Neuntes Kapitel
Franco
„Sakra, das darf doch nicht wahr sein!“
Mit voller Wucht trete ich gegen die Eisentür, die natürlich um keinen Millimeter nachgibt. Sie ist hässlich grün, während fast alles andere in diesem Raum in tristem Grau gehalten ist: das Bettgestell, die Wände, das Fenster, das Gitter. Selbst die Kloschüssel, die mitten in der Zelle steht, hat einen gräulichen Ton angenommen.
Jetzt wummert es in meinem Fuß und ich muss ihn schütteln, weil er schmerzt. Auch das noch! Japsend hüpfe ich in der Zelle herum. Dann lasse ich mich auf dem Bett nieder und sinke verzweifelt zusammen. Am liebsten würde ich schreien, bis ich nicht mehr kann, aber das hätte auch keinen Sinn. Rauslassen würden sie mich dann erst recht nicht.
Gleich in der Früh haben sie mich in den anderen Trakt des Gefängnisses gebracht, in den geschlossenen Vollzug. Hier sitzen die richtig harten Jungs und jetzt bin ich wirklich eingesperrt. Ich darf nicht mehr raus, um arbeiten zu gehen. Eine Stunde lang pro Tag ist es mir erlaubt, im Innenhof im Kreis zu gehen. Den Rest der Zeit muss ich in der tristen Zelle sitzen. Wenn ich Pech habe noch monatelang. Na bravo!
Was war nur los mit mir gestern Abend? Was war ich nur für ein Volldepp? Es gibt Regeln hier. Und bisher habe ich mich ja auch nach Punkt und Komma an sie gehalten. Und eine der wichtigsten besagt, dass ich nach der Arbeit um achtzehn Uhr einrücken muss. Allerspätestens.
Tatsächlich bin ich aber erst um halb fünf in der Früh angerauscht, nachdem ich mitten in der Nacht in Robins Hotelzimmer aufgewacht war. Schon während der Fahrt nach Schopphausen war mir klar, was nun mit mir passieren würde. Es hatte zwar einer der netten Beamten Dienst, doch selbst der konnte nichts für mich tun, denn
natürlich hat auch er seine Vorschriften, an die er sich halten muss.
In seinem Fachchinesisch hat er etwas von einer Nichtrückkehr aus dem Freigang
gesprochen. Dann hat er mir kühl erklärt: „Herr Sailer, wir bringen Sie jetzt in den geschlossenen Vollzug.“
Ein Telefonat durfte ich noch führen. Natürlich habe ich in der Hütte angerufen. Rosi hat verschlafen abgehoben. Habe ihr nicht erzählt, dass ich bei Robin war, weil ich ihn nicht auch noch in die Sache reinziehen will, sondern nur, dass ich die ganze Nacht unterwegs war und viel zu spät ins Gefängnis zurückgekommen bin und sie mich deshalb jetzt komplett wegsperren – möglicherweise bis in den Herbst hinein.
Rosi hat sofort zu heulen begonnen und deshalb nicht viele Fragen gestellt. Schluchzend hat sie mir aber versprochen, dass sie sich gut um die Tiere kümmern würde, bis ich wiederkomme. Kann total froh sein, dass es Menschen wie sie und die Chefin gibt. Wenn ich die Viecher nicht gut versorgt wüsste, würde ich jetzt wohl endgültig durchdrehen.
Ich springe wieder auf. Unruhig laufe ich, so gut es in der engen Zelle eben geht, auf und ab. Etwas anderes kann ich hier den lieben langen Tag ohnehin nicht tun. Habe keinerlei persönliche Gegenstände mitnehmen dürfen. Alle meine Dinge werden jetzt in einen Lagerraum gebracht. Was auch immer ich haben möchte – sei es mein Discman oder auch nur das Foto meiner Eltern – muss ich einen schriftlichen Antrag dafür stellen. So hat es mir vorhin der Beamte erklärt.
Als mir meine Sachen abgenommen wurden, musste ich auch meinen Rucksack ausräumen. Als wäre mir nicht ohnehin schon genug Mist passiert, hat sich dabei auch noch der Klappverschluss meiner Wasserflasche geöffnet. Plötzlich war alles nass: mein Geldbeutel, das Handy, die Unterlagen für Dr. Schwaiglehner und von der Serviette mit Robins Telefonnummer waren nur noch ein paar nasse
Fetzen übrig. Die Schrift war nicht mehr zu lesen. Das Handy hab ich noch schnell mit meinem T-Shirt abgetrocknet, bevor ich es hergeben musste. Keine Ahnung, ob es noch funktionieren wird, wenn ich es irgendwann wiederbekomme.
