Zweites Kapitel
Franco
„Himmelherrgott, Wucki halt doch still!“, fluche ich. Habe gerade ihren Euter massiert. Da hat sie aufgestampft und laut gemeckert. Gott sei Dank, hab ich ihren Huf nicht ins Gesicht bekommen. Normalerweise stellt sie sich beim Melken nicht so an. Also probiere ich es halt noch einmal, setze Daumen und Zeigefinger an der Zitze an und beginne zu drücken. Diesmal bleibt sie ruhig. „Brav, Wucki, brav“, murmle ich, während die Milch in den Eimer spritzt.
Als ich mit ihr fertig bin, bringe ich sie zurück in die Koppel. Schließlich kommt Lucki dran, die heute besser gelaunt ist und keine Probleme macht. Grundsätzlich mögen es die drei Ladys ganz gerne, gemolken zu werden, glaube ich. Im Gegensatz zu mir. Ich hasse es, denn das Melken ist jeden Tag meine letzte Arbeit auf der Hütte, bevor ich Feierabend habe. Andere Leute freuen sich darauf, dass die Arbeit irgendwann ein Ende hat. Für mich hingegen wäre es das Schönste, wenn ich nie mehr zurück ins Tal müsste.
Aber was muss, das muss. Nachdem ich die Milchkanne hinüber zur Sennerin gebracht habe, werde ich in mein Auto steigen – wie immer mit einem Grummeln im Bauch. Die Fahrt nach St. Josef und dann weiter nach Schopphausen dauert rund eine halbe Stunde lang. Ich wollte nie in der Stadt wohnen, doch nun bleibt mir nichts anderes übrig. Ich muss. Was mich jeden Abend dort erwartet, wünsche ich niemandem. Und so schnell wird sich an diesem Zustand leider nichts ändern. In meinem Leben ist halt einiges schief gelaufen.
Während ich Lucki melke, dringen ein paar Stimmen in den Stall. Leute, die draußen vor der Koppel stehen und sich unterhalten. Das ist soweit nichts Ungewöhnliches, denn es ist später Nachmittag und um diese Zeit machen sich viele von den Tagesausflüglern auf den Weg ins Tal.
Jetzt horche ich aber auf, denn eine der Stimmen … sie ist hell und klingt angenehm in meinen Ohren. Sie gehört eindeutig diesem Burschen mit der Brille, der vorhin das Gatter geöffnet hat. Und der weiß, dass Ziegen auf Bäume klettern können. Robin! Obwohl er nur wenige Worte gesagt hat, habe ich an seiner Stimme Gefallen gefunden. Und sie ist bei weitem nicht das einzige Süße an ihm. Trotz der unerfreulichen Gedanken an Schopphausen, die ich gerade hatte, grinse ich nun und melke weiter.
Schließlich packt mich die Neugier. Ich lasse von Luckis Euter ab und bewege mich zur Stalltür, bleibe hinter ihr stehen und spähe hinaus. Zu viert stehen sie vor der Koppel. Die Chefin und Rosi. Außerdem ist diese lockige Frau aus dem Josefhof dabei, die immer wieder zu uns heraufkommt – Rosi und sie sind gute Freundinnen.
„Tschüss Rosa-Marie“, sagt die Frau nun. Zur Verabschiedung geben sie sich Bussis auf die Wangen.
Vielmehr interessiert mich aber er … Robin. Er hat zu einer Tolle frisierte braune Haare, die im Sonnenlicht glänzen, und einen ordentlich gestutzten Bart. Seine Haut ist jugendlich glatt. Schätze ihn auf Anfang zwanzig. Gerade unterhält er sich mit der Chefin. Jetzt rückt er seine schwarz umrahmte Brille zurecht. So, wie er es immer wieder macht. Ist mir vorhin schon aufgefallen. Die Brille verleiht ihm ein kluges Aussehen und sein Lächeln löst ein Gefühl in mir aus, das ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gespürt habe. Ich schlucke, denn ich weiß, dass dieses Gefühl in meinem Leben keinen Platz hat.
Besonders groß ist er nicht. Außerdem schlank und drahtig. Einer, den man eigentlich nur knuddeln möchte. Bekleidet ist er mit einem dunkelblauen Polo-Hemd und Jeans, die von seinem Hintern gut ausgefüllt werden. Dazu trägt er Turnschuhe, die zwar sportlich aussehen, für den Weg, der von St. Josef zu uns herauf führt, aber bestimmt nicht geeignet sind. Es ist offensichtlich, dass er mit dem Leben am Berg nichts am Hut hat .
Er wendet sich Rosi zu, um ihr die Hand zu schütteln. Dadurch habe ich plötzlich einen direkten Blick auf seinen Hintern. Jössas, sieht der fest und knackig aus! Müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich bei diesem Anblick keine geilen Gedanken bekäme.
Wieso kann ich nicht aufhören, ihn anzustarren? Ich trete sogar ein Stück weit hinter der Tür hervor, um noch mehr zu sehen. Zu weit, denn in diesem Moment trifft mich Rosis Blick. Sie steht ihm gegenüber und ausgerechnet jetzt hat sie hergeschaut. Ein eindeutiges Grinsen legt sich auf ihre Lippen. Sie zwinkert mir zu. Kruzifix, bestimmt hat sie bemerkt, dass ich schon die längste Zeit den Hintern des Burschen anstarre. Und da es kein Geheimnis ist, dass ich schwul bin, denkt sie sich jetzt bestimmt ihren Teil.
