Erstes Kapitel
Robin
„Yo, beschaulich trifft’s ganz gut“, antworte ich meiner Schwester, während ich einen flachen Stein in meinen Fingern drehe und ihn schließlich wie ein Frisbee über die Wasseroberfläche schleudere. Patsch, patsch, patsch
, macht es, bevor er ploppend im See versinkt.
„Tja, wie Janine schon gesagt hat, St. Josef ist eben anders als Köln“, erklärt nun auch Leo, ihr Freund. Entschuldigend zuckt er mit den Schultern. Dabei ist das Örtchen auf der anderen Seite des Sees, in das es die beiden verschlagen hat, alles andere als etwas, wofür man sich entschuldigen müsste. Im Gegenteil, es ist so idyllisch hier, dass ich mich seit meiner Ankunft pudelwohl fühle. Hab mich irre gefreut, als Janine mich gefragt hat, ob ich sie über Pfingsten für ein paar Tage besuchen möchte. Nach all dem, was ich in den letzten Wochen wieder einmal durchmachen musste, tut mir eine Auszeit in den Bergen bestimmt gut. Mittlerweile habe ich wirklich genug von Köln und den verlogenen Typen, die diese Stadt bevölkern. Deshalb sitze ich nun mit ihr und Leo am Ufer des Josefsees und gucke hinüber nach St. Josef.
Gut, ich bin gerädert, denn Schlaf habe ich heute Nacht kaum bekommen, allerdings wird es mir in dieser Umgebung bestimmt nicht schwerfallen, meine Energietanks rasch wieder aufzufüllen. Ich atme tief ein und spüre, wie die Bergluft meine Lungen durchflutet. Schließlich suche ich nach dem nächsten Steinchen und schleudere es auf den See. Patsch, patsch, patsch, plopp.
Ach, mit diesem Spiel könnte ich mich stundenlang beschäftigen.
Müde bin ich wegen der beschwerlichen Anreise. Spätabends habe ich in Köln den Nachtzug genommen. Dass ich ein Schlafwagenabteil für mich alleine hatte, nutzte nichts. Bin immer wieder aufgewacht, weil ich die
Panik hatte, jemand könnte die Tür aufstemmen und mich beklauen. Ist zum Glück nicht passiert. Frühmorgens musste ich in München umsteigen. Zwei Stunden später noch einmal. Danach saß ich noch eine gute halbe Stunde inmitten einer schreienden Schulklasse in einer Bimmelbahn, die vor jeder Hundehütte haltmachte, bis ich endlich St. Josef erreichte, wo mich Janine und Leo an der Bahnstation abholten und wo sich meine Stimmung schlagartig besserte, weil es hier wirklich traumhaft schön ist.
Inzwischen haben wir mein Gepäck auf das Zimmer im Josefhof gebracht, das Janine zuvor für mich organisiert hatte, danach haben mich die beiden durch das Dorf geführt. Der Josefsee, an dem der Ort liegt, glitzert im Sonnenlicht. Zu Fuß brauchten wir rund zehn Minuten, um die gegenüberliegende Seite zu erreichen. Nun sitzen wir hier auf ein paar Steinen. Leo krempelt seine Hose hoch und hält seine Füße ins Wasser. Er stöhnt gequält auf.
„Ist bestimmt arschkalt, oder?“
„Probier’s doch auch“, fordert er mich auf.
„Nee, bestimmt nicht!“ Energisch schüttle ich den Kopf. Erstens kommt das Wasser direkt aus dem Gebirge, daher kann ich mir auch so vorstellen, wie eisig kalt es ist – auch wenn wir heute Frühsommerwetter haben. Zweitens schwimmt in diesem See sicher allerhand Getier rum. „Hab mal im Internet von ‘nem Typen gelesen, der auch nur die Füße in einen See gehalten hat und dann von einem riesigen Fisch gebissen wurde. So kamen Bakterien in seinen Körper und dann …“
„Ach Robin, was du nicht immer alles im Internet liest.“ Janine lacht.
