mit jemanden anzulegen, wenn ein Sieg kaum möglich war.

Tryam stieß einen Kampfschrei, den Skharr nicht kannte, aus und stürmte den Gang hinunter. Er rannte an dem Ritter vorbei und auf die Untoten, die ihm folgten, zu. Sein Angriff war weniger zögerlich, als der Barbar erwartet hatte. Eine der verrottenden Kreaturen fiel zu Boden, bevor diese überhaupt merkten, dass sie angegriffen wurden. Zwar bewegten sie sich langsam, humpelten und zogen nutzlose Gliedmaßen hinter sich her, aber sie trugen Waffen und begannen, den jungen Mann anzugreifen.

Der Prinz wich zur Seite, parierte einen Speer, der auf seinen Bauch gerichtet war und schwang sein Schwert, um die aggressive Kreatur zu enthaupten.

Nun bedrängten ihn mehrere Kreaturen und zwangen ihn immer mehr zu der Stelle, an der Skharr versuchte, eine Schwachstelle in der Rüstung des Schwarzen Ritters zu finden, zurück.

Die Klinge des Barbaren klirrte bei jedem Schlag, mit dem er an der Axt vorbeikam, gegen die gehärteten Stahlplatten. Hätte er einen Hammer, mit dem er das Metall zertrümmern könnte, dann hätte er die Kreatur darunter verletzen können.

»Bleibt auf Abstand!«, rief er dem Prinzen, der versuchte, zu viele der Untoten allein anzugreifen, zu. Der Junge hörte ihn nicht und stieß ein paar von den Gegnern zurück, ließ aber zu, dass andere ihren Platz einnahmen.

»Fick dich selbst, du stinkender Abschaum. Du Stück halbverrottete Dämonenscheiße.« Skharr zischte und schaffte es gerade noch, einem weiteren Hieb, der ihm beinahe den Kopf abgetrennt hätte, auszuweichen. Sofort lehnte er sich nach vorn, hakte seine Klinge hinter dem Knie des Ritters ein und nutzte seine Schulter, um das Bein auszuhebeln.

Selbst ein solches Monster musste bei diesem Manöver hinfallen. Da es sich nicht vor dem Fall geschützt hatte, fiel es schwer zu Boden. Der Ritter schwang die Axt erneut, aber dieses Mal steckte keine Kraft in dem Hieb und der Krieger trat die Waffe weg. Obwohl er das Monster auf der Stelle töten wollte, brauchte der Junge seine Hilfe.

Er stürmte vor, schlug einem Untoten den Kopf ab und gab einen anderen einen Stoß. Dieser prallte gegen einen Spiegel, welcher zerbrach.

Ein leiser Schrei kam von dem Ritter, als er sich aufrichtete, seine Waffe zog und wutentbrannt zum Angriff überging.

Es kostete Skharr all seine Willenskraft, bis zum letzten Moment zu warten, aber als das Monster nahe genug war, wich er geschickt zur rechten Seite und stellte seinem Gegner ein Bein. Der Ritter stolperte und eine Schmerzwelle schoss das Bein des Barbaren hinauf, als es zur Seite geschleudert wurde.

Der Angreifer stürzte und zerstörte dabei zwei weitere Spiegel um sie herum.

Weitere Schreie folgten und Skharr erkannte plötzlich die Bedeutung von ihnen.

»Zerbrecht die Spiegel, wenn Ihr könnt«, befahl er, denn er war sich sicher, dass das Zerbrechen der Spiegel dem Ritter Schmerzen bereiten würde.

»Ich bin hier ein wenig beschäftigt!«, schnauzte Tryam.

Er schüttelte den Kopf und wollte sich nicht mit dem Jungen streiten, während er den Knauf seines Schwertes in einen weiteren Spiegel rammte. Noch mehr Spiegel zersplitterten, als würde die Kraft, die sie intakt hielt, schwinden.

Der Schwarze Ritter holte zu einem weiteren Angriff aus und der Krieger erinnerte sich fast unterbewusst an sein Training. Er ließ seinen Körper die Bewegung, welche sich unnatürlich elegant anfühlte, leiten, als er sein Schwert drehte und den Knauf in den Kopf seines Feindes rammte.

