D ie Welt war nicht in Ordnung.
Reyvan blickte aus seinem Fenster und auf die Stadt herunter, während er sich über den Lärm, den er hören konnte, ärgerte. Es klang sehr nach Sprechchören oder Menschen, die etwas Bestimmtes riefen und er hatte seine Männer ausgesandt, damit sie der Sache auf den Grund gingen.
Offenbar war es noch nicht zu bürgerlichen Ausschreitungen gekommen. Den Geräuschen nach zu urteilen, schienen die Bürger der Stadt zu feiern.
Der Grund des Jubels war immer noch ein Mysterium, aber eines der Gerüchte war beunruhigender als die anderen.
Der Vizekaiser kniff die Augen zusammen, als die Elitewachen vor seiner Tür einen Mann am Eintreten hinderten. Der wieselähnliche Informant hatte eine lange Nase, die in der Vergangenheit mehr als einmal gebrochen war und fettiges, braunes Haar, das ihm auf dem Kopf klebte.
Seine Kleidung war von niedrigem Stand und sein Gestank ähnelte dem der Stadtkanalisation. Trotz dessen winkte der Herrscher den Wachen zu, ihm Eintritt zu gewähren. Dabei holte er ein parfümiertes Tuch hervor und hielt es sich vor die Nase, um dem Geruch zu entkommen.
Der Mann sank auf ein Knie und senkte den Kopf. »Verzeiht meine Verspätung, mein Vizekaiser, aber ich komme mit Neuigkeiten zurück.«
»Eindeutige?«
»Ein …was?«
Reyvan seufzte. »Was sind deine Neuigkeiten?«
»Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen, Vizekaiser. Prinz Tryam ist in die Stadt zurückgekehrt. Er wurde von Hauptmann Ingold verfolgt, der … Nun, er hat sich mit dem Jungen angelegt.«
»Kann ich also annehmen, dass auf den Straßen der Tod des Prinzen gefeiert wird?«
»Nein. Oh nein, mein Herr. Ganz im Gegenteil. Tryam stach dem Hauptmann ins Herz und ließ ihn auf der Straße verbluten. Die Leute erfuhren von seiner Rückkehr. Sie sind froh darüber, denke ich.«
»Sind sie das?«, fragte er, holte eine Goldmünze für den Mann hervor und warf sie auf den Boden. Das Wiesel schnappte sich seine Beute, sprang wieder auf und eilte zur Tür.
Reyvans Ruf schien ihm auf jeden Fall vorauszueilen.
»Was denkt Ihr, Vizekaiser?«, fragte ein Mann hinter ihm. Er drehte sich zu dem Befehlshaber der kaiserlichen Eliten.
»Ich glaube, es ist an der Zeit, dass der Kaiser ein sehr tragisches Ende findet«, flüsterte er. »Es ist bekannt, dass der Mann aufgrund seines hohen Alters ein schwaches Herz besitzt. Es wäre sehr bedauerlich, wenn es versagen würde, während er sich mit einer jungen Frau vergnügte, meint Ihr nicht auch? Wir müssen Cathos schnell zum Kaiser krönen. Nur so können wir sofort alle Fragen nach der Erbschaftsfolge und die Bedenken über innere Unruhen aus der Welt schaffen.«
Espin nickte mit dem Kopf. »Lang lebe der Kaiser.«
Der Vizekaiser nickte ebenfalls und entließ ihn mit einem kleinen Schnippen seiner Hand, woraufhin der Befehlshaber den Raum verließ, um seine Befehle auszuführen.
Noch beunruhigender als die Rückkehr des Prinzen war die Frage, mit wem er zurückgekehrt war. Die Rede von einem riesigen Mann, der ein Barbar mit dunklem Haar und hellen Augen zu sein schien, erinnerte ihn an einen Krieger aus seiner entfernten Vergangenheit.
Es schien fast wie ein anderes Leben zu sein. Eines, welches er geführt hatte, bevor er für das Reich kämpfte oder dem Kaiser diente.