Gespielt beleidigt ziehe ich eine Schnute und wende mich in Richtung See, um St. Josef zu betrachten. Das Dorf sieht aus wie die Kulisse eines Heimatfilms. Es besteht aus typischen Alpenhäusern mit Schindeldächern. Die Balkone sind lang und aus dunkel gebeiztem Holz. Es gibt üppigen Blumenschmuck und putzige Fensterchen mit karierten
Gardinen. Die Häuser gruppieren sich rund um eine Kirche mit rotem Zwiebelturm. Im Hintergrund ragen Felswände in den Himmel. Auf den Berggipfeln befinden sich Schneehäubchen. Fehlt nur noch, dass einem in diesem Dorf Heidi und der Ziegenpeter über den Weg laufen.
Der Kirchturm wird nur vom Josefhof überragt, einem vierstöckigen Hotel, das sich direkt am Seeufer befindet. Auch wenn dieses Gebäude wesentlich größer ist als alle anderen, fügt es sich gut in das Ortsbild ein. Es sieht aus wie eine überdimensionale Almhütte.
„Genauso hab ich mir ein verschlafenes Alpendorf bisher immer vorgestellt“, murmle ich und zwinkere, weil mich die Sonne blendet.
Janine seufzt. „Ging uns damals nicht anders, stimmt‘s?“ Lächelnd reibt sie Leo die Schulter. Ihre brünette Lockenfrisur ist wie immer perfekt gestylt. Ihr Gesicht ist präzise geschminkt. Obwohl sie sich heute für mich freigenommen hat, trägt sie ein Dirndl, das, wie sie mir einmal erklärt hat, hier in St. Josef sozusagen ihre Arbeitsuniform ist.
Leo erwidert ihren Blick und nickt.
„Manchmal tut es mir richtiggehend leid, dass wir nur noch bis Ende des Sommers hier sind“, fährt Janine fort.
„Sicher, ist schade. War ‘ne schöne Zeit hier, aber Süße, eine solche Chance bekommst du vielleicht nicht so schnell wieder. War schon die richtige Entscheidung.“
Er streicht liebevoll über ihre Schulter. Sie nimmt seine Hand und hält sie fest.
Janine ist die stellvertretende Direktorin des Josefhofs. Da der tatsächliche Hoteldirektor seit Monaten wegen eines Burn-outs krankgeschrieben ist, führt nun sie den Laden und das anscheinend nicht schlecht. Obwohl Vorsaison ist, war es gar nicht so leicht, für mich ein Zimmer freizukriegen. Der Josefhof ist fast immer ausgebucht.
Das Hotel gehört zu einer Kette, deren Stammhaus sich in Köln befindet – ein großes Cityhotel in der Nähe
der Domplatte. Dort hat Janine nach ihrem BWL-Studium ein Trainee-Programm absolviert. Mit Erfolg, denn man hat ihr direkt im Anschluss einen Job im Management angeboten, allerdings nicht in Köln, sondern in St. Josef – also ist sie mit Sack und Pack hierhergezogen. Dann ging es auf der Karriereleiter weiter aufwärts. Seit drei Jahren lebt sie nun in den Bergen und führt hier ein Hotel mit mehr als 200 Betten. Im Herbst wird damit aber Schluss sein. Sie wird ins Kölner Stammhaus zurückkehren, wo sie die Ausbildung absolviert hat – als neue Direktorin. Und das mit nur einunddreißig Jahren. Ja, ich kann mächtig stolz auf mein Schwesterherz sein.
„Leute, ich muss jetzt los.“ Leo klopft sich auf die Knie und erhebt sich von dem Stein. „Termin mit der Grafikerin. Wegen der Werbesujets für die Sommerkampagne“, fügt er erklärend hinzu und guckt dabei Janine an. Meine Schwester nickt und steht ebenfalls auf. Sie muss sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihrem Freund einen Kuss auf den Mund zu drücken. So verliebt, wie die beiden sich nun ansehen – da könnte man glatt neidisch werden. Aber es gibt niemanden auf der Welt, dem ich dieses Glück mehr gönnen würde als meiner Schwester.