Zwar war die plötzliche mangelnde Kraft des Ritters spürbar, aber die Verzweiflung der Kreatur verstärkte ihre Wut. Er stürzte sich auf den Barbaren und schwang die Axt wild in einem verzweifelten Versuch, ihn zu töten.

Skharr brüllte rachsüchtig, während die Angst seines Gegners seine Wut anwachsen ließ. Er ließ sein Schwert fallen, hob den Ritter auf, nahm ihm die Waffe ab und schleuderte ihn in eine Gruppe Untoter, die den jungen Prinzen einkreisen wollten.

»Passt auf Eure Umgebung auf!«, schnauzte der Krieger. »Ich werde nicht jedes Mal da sein, um Euch den Rücken zu decken.«

Skharr gab gerne zu, dass der Prinz gut kämpfen konnte, aber es würde nicht gut für ihn ausgehen, wenn er allein kämpfte. Er wusste, wie man gegen einen Mann kämpft, aber nicht gegen mehrere gleichzeitig. Seine gesamte Technik sowie Haltung zeigte, dass er durch die Anweisungen und Regeln, die ihm in kontrollierten Situationen beigebracht worden waren, zurückgehalten wurde.

Er musste sein inneres Biest freilassen und dazu war er einfach noch nicht bereit.

Der Barbar knurrte, hob die Axt auf und hielt das Schwert in der anderen Hand. Während er sich auf die Gruppe untoter Kreaturen stürzte, schwang er beide Waffen. Dabei spaltete sowie schlitze er ihre unbewaffneten, verrottenden Körper, auf, zermalmte ihre Knochen und schaltete sie aus, während er sich seinem ursprünglichen Gegner näherte.

Dies war lediglich ein weiterer Ritter. Er befand sich nicht auf einem Schlachtfeld oder verteidigte irgendeine eine Stadt. Seine Albträume würden nicht wahr werden.

Die Axt bohrte sich in den Hals des Mannes, der nicht einmal seine Hände hob, um sich zu verteidigen.

Das war seine Chance. Skharr stach mit dem Schwert zu und zog die Waffe seitlich unter den Kopf, der dadurch sauber abgetrennt wurde.

Jeder Spiegel im Gang zerbrach. Die noch übrigen untoten Kreaturen sackten in sich zusammen und ihre Leichen wurden vor den Augen der beiden Gefährten zu Staub.

Skharr sah den Prinzen an und warf die Axt zu Boden, als ob das Halten von ihr schmerzhaft für ihn war.

»Danke«, flüsterte Tryam und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er sah krank aus, aber drehte sich nicht um, um seinen Magen zu entleeren.

»Fortschritt«, flüsterte der Barbar, säuberte sein Schwert und steckte es wieder in die Scheide. »Was … was starrt Ihr da an?«

Der Junge starrte auf die zerbrochenen Spiegel oder vielmehr auf die Wände, welche zuvor von den Spiegeln verdeckt worden waren.

»Noch ein Rätsel«, flüsterte der Prinz und ging näher heran. »Die Armen haben mich. Die Reichen brauchen mich. Ich kann jemanden zum Erfolg oder zum Scheitern bringen und dabei unverändert bleiben. Wer bin ich?«

»Ich habe das Gefühl, dies ist ein einseitiges Gespräch, welches mit der Antwort geführt wird«, brummte Skharr. »Was haben die Armen, was die Reichen brauchen? Was bringt uns zum Erfolg oder zum Scheitern und bleibt unverändert?«

»Ich bin mir nicht sicher.« Tryam schüttelte den Kopf und steckte sein Schwert weg, obwohl er ein paar Mal verfehlte. »Da … da ist doch ein Trick dabei.«

»Das ist bei Rätseln immer so.« Er gab ihnen ein Zeichen zum Weitergehen.

Der Gang mündete in einer riesigen Halle, die eine gewölbte Decke besaß. Der freie Raum war schwer anzuschauen, da er auf seltsame Weise verzerrt war und die Details nicht zu erkennen waren. Eine Dunkelheit, die selbst von dem Licht, welches den Rest des Verlieses beleuchtete, nicht durchdrungen werden konnte, verschleierte das hintere Ende der Halle. Jedoch bewegte sich etwas in dem tiefschwarzen Schatten.