Reyvan schüttelte den Kopf, um die beunruhigenden Erinnerungen zu verdrängen, holte tief Luft und stand zügig auf. Dann sprach er zu den Wachen.
»Bringt den Kronprinzen in den Thronsaal. Es ist an der Zeit, dass er sein Schicksal erfüllt.«
»Ja, Vizekaiser.«
* * *
Es war eine ziemlich gute Idee gewesen, die Menschenmenge zu seinem Vorteil zu nutzen. Es gab immer noch Leute, die ihn tot sehen wollten, weshalb es besser war, die Beliebtheit eines Prinzen auszunutzen, der erfolgreich von seiner Reise zurückgekehrt war.
Die anwesenden Menschen würden ihn beschützen und hoffentlich würde niemand mehr versuchen, ihn zu töten.
Leider würde sich so die Nachricht sehr schnell verbreiten. Er hatte sich nicht einmal hundert Schritte von der Stelle, an der er Ingold getötet hatte, entfernt, bevor die Leute anfingen, äußerst neugierig aus ihren Fenstern zu schauen.
Schon bald wollten sie mehr und rannten auf die Straßen, um sich um ihn zu versammeln, während sie schrien, im Sprechchor riefen und feierten.
Ein paar Kinder kamen auf ihn zu und drückten ihm Blumen in die Hand.
»Wird man so als Kaiser behandelt?«, fragte Tryam Skharr ein wenig skeptisch. Ehrlich gesagt, fühlte er sich ziemlich überwältigt, aber er konnte es gut verheimlichen.
Der Barbar hatte darauf bestanden, dass er auf sein Pferd stieg. Auf diese Weise brachten sie etwas Abstand zwischen ihm und diejenigen, welche die Menge nutzen könnten, um sich heranzuschleichen und ihm ein Schwert in den Rücken zu bohren.
»Das hängt ganz davon ab, was für ein Kaiser man ist«, antwortete Skharr. »Aber ja. Sie werfen Euch Blumen zu Füßen und jubeln Euch zu, wenn Ihr an ihnen vorbeigeht. Allerdings murmeln sie auch Flüche und trinken auf Euren Untergang, wenn Ihr nicht unter ihnen seid.«
Der Prinz gestand sich ein, dass er sich wohl daran gewöhnen müsste und er dachte auf ihrem Weg zum kaiserlichen Palast weiter darüber nach.
Eine Gruppe von Wachen war bereits vor den Toren stationiert, damit sie den Eingang blockieren und die nach vorn drängende Menge aufhalten konnten.
Einige hatten bereits begonnen, den Wachen zuzurufen, dass sie aus dem Weg gehen sollten. Jedoch hob Tryam die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, während er mit Skharr an seiner Seite vorwärts ritt.
»Geht aus dem Weg«, warnte der Barbar, »oder ich werde euch bewegen.«
Die Verteidiger hielten ihre Speere bereit, aber der Prinz stieg eilig ab und trat vor seinen Begleiter, bevor es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen ihm und den Männern kommen konnte. Er vermutete, dass der Krieger sich mit Leichtigkeit einen Weg durch die Wachen bahnen konnte und sich die Menge ihm anschließen würde, da sie nicht nur zusehen wollte.
Es würde sich in ein Gefecht verwandeln oder wahrscheinlich eher in ein Massaker und das konnte er nicht zulassen.
»Halt!«, schnauzte er und nickte, als Skharr sich sofort entspannte und ihn ansah, um sein Handeln abzuwarten.
Die Leute verstummten, aber die Wachen blieben weiterhin angespannt, als ob sie einen Kampf erwarteten. Als er sich näherte, stand jede mit ihrer Waffe zum Angriff bereit. Er ließ jedoch sein Schwert absichtlich in der Scheide.
»Ich bin Prinz Tryam Voldana«, verkündete er mit einer Stimme, die überall auf dem Hof, gut hörbar war. »Und ich bin gekommen, um das, was ich mir verdient habe, einzufordern. Ich habe die Prüfung von O’Kruleth Demari bestanden und das Recht erworben, zum Erben des Kaisers ernannt zu werden.«
Die Wachen tauschten ein paar unsichere Blicke aus, bevor ihr Anführer vortrat.