Leo ist ein korrekter Typ. Ein sportlicher, rothaariger Hüne – er ist über 1,90 groß und ziemlich cool. Kennengelernt haben sich die beiden bereits während des Trainee-Programms in Köln und das Schicksal hat es so gewollt, dass im Anschluss auch Leo einen Job im Josefhof bekommen hat. Also haben sie sich hier wiedergetroffen und ineinander verliebt. Auch Leo hat inzwischen Karriere gemacht, wenn auch nicht so steil wie Janine. Er ist im Josefhof für das Marketing zuständig. Sie ist also seine Chefin und anscheinend funktioniert das gut, denn im Herbst wird er mit ihr gemeinsam nach Köln wechseln und die Marketingabteilung im Cityhotel übernehmen.
Dem nicht genug. Janine und Leo werden im Herbst auch heiraten. Der Termin steht bereits. Ganz nebenbei organisiert meine Schwester also gerade auch ihre
Hochzeit. So wie ich die beiden einschätze, wird es bestimmt eine perfekt durchorganisierte Feier. Ätzend ist nur, dass ich wieder einmal am Singletisch Platz nehmen muss.
Ich kneife die Augen zusammen. Wie ein Schlaglicht blitzt ein Bild von Tim vor meinem geistigen Auge auf, doch zum Glück gelingt es mir, es sofort wieder zu verscheuchen. Mit Tim möchte ich mich nun wirklich nicht mehr beschäftigen.
„Robin, wir sehen uns die Tage noch, ja?“, sagt Leo und klopft mir kumpelhaft auf die Schulter, nachdem er sich von meiner Schwester verabschiedet hat.
„Ist jut!“ Ich nicke ihm zu.
Als er sich auf dem Uferweg von uns entfernt und den Ort ansteuert, fragt mich Janine: „Und wir? Hab mir für dich freigenommen, Robby. Keine Termine und guck mal, das Wetter ist prächtig!“ Sie streckt die Arme von sich und dreht sich im Kreis, sodass ihr Dirndl um sie herumweht.
Ich werfe einen prüfenden Blick nach oben. Wie recht sie hat! Der Himmel ist abgesehen von ein paar Schönwetterwölkchen tiefblau.
„Lust auf einen Spaziergang auf die Alm?“
Tja, eigentlich bin ich todmüde, allerdings weiß ich, dass Janine in den nächsten Tagen wenig Zeit für mich haben wird – das hat sie bereits angekündigt. Wir sollten die gemeinsame Zeit daher bestmöglich nutzen. Außerdem wäre es echt eine Schande, wenn ich mich bei diesem Traumwetter in meinem Hotelzimmer verkrümeln würde.
„Yo, Alm klingt gut“, antworte ich daher und reibe mir motiviert die Hände.
„Super!“ Sie strahlt mich an. „Vorne an der Gabelung beginnt der Almweg. Wenn wir flott sind, schaffen wir es in einer knappen Stunde hinauf. Oben gibt’s eine Hütte und eine Aussicht, die bombastisch ist … und superleckeren Ziegenkäse.“
„Ziegenkäse? Cool …
“
„Na dann, los!“ Sie marschiert auf die Weggabelung zu. Ich rücke mir schnell meine Brille zurecht, dann eile ich ihr hinterher. Wir entfernen uns vom Ufer und bewegen uns auf einen Wald zu. Der Weg ist anfangs noch flach, wird aber zunehmend steiler. Die Sneakers, die ich trage, sind für dieses Terrain nicht wirklich geeignet. Ich rutsche immer wieder auf den Steinchen ab und muss mich an den Baumstämmen festhalten. Muss höllisch aufpassen, damit ich mir nicht wehtue. Janine hat es leichter, denn sie trägt feste Outdoor-Schuhe.
„Du hast von spazieren
gesprochen“, protestiere ich schnaufend, als wir gerade über ein paar Lehmstufen weiter nach oben steigen. Inzwischen brennen meine Oberschenkel.
„Ach Robby, stell dich doch nicht so an!“ Lachend dreht sie sich zu mir um und wirft mir einen Blick zu, den ich das letzte Mal von meinem Sportlehrer am Gymnasium gesehen habe. Im nächsten Moment setzt sie ihren Höllenmarsch fort.
In mehreren Kehren schwingt sich der Weg den bewaldeten Berghang empor. Durchatmen kann ich erst, als wir nach etwa einer halben Stunde die Alm erreichen, denn nun wird der Weg wieder gemütlicher und führt durch eine blühende Wiese.
„Robby, was machen die Männer?“, will sie wissen, als wir nebeneinander an einer Kuhweide vorbeischlendern.