Nachdem der Barbar die Stelle einen Moment lang gemustert hatte, erkannte er, dass das Etwas, was in den beschatteten Tiefen lauerte, riesig war. Irgendwie erzeugte es die Dunkelheit von innen heraus, füllte die Halle damit und drängt die Beleuchtung zurück, während es sich vorwärts bewegte. Die unzähligen, leuchtenden Augen reflektierten das Licht und waren das Einzige, was er sehen konnte.

Er erstarrte und griff instinktiv nach seinem Schwert.

»Was … bin … ich?«

Die Stimme erfüllte nicht den ganzen Raum. Sie war in seinem Kopf und an dem verwirrten Gesichtsausdruck des Jungen konnte er erkennen, dass Tryam sie ebenfalls hörte.

»Das Rätsel«, flüsterte der Prinz. »Seid Ihr das Geschöpf, dem wir unsere Antwort für das Rätsel geben?«

»Was … bin … ich?«

Er wandte sich an Skharr.

»Es gibt nicht viele Dinge, welche die Armen haben und die Reichen brauchen«, flüsterte der Barbar leise. »Was ist mit … einer ehrlichen Zunge?«

»Nein, etwas Einfacheres«, antwortete sein Begleiter schnell und schüttelte den Kopf. Im nächsten Moment hob er zweifelnd die Augenbrauen. »Unglück. Ohne es lernt ein Anführer nicht, wie er schwierige Zeiten überkommt.«

»Vielleicht, … falls Ihr Euch irrt, glaube ich aber, dass dieses gottverdammte, hungrige, schwarze Arschloch uns als nächste Mahlzeit verspeisen wird. Die Vorstellung, im Ganzen von einem Arschloch mit Augen verschluckt zu werden, ist nicht sehr reizend.«

»Ich weiß, dass ich recht habe.« Der Prinz drehte sich um und schritt auf die Kreatur zu. Dutzende von Augen, die sich im Raum umgesehen hatten, richteten sich plötzlich auf ihn. »Ihr seid das Unglück.«

Die unzähligen, starren Blicke schauten nicht weg, sondern starrten ihn noch eifriger an.

»Erklärung.«

Das einfache Wort genügte, um Skharr einen Schauer über den Rücken zu jagen.

»Alle, die mit dem Leben ringen, haben Unglück. Die Armen erleben es täglich. Die Reichen, die es nicht erfahren, brechen unter der Last ihrer eigenen Bedürfnisse zusammen, wenn sie schließlich damit konfrontiert werden. Ein Anführer muss es nachvollziehen können, um seine Anhänger zusammenzubringen und sie durch das Unglück hindurchzuführen. Es würde einen Menschen zum Scheitern verurteilen, wenn er nicht darauf vorbereitet ist und es wird ihn zum Erfolg bringen, wenn er es übersteht. Unglück bleibt trotz des Erfolgs oder Misserfolgs derer, die es erleben, gleich. Es verändert andere. Das ist seine Eigenart.«

Die Augen blieben noch ein paar Augenblicke auf ihn gerichtet.

Skharr wusste, dass er an die Seite des Jungen treten musste, falls die Antwort falsch sein sollte, aber er konnte sich kaum vom Zurückweichen abhalten und nahm die Hand von seiner Waffe.

Die Bestie reagierte nicht. Allmählich bewegte sie sich mühselig und die Dunkelheit löste sich langsam auf. Als sie verschwunden war, war auch die geheimnisvolle Kreatur nicht mehr auffindbar.

Der junge Prinz stand allein in der Mitte der Halle.

Tryam kniete sich hin und atmete die Luft ein, als ob sie sein Leben retten würde. Trotz des Vertrauens in seine Antwort hatte er lange Zeit die Luft angehalten.

»Davor wäre ich weggelaufen«, flüsterte der Barbar, als er neben den Jungen trat. »Wäre es nötig gewesen, hätte ich Euch hochgehoben und hier herausgezerrt. Aber ich wäre wohl allein geflohen, wenn es gewalttätig geworden wäre.«

Der Prinz antwortete auf sein Geständnis mit einem Lachen. »Das wäre ich auch, aber … ich weiß nicht. Manche Risiken muss man eingehen. Wie zum Beispiel mit nichts als einem Jungen an seiner Seite ins Innere eines Verlieses zu stürmen.«

Skharr nickte. Er musste zugeben, dass dies ein gutes Argument war.