»Ich kann nicht zulassen, dass alle Anwesenden in den Palast eintreten«, verkündete der Mann und veranlasste seine Männer dazu, ihre Waffen zu senken. Der Befehl wurde nur von wenigen Wachen befolgt.
»Ich werde vor meinem Vater treten.« Tryam machte einen weiteren Schritt vorwärts, bis er weniger als einen Schritt vom Hauptmann entfernt war. »Skharr TodEsser wird mich begleiten.«
Die Wachen tauschten Blicke untereinander aus und hatten bereits begonnen, zur Seite zu weichen, bevor ihr Anführer ihnen den Befehl dazu gab. Er vermutete, dass auch keiner von ihnen gegen Skharr kämpfen wollte.
Der Prinz wurde das Gefühl nicht los, dass ihm jemand einen Speer in den Rücken rammen würde, während er durch die Gruppe ging, aber nichts dergleichen geschah. Sie betraten den Palast mit einer kleinen Gruppe von Wachen, die sie auf dem Weg zum Thronsaal begleitete. Erneut spürte er ein Kribbeln hinten im Nacken und er erwartete, dass jemand einen Dolch hineinstoßen würde.
Zum Glück passierte dies nicht. Es passierte auch nicht, als die Türen aufgerissen wurden und er den Raum betrat.
Tryam hatte erwartet, dass der Raum leer sein würde, doch stellte sich diese Annahme als falsch heraus. Zwar saß jemand auf dem bequemen Thron und trug die unbequeme Krone, aber es war nicht sein Vater. Das Gesicht war ein vertrautes und eines, das seinem eigenen sehr ähnelte. Die Person starrte ihn vom Podium aus an, während eine Gruppe bewaffneter Elitewachen am Fuße des Podiums wartete. Diese Wachen waren genauso bereit für einen Kampf wie die, die draußen Wache standen.
»Willkommen zurück, Tryam«, rief Cathos vom Kaiserthron aus. »Ich freue mich, dass du deine Zeit im Verlies überlebt hast. Angenommen, dass du ihn überhaupt betreten hast. Ich bin froh, einen solchen Bruder wie dich an meiner Seite zu haben.«
Der Prinz konzentrierte sich auf seinen Halbbruder, kniff die Augen zusammen und holte tief Luft. Gewalt war nicht immer eine Lösung, aber die Ereignisse, die höchstwahrscheinlich vorgefallen waren, konnte er nur schwer ignorieren.
»Wo ist der Kaiser?«, fragte er und sah sich im Thronsaal um.
»Euer Kaiser steht vor Euch«, sagte eine tiefe, dröhnende Stimme in der Nähe des Throns und Tryam wurde klar, dass er den dort stehenden Vizekaiser übersehen hatte. »Leider erkrankte Euer Vater während Eurer Abwesenheit und erholte sich nicht mehr. Euer Bruder wurde an seiner Stelle zum Kaiser gekrönt. Lang lebe der Kaiser.«
»Lang lebe der Kaiser!«, brüllten die Wachen unisono.
Der Prinz sah sich im Raum um und sein Blick fiel auf Skharr, der neben ihm stand. Er glaubte, dass er den Barbaren mittlerweile gut genug kannte, um zu wissen, wann er beunruhigt war.
Es bestand kein Zweifel, dass sein Begleiter beunruhigt war. Seine grünen Augen waren auf den Vizekaiser gerichtet und Entsetzen sowie pure Wut schienen ihm ins Gesicht geschrieben zu sein.
Tryam wollte fragen, wieso Skharr so auf den Mann fixiert war, aber es war nicht der richtige Zeitpunkt.