Ich winke ab. „Es gibt keinen Mann in meinem Leben.“
„Aber es gab unlängst noch diesen Tim, nicht?“
Ich schlucke, denn sie hat einen wunden Punkt getroffen. Eigentlich möchte ich über Tim nicht sprechen, denn er ist der Grund, warum ich so froh darüber bin, für ein paar Tage aus Köln abhauen zu können. Sicher, in erster Linie bin ich nach St. Josef gekommen, um meinem Schwesterherz und Leo einen Besuch abzustatten, aber eben auch, um den Kopf freizukriegen. Nach der Nummer, die Tim mit mir abgezogen hat, habe ich das bitter nötig.
„Tim ist ein Arsch“, sage ich schließlich
.
Janine bleibt abrupt stehen und zieht die Augenbrauen hoch. „Ach, was ist denn passiert?“
„Er hat ‘ne Freundin.“
„Wie bitte?“
„Yo, ist so. Er hatte immer schon eine. Über die ganze Zeit, während wir zusammen waren. Hat es mir erst gestanden, als ich mit ihm gemeinsam in den Urlaub wollte.“
„Das tut mir leid, Robby.“ Janine fasst mich liebevoll an der Schulter an und wenn sie nicht aufhört, mich so mitleidig anzugucken, beginne ich gleich wieder zu heulen. Dabei habe ich für Tim ohnehin schon wesentlich mehr Tränen vergossen, als er es wert ist.
Die Beziehung – oder nennen wir es besser … die Sache
mit ihm hat kurz nach Weihnachten begonnen, als ich mit Annika durch das sogenannte schwule Bermudadreieck unserer Stadt gezogen bin. In einem dieser Aufreißschuppen auf der Schaafenstraße hat Tim mich angequatscht und Annika hat, wie es sich für eine beste Freundin gehört, zuerst abgecheckt, ob der Typ etwas für mich ist, und nachdem sie ihr Okay gegeben hatte, hat sie sich verdrückt. Hab Tim mit nach Hause genommen. Es war geil mit ihm und ich fand ihn cool, daher habe ich ihm nachher auch meine Nummer gegeben. Ein paar Tage später hat er sich tatsächlich gemeldet.
Wir haben uns daraufhin immer wieder getroffen. Nicht nur für Sex. Wir haben auch viel gequatscht, gemeinsam gekocht, gechillt, Netflix geguckt … und ich Vollidiot hab mir eingebildet, zwischen uns gäbe es so etwas wie eine angehende Beziehung. Ob ich richtig verliebt in ihn war, kann ich im Nachhinein nicht mehr sagen. Auf alle Fälle war es schön mit ihm. So ging es monatelang. Gut, dass er immer nur zu mir kommen wollte und wir kaum etwas außerhalb meiner Wohnung unternommen haben, kam mir schon komisch vor, aber ich stellte nicht allzu viele Fragen, denn ich genoss die Abende mit ihm und das wollte ich nicht gefährden. Dass er nur an ga
nz bestimmten Tagen für mich Zeit hatte, erklärte er mit Stress im Job und Überstunden, die er angeblich schieben musste. Das kaufte ich ihm ab, ich Idiot.
Schließlich kam mir die Idee mit Gran Canaria. Er hatte sofort eine Ausrede parat, warum er nicht mitkommen konnte. Ich hakte nach, da wurde er patzig und ich emotional. Dann rückte er endlich mit der Wahrheit raus. Er gab zu, dass er eine Freundin hatte. Schon seit sieben Jahren. Ich war für ihn also über die ganze Zeit nur der Homo-Junge gewesen, mit dem er seine heimliche schwule Ader ausleben konnte, und hatte es nicht geschnallt.
Nachdem ich ihn aus der Wohnung gebrüllt hatte, flennte ich erst einmal für den Rest des Abends. Mittlerweile hab ich die Nase gestrichen voll. Tims können mir in Zukunft gestohlen bleiben. Nur wimmelt es in Köln leider nur so vor Typen, die jeden hintergehen, gerade in der Schwulenszene. Wenn Tim der erste Mann wäre, der mich belogen hat, würde ich vielleicht anders denken, aber das ist leider nicht der Fall. Ich muss die Tage in St. Josef nutzen, um endlich auf andere Gedanken zu kommen. Die Bergidylle fernab der Schaafenstraße wird mir hoffentlich dabei helfen.