Ich gehe also zurück, setze mich auf den Melkschemel und mache bei Lucki weiter. Als ich mit ihr fertig bin und mit dem vollen Milcheimer den Stall verlasse, steht plötzlich Rosi vor mir. Ja, das habe ich mir denken können, dass sie der Sache jetzt auf den Grund gehen will.
Sie verschränkt die Arme und hat einen verschmitzten Ausdruck im Gesicht. „Ein fescher Bursch, der Robin, nicht wahr?“
„Weiß nicht, was du meinst“, nuschle ich und will mich an ihr vorbeidrängen, obwohl ich gut genug weiß, dass ich Rosi nichts vormachen kann.
„Jo mei, Franco, hab doch gesehen, wie du geschaut hast“, erklärt sie und kichert.
„Hm?“ Grummelnd starte ich einen neuen Versuch, an ihr vorbeizugehen, aber sie stellt sich mir abermals in den Weg.
„Der Robin, er ist der Bruder von der Janine aus dem Josefhof. Also kommt er auch aus Köln. Für ein paar Tage ist er hier. Urlaub“, erklärt sie.
„Soso.“ Ich nicke und versuche so zu tun, als würden mich diese Informationen nicht interessieren, obwohl das genaue Gegenteil der Fall ist .
„Du Franco, ich glaube, er ist auch schwul.“ Aufgeregt klatscht sie in die Hände und ihre Backen färben sich rot. „Die Janine hat einmal etwas in diese Richtung erzählt.“
Ich seufze genervt. „Rosi, bitte lass mich vorbei! Muss die Milch wegbringen und dann los. Du weißt doch, dass ich ja nicht zu spät unten im Tal sein darf.“
„Schon gut.“ Sie tritt demonstrativ einen Schritt zur Seite. Nicht aber, ohne zu fragen: „Soll ich für dich rausfinden, ob er schwul ist, der Robin … und ob er zu haben ist?“
„Rosi!“, zische ich und stapfe an ihr vorbei.
„Ach Franco, wieso stellst du dich so an?“, ruft sie mir hinterher. „Ein Abenteuer würde dir bestimmt guttun und er ist doch ein Süßer, oder etwa nicht?“
„Rosi, du weißt gut genug, dass ich keine Zeit für solche Abenteuer habe“, brumme ich genervt und marschiere davon.
Himmelherrgott, waren meine Blicke wirklich so eindeutig, dass Rosi sofort kapiert hat, was mit mir los ist? Dass ich mich in den Burschen verguckt habe? Na gut, sie ist nicht auf den Kopf gefallen und kennt mich mittlerweile lange genug, um zu wissen, dass ich mich normalerweise nicht hinter der Tür verstecke und Leute angaffe, aber an Robin konnte ich mich halt nicht sattsehen.
Trotzdem könnte sie sich ihre Kommentare sparen. Hat sie mir allen Ernstes gerade ein Techtelmechtel mit ihm vorgeschlagen? Sie weiß doch gut genug, dass ich dafür so etwas wie ein Privatleben bräuchte. Und das habe ich nicht. Deshalb schlage ich mir diesen Robin am besten ruckzuck wieder aus dem Kopf.
Schließlich fülle ich die Milch in eine Blechkanne und mache mich auf den Weg zur Sennerin, die daraus den Ziegenkäse herstellt, den unsere Gäste so sehr lieben. Ich durchquere die Wiese und überschreite die kleine Kuppe. Ihre Hütte, die sich am Sonnenhang befindet, ist aber verschlossen. Sie scheint also gerade bei ihren Kühen zu sein. Also stelle ich die Kanne auf der Türmatte ab und mache mich eilig auf den Rückweg. Zeit für einen Plausch hätte ich sowieso nicht, denn ich darf ja nicht zu spät nach Schopphausen kommen. Das wäre eine Katastrophe.
Als ich wieder zu unserer Hütte zurückkehre, laufe ich schnell hoch ins obere Stockwerk, wo ich mich dusche und die Kleidung wechsle. Als ich damit fertig bin, sind keine Gäste mehr da. Die Chefin und Rosi rücken auf der Terrasse gerade die Stühle zurecht. Es klappert, denn Rosi hat die Kette geholt, mit der sie die Stühle aneinander befestigt. Das ist wichtig, falls in der Nacht ein Unwetter kommt. Das passiert hier auf der Alm relativ häufig.
„Bis morgen“, rufe ich ihnen zu, als ich ins Auto steige. Es ist eine Rostlaube, die nicht einmal mir gehört.
Die Chefin und Rosi winken. „Fahr vorsichtig, Franco!“
Die beiden werden sich bald in ihre Kammern unterm Dach zurückziehen. Sie verbringen den ganzen Sommer hier auf der Alm. Wie herrlich das sein muss! Es gibt dort oben sogar noch eine dritte Kammer, in der niemand wohnt. Im nächsten Sommer vielleicht ich, wenn alles gut geht. Noch habe ich aber diese Verpflichtungen. Wie jeden Abend graut es mir davor, nach Schopphausen zu fahren, aber es führt halt kein Weg daran vorbei. Mein Gott, wie sehr ich den Tag herbeisehne, an dem es endlich ein Ende haben wird!
Es ist eine Quälerei, die ich durchmachen muss, weil ich mit dem Erbe meiner Eltern nicht umgehen konnte.