»Ich habe die Prüfung von O’Kruleth Demari bestanden.« Er zog sein Hemd aus, um allen Anwesenden zu zeigen, dass die Handabdrücke, die er zu Beginn seiner Reise bekommen hatte, verschwunden waren. »Im Gegensatz zu anderen habe ich mir meine Rolle als Erbe des Reiches verdient. Wenn das nicht möglich ist, so habe ich mir das Recht verdient, die Krönung meines Bruders anzufechten.«
»Ich bin dazu bereit, mein Recht auf den Thron zu beweisen«, erwiderte Cathos und stand langsam auf. »Ich werde einen stellvertretenden Sekundanten wählen, um meinen rechtmäßigen Platz zu beweisen.«
Einer der Elitesoldaten trat vor und hielt ein Schwert in der Hand.
»Nein«, flüsterte Tryam und schüttelte den Kopf. »Wenn ich meinen Anspruch auf den Thron mit meinen eigenen Händen beweisen soll, muss Cathos dasselbe tun.«
Der Möchtegern-Kaiser sah den Vizekaiser, der lächelte und mit den Schultern zuckte, an.
»Gedenkt seine Majestät, selbst gegen seinen Bruder um den Thron zu kämpfen?«, fragte Reyvan und verschränkte die Arme vor der Brust.
Der Rest der Wachen sah Cathos an. Sie würden für ihn kämpfen, wenn er es ihnen befahl. Trotzdem musste er wissen, dass die Männer zwar für ihn sterben würden, aber auch das Gleiche von dem Mann, für den sie sterben würden, erwarteten. Wenn er nicht bereit war, mit eigener Kraft um den Thron zu kämpfen, würde seiner Reputation, die er aufrechterhalten musste, ein schwerer Schlag versetzt werden.
»Ganz egal, für was du dich entscheidest«, bemerkte Tryam, während er sein Hemd anzog. »Ich würde Skharr TodEsser als meinen Sekundanten in diesem Kampf wählen.«
Der Vizekaiser schien die Anwesenheit des Kriegers nur bemerkt zu haben, als auf diesen hingewiesen wurde. Seine Augen weiteten sich und er starrte mit leicht offenem Mund, bevor er sich wieder beruhigte.
»Skharr«, flüsterte der Mann und trat einen Schritt vor. »Es ist … schön, dich wiederzusehen.«
»Das bezweifle ich«, entgegnete der Barbar schnippisch. »Sonst hättest du nicht deine Waffenbrüder und -schwestern vergiftet oder unseren Feinden die Tore geöffnet, damit sie alle, die innerhalb der Mauern von Vernosh Schutz aufsuchten, abschlachteten.«
»Es war zum Wohle der Allgemeinheit«, antwortete Reyvan leise. »Ich muss zugeben, dass die Jahre zu dir gütiger waren als zu mir. Ich wusste, dass in deinem Blut irgendeine Magie, die dich länger als das normale Menschen leben lässt, wirkt. Wenn du erst einmal tot bist, werde ich endlich die Gelegenheit nutzen und sie genauer studieren.«
»Gütig?« Skharr zischte und konnte seine Wut kaum unterdrücken. »Ich werde dir zeigen, wie gütig die Jahre zu mir waren!«
Er ging einen Schritt nach vorn und sofort wollten ihn zwei Wachen aufhalten. Eine hatte bereits ihr Schwert gezückt und war kampfbereit, bevor der Prinz eingriff.
»Skharr!«
Tryam bemerkte kaum, dass er sein Schwert aus der Scheide gezogen hatte, ehe er auch nach vorn stürmte, um die beiden zu stoppen. Er rannte an Skharr vorbei und stellte sich zwischen den Riesen und seine Angreifer.
Er machte einen mühelosen, geschickten Schwung mit seiner Waffe, um beide Angriffe zu parieren und sie zur Seite zu stoßen.
»Tötet sie!«, rief der Vizekaiser den Wachen zu. »Tötet sie beide!«
»Glaube nicht, dass mich das aufhalten wird, Zauberer!«, brüllte der Krieger und sein Schwert schleifte an der Scheide, als er es zog.
»Zauberer?«, fragte Cathos und war sehr verwirrt darüber, dass der Kampf anscheinend ohne ihn begonnen hatte.