„Schon gut, habe Tim quasi schon vergessen“, behaupte ich, um das Thema zu einem Abschluss zu bringen.
„Robby?“, sagt sie gedehnt und guckt mich skeptisch an. „Wenn du reden willst, weißt du, dass …“
„Klar, weiß ich, will ich aber nicht“, unterbreche ich sie forsch. Janines schwesterliche Fürsorge in allen Ehren, aber sorry, ich will mich wirklich keine Sekunde länger mit Arschloch-Tim beschäftigen. Anscheinend spricht mein Blick Bände, denn sie sagt nichts mehr in diese Richtung.
„Guck mal, die Hütte!“, ruft sie stattdessen und beschleunigt ihren Schritt.
Tatsächlich haben wir gerade eine kleine Kuppe überquert und vor uns erstreckt sich nun eine große Wiese mit Kühen, Schafen und Ponys, an deren anderen Ende
sich eine kitschig aussehende Almhütte samt Nebengebäude befindet. Davor parken zwei Autos.
„Wir hätten auch hier herauffahren
können?“, frage ich und gucke meine Schwester vorwurfsvoll an.
„Nee, der Forstweg darf nur vom Hüttenpersonal benutzt werden“, erklärt sie.
„Ach so.“ Ich lächle versöhnlich. Nun, nachdem der schlimme Aufstieg überstanden ist, finde ich nämlich ohnehin, dass es keine schlechte Idee war, zu Fuß zu gehen. Ein bisschen Fitness kann nie schaden und je mehr ich von der Bergluft einatme, desto entspannter werde ich.
Gelbe und blaue Blumen säumen nun den Weg. Auf der Wiese muht und wiehert es. Auch in der kleinen Koppel, die sich zwischen der Hütte und dem Nebengebäude befindet, erblicke ich ein paar Tiere, die ich aber nicht genau erkennen kann, da wir doch noch ein Stück weit entfernt sind. Ich muss einen schnellen Seitenschritt machen. Ein riesiger Kuhfladen liegt mitten auf dem Weg und wird von mindestens hundert Fliegen umschwärmt.
Als wir schließlich die Hütte erreichen, schlägt uns ein Stimmengewirr entgegen. Es riecht lecker nach würziger Suppe, Geschirr klappert. Wir betreten die gut besuchte Terrasse, die sich auf der Hinterseite des Gebäudes befindet. Eine junge Frau sammelt gerade die leeren Teller ein. Als sie Janine erblickt, stellt sie den Tellerstapel ab, wirft ihre schwarze Haarmähne schwungvoll nach hinten und winkt uns zu.
„Griaß di, Janine!“
„Rosa-Marie“, ruft meine Schwester und läuft auf sie zu. Die beiden begrüßen sich mit Wangenküsschen und als ich sie erreiche, ergreift meine Schwester das Wort: „Darf ich dir vorstellen – Robin, mein Bruder.“
„Jo mei, so einen feschen Bruder hast!“, ruft die junge Frau so laut, dass es alle Leute auf der Terrasse mitkriegen und mir die Sache peinlich ist. Sie stemmt ihre Arme in die
Hüften und mustert mich. Schließlich streckt sie mir die Hand hin. „Griaß di, bin die Rosa-Marie.“
„Tach … Robin.“ Nachdem ich ihr die Hand geschüttelt habe, wische ich mir verlegen durch die Haare.
Hier herrscht eine fröhliche Stimmung. Jeder scheint sich mit jedem zu unterhalten. Es wird auch zwischen den Tischen hin- und hergerufen. Immer wieder gibt es lautes Gelächter, das das Klappern der Löffel in den Suppenschüsseln übertönt. Von einem Tisch kommt ein dumpfes Klirren. Mächtige Bierkrüge, die gegeneinander gestoßen werden.
„Prost!“, ruft jemand.
„Guck, die Aussicht!“ Janine zieht mich zur brusthohen Steinmauer, die die Terrasse begrenzt.
„Krass“, entfährt es mir. Was sich vor meinen Augen eröffnet, ist tatsächlich der pure Wahnsinn. Man überblickt von hier aus das gesamte Tal. Sommerwind weht mir ins Gesicht, als ich hinuntergucke. Der Josefsee, der die Form einer Bohne hat, schimmert blau im Sonnenlicht. Als kleine rote Pünktchen sind die Tretboote des hoteleigenen Verleihs des Josefhofs zu sehen. Die Häuser von St. Josef sehen von hier oben aus wie eine Handvoll Spielzeug-Bauklötze, die jemand am Ufer ausgestreut hat.
Als sich Janine wieder mit der jungen Frau unterhält, drehe ich neugierig eine Runde um die Hütte. Will sie mir von allen Seiten ansehen. Dabei komme ich auch an der Koppel mit den Tieren vorbei, die ich aus der Ferne nicht erkannt habe. Es sind drei graue Ziegen. Dahinter befindet sich noch eine weitere Koppel, in der gerade zwei Schafe einen Esel beschnuppern. Neben den Koppeln steht ein einfacher Holzbau, offenbar der Stall der Tiere.
Eine Ziege meckert mich laut an. Das Tier hat zwei kleine Hörner, einen langen Bart und einen listigen Gesichtsausdruck. Instinktiv weiche ich einen Schritt zurück. Bin eben ein Stadtjunge und vor einer Ziege zu stehen, ist alles andere als eine alltägliche Situation für mich. Nun
legt sie den Kopf schief, reißt das Maul auf und meckert wieder laut, sodass ich zusammenzucke.
Okay, das Vieh ist mir nicht ganz geheuer. Besser, ich begebe mich wieder zu den anderen auf die Terrasse. Als ich gerade losgehen will, rumpelt es und auf einmal steht ein Typ in der Stalltür. Mit einer Mistgabel, auf der er einen Ballen Heu aufgespießt hat. Nun holt er aus und schleudert diesen in die Ziegenkoppel.
„Mucki, Wucki, Lucki … Futter!“, ruft er.
Sofort traben zwei der Ziegen los und machen sich über das Heu her, während sich die dritte im Hintergrund hält und das Geschehen beobachtet.
„Mucki, Mucki …“
Jetzt macht sich auch die scheue Ziege auf den Weg und beginnt zu fressen, während ich wie angewurzelt vor der Koppel stehe – mit offenem Mund. Nicht wegen der Ziegen. Es ist der Typ, der dafür sorgt, dass ich vermutlich gerade ziemlich dämlich dreinschaue. Schnell schließe ich den Mund wieder.
Er ist nämlich so heiß, dass man sich an ihm glatt verbrennen könnte. Bekleidet ist er mit einer tarngrünen Arbeitshose, Stiefeln und einem Flanellhemd. Es hat ein rotes Karomuster und ist offen. Durch die Bewegung ist es verrutscht, sodass ich weite Teile seines Oberkörpers sehen kann. Er hat stramme Muskeln und seine Haut ist gebräunt. Auf ihr hat sich ein Schweißfilm gebildet, der in der Sonne glänzt. Heiliger Bimbam, er sieht genauso aus, wie man sich einen geilen Bauernburschen vorstellt. Mit mir geht gerade meine dreckige Fantasie durch. Ich beiße mir sanft auf die Lippe und nehme mir vor, jetzt endlich meinen Blick von ihm zu lösen und zurück zur Terrasse zu gehen. Es gelingt mir aber nicht.
Nun rammt er die Heugabel in den Boden, stützt sich darauf ab und guckt mich an.
„Servus“, sagt er und nickt. Er hat kurzgeschorene Haare und ein kantiges Gesicht. Und der Blick, mit dem er mich gerade ansieht! Meine Güte, ich komme mir vor, als
wäre ich tatsächlich mitten in einem Alpenporno gelandet mit ihm in der Rolle des lüsternen Stallburschen. Fahrig streiche ich mir durch die Haare.
„Yo, hey“, erwidere ich und möchte möglichst cool klingen. Dumm nur, dass ich krächze wie ein stimmbrüchiger Teenager.
Verschwinde hier, Robin, du blamierst dich gerade bis auf die Knochen!
Es kostet mich Überwindung, aber schließlich schaffe ich es doch, mich schwungvoll umzudrehen und zurück zur Terrasse zu stiefeln. Hilfe, was war das denn?
Janine und diese Rosa-Marie haben sich mittlerweile gesetzt. Eine Frau mit grauer Hochsteckfrisur und bunt geblümtem Arbeitskittel steht an der Tischkante und unterhält sich mit ihnen.
„Robby, wo warst du denn so lange?“, will meine Schwester wissen, als ich mich zu ihnen setze.
„Hab mir die Ziegen angeschaut.“
„So lieb unsere drei Ladys, gell“, erwidert die grauhaarige Frau.
„Yo, süß.“ Ich nicke und lächle. Vielleicht grinse ich auch gerade verschlagen, weil ich vor meinem inneren Auge nicht die Ziegen sehe, sondern den Stallburschen. Nur muss das die Frau ja nicht wissen.
„Zu unserer Brettljause gibt’s auch Ziegenkäse. Der ist von unseren Ladys. Wir machen alles selbst hier heroben“, erklärt sie stolz.
„Das ist übrigens Rosa-Maries Mutter, die Hüttenwirtin“, erklärt mir Janine, bevor sie auf mich deutet. „Robin, mein Bruder.“
„Servus, bin die Gerti“, sagt die Frau und wir schütteln uns die Hand. „Willst gar die Ziegen füttern?“
„Öhm …“
„Mei, warte!“ Mit erhobenem Zeigefinger huscht sie in die Hütte. Ein paar Momente später kehrt sie zurück und drückt mir drei dicke Möhren in die Hand, die sie mitgebracht hat. „
Die fressen die Ladys für ihr Leben gern“, erklärt sie. „Gib jeder eine, aber schau, dass auch die Mucki eine kriegt, ja? Die ist so schüchtern, das nutzen die anderen beiden gerne aus, diese Luder!“
„Okay“, sage ich gedehnt. Skeptisch beäuge ich die Möhren in meiner Hand. Nicht, dass ich mich darum reißen würde, mich noch einmal diesen Tieren zu nähern. Die Versuchung, ihrem Betreuer ein weiteres Mal zu begegnen, ist jedoch riesengroß.
„Yo, geht klar“, sage ich deshalb und spaziere wieder Richtung Koppel.
Kaum haben die Ziegen mich und die Möhren entdeckt, kommen sie auch schon angetrabt. Jedenfalls zwei von ihnen, während die dritte wieder nur zuguckt.
Als zwei Möhren verspeist sind, rufe ich ihr zu: „Mucki … ähm, Mucki, Mucki …“
Die Ziege bewegt sich aber nicht von der Stelle. Nun ja, offenbar muss ich der Madame die Möhre höchstpersönlich bringen. Auch wenn mir nicht wohl bei der Sache ist, schiebe ich den Eisenriegel zur Seite, um die Koppel zu betreten. Dass dies eine dumme Idee war, kapiere ich wenige Momente, nachdem ich es getan habe. Die beiden aufgeweckten Ziegen kommen auf mich zu. Ziemlich schnell. Eilig versuche ich, die Koppel wieder zu schließen. Vor Schreck rutscht mir dann aber auch noch das Gatter aus der Hand und schwingt nur noch weiter auf. Die Ziegen drängen mich zur Seite und spazieren mit keckem Blick an mir vorbei.
„Die Ziegen, verdammt, die Ziegen!“, schreie ich.
Und nur wenige Sekunden später steht Mister Mistgabel wieder da, nur diesmal ohne Mistgabel.
„Himmelherrgott“, murmelt er, nachdem er das offene Gatter und die fehlenden Ziegen bemerkt hat. Er läuft los. Mit einem unguten Gefühl im Bauch folge ich ihm. Gerade traben die Tiere unter den verwunderten Blicken der Gäste über die Terrasse. Etwas klirrt. Meine Güte, war das ein
Bierkrug? Dann verschwinden die Tiere aus meinem Sichtfeld.
Was habe ich nur getan? Für die Aktion könnte ich mir in den Arsch treten. Bin der Vollidiot, der hier einfach mal die Koppel öffnet und die Ziegen rauslässt. Ich schlage meine Hände an meinen Kopf, der sich heiß anfühlt, weil mir die Sache einerseits peinlich ist und ich gleichzeitig Panik schiebe, dass nun irgendetwas Schlimmes passiert.
Im nächsten Moment erfasst mich aber ein Gefühl der Erleichterung, denn der Stallbursche spaziert nun an mir vorbei, neben beziehungsweise vor ihm trotten die beiden Ziegen. Als wäre nichts gewesen, marschieren sie zurück in ihre Koppel und er schließt das Gatter. Anscheinend hat er ein wirklich gutes Händchen für sie. Ich atme durch, dann beginne ich, zu stottern.
„Ähm … danke, äh sorry, dass ich …“
Er grinst breit. „Ach, ist ja nix passiert.“
Ich nicke, ohne etwas zu erwidern, denn ich bin viel zu beschäftigt damit, die kleine Lücke zwischen seinen Vorderzähnen zu betrachten. Sie ist sowas von sexy! Schließlich mustere ich sein Gesicht: seine männlichen Züge, das kräftige Kinn, die kleine Narbe an der Schläfe. Kenne ihre Geschichte nicht, sie macht ihn aber nur noch interessanter.
„Das Gatter darfst du nicht öffnen. Weißt du, die beiden gehen gern spazieren. Und dann kraxeln sie irgendwo rauf, aber das sollen sie nicht. Sie kraxeln gerne, die Ladys.“
„Yo, ähm … sorry.“ Hitze klettert in mir hoch und ich räuspere mich. „Ich weiß, Ziegen können gut klettern. Sogar auf Bäume“, erwidere ich.
Verblüfft zieht er die Augenbrauen hoch. „Richtig! Hm, das weiß nicht jeder …“
„Hab‘s mal gelesen. Im Internet. Und ein Foto gesehen von einem Baum voll mit Ziegen. Sah irgendwie cool aus! Werd’s nicht wieder tun. Ich meine, das Gatter öffnen.
“
„Schon gut.“ Er klopft mir auf die Schulter. Besser gesagt, er schlägt. Ich zucke unter der Erschütterung leicht zusammen. Seinem restlichen Körperbau entsprechend ist nämlich auch die Hand wuchtig – eine regelrechte Pranke. Die Berührung sorgt dafür, dass sich das heiße Gefühl in meinem Körper verstärkt. Überall kribbelt es jetzt.
Hektisch rücke ich meine Brille zurecht. „Ist jut … yo, sorry nochmal.“ Meine Güte, das Flattern in meinem Bauch! Kann es bitte aufhören, verdammt!
„Bin übrigens der Franco“, sagt er.
„Ro-bin“, presse ich hervor.
Jetzt hat er wieder diesen Gesichtsausdruck drauf, der in mir die dreckigsten Fantasien auslöst. Eine Millisekunde später bin ich hart. Steinhart.
Robin, verschwinde hier, und zwar augenblicklich!
Bin nicht doof. Natürlich schnalle ich, was er in mir auslöst. Genau das, was ich nicht will. Nach der Aktion von Arschloch-Tim reicht es mir. Ich will nicht, ich will nicht … ich will mich nicht von irgendwelchen Typen verrückt machen lassen, sondern einfach nur ein paar erholsame Tage in den Bergen genießen. Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?
Doch mein Schwanz hält sich nicht daran. Er pocht wie verrückt, während ich den Body betrachte, der unter dem offenen Flanellhemd geradezu unverschämt hervorguckt. Ich kann nicht anders. Mein Blick wandert nun zum wiederholten Mal an ihm auf und ab. Weiß gar nicht, wo ich hingucken soll.
„Ähm, ich muss dann. Bin wieder drüben auf der Terrasse“, sage ich und schaffe es endlich, meinen Blick von ihm loszureißen.
„Sicher“, erwidert er und hört nicht auf, mich cool anzugrinsen.
Hastig mache ich eine halbe Umdrehung und steuere wieder die Terrasse an. Bin vollkommen duselig wegen der Hormone, die sich gerade in meinem Körper ausbreiten. Das heiße Pulsieren in meinem Schritt will einfach nicht
aufhören. Bevor ich ums Eck biege, werfe ich noch einen letzten Blick über meine Schulter und stelle fest, dass er mir nachguckt. Das Pulsieren wird jetzt noch stärker. Heiliger Bimbam …