Ich seufze verzweifelt und setze mich auf die Kloschüssel, weil der einzige Stuhl in dieser Zelle so klapprig ist, dass ich fürchte, er könnte im nächsten Moment zusammenbrechen. Nun ja, grundsätzlich kann mir das Missgeschick mit der Serviette egal sein, denn so oder so ist klar, dass ich Robin nie mehr wiedersehen werde. In drei Tagen wird er abreisen, hat er mir erzählt. Sollte ich das Glück haben, dass sie mich irgendwann doch wieder zur Arbeit gehen lassen werden, wird das frühestens in ein paar Wochen der Fall sein. Bis dahin wird mich Robin sowieso vergessen haben. Dann wird es auch keinen Sinn mehr machen, ihn anzurufen. Was soll ich also mit seiner Nummer?
„Essensausgabe!“, ruft jemand draußen auf dem Flur.
Es klackt, dann wird die schwere Eisentür quietschend geöffnet. Ein Blauer steht draußen. Hinter ihm schiebt ein Gefangener den Essenswagen. Lustlos schöpft er nun etwas von der roten Pampe aus dem großen Topf in eine kleine Schale, die er mir überreicht.
„Gulaschsuppe“, murmelt er.
Sekunden später kracht die Tür wieder zu. Es klackt neuerlich. Bin wieder eingesperrt.
An den Knastfraß habe ich mich eigentlich schon gewöhnt, aber heute muss ich nach drei Löffeln aufhören, weil mir kotzübel ist. Was mir bevorsteht, ist kein Vergleich zum offenen Vollzug, in dem es eigentlich viel lockerer zugeht, als ich erwartet habe. Nicht ohne Grund bezeichnen wir ihn spaßeshalber als Jugendherberge. Große Unterschiede gibt’s wirklich nicht, wenn ich an die Stockbetten in den Stuben und die Badezimmer auf dem Flur denke. Der einzige Unterschied besteht darin, dass man nicht kommen und gehen darf, wie man möchte
.
Der geschlossene Bereich ist hingegen der echte Knast. Momentan sitze ich in einer Einzelzelle. Gut möglich, dass ich aber verlegt werde und einen neuen Zellengenossen bekomme. Ricko war ja abgesehen vom Schnarchen und Stinken ganz in Ordnung. Ab und zu haben wir sogar miteinander Backgammon gespielt. Hier sitzen hingegen Leute einer ganz anderen Sorte ein. Monatelang in der Einsamkeit verrecken oder mir mit einem Mörder die Zelle teilen. Keine Ahnung, welche Vorstellung erschreckender ist.
Mein Kopf ist jetzt voller dunkler Gedanken – und das alles nur wenige Stunden, nachdem ich so glücklich war. Robin, der Sex, das Kuscheln … Mein Gott, das Wissen, ihn nie mehr wiederzusehen, verpasst mir einen Stich, der mich innerlich zusammenzucken lässt. Es ist noch tausendmal schlimmer als die Aussicht, für die nächsten drei Monate in dieser einsamen Zelle hocken zu müssen.
Was war ich nur für ein Depp! Hab mir tatsächlich eingebildet, es könnte irgendwann mit einem Wiedersehen klappen. War wohl noch vom Ficken benebelt, als wir im Bett darüber philosophiert haben. Hatte ich etwa vergessen, dass ich ein Knacki bin? Mittlerweile einer, der in der geschlossenen Abteilung einsitzt. Tiefer kann man im Leben nicht sinken. Robin hingegen ist nicht nur der süßeste Typ der Welt, sondern auch so wahnsinnig klug. Student. Gebildet. Wie sehr ich darauf stehe, wenn er an seiner Brille ruckelt und einen weisen Spruch zum Besten gibt! Es gibt kein Thema, zu dem er nicht irgendetwas Schlaues sagen kann, das er im Internet gelesen hat. Hm, so einer spielt halt in einer anderen Liga als ich. Seine Schwester ist sogar die Chefin im Josefhof. Ganz bestimmt wird auch er total erfolgreich. Warum sollte er sich denn mit einem Knacki abgeben? Wir passen ungefähr so gut zusammen wie Zuckerwatte und Tabasco.
In ein paar Tagen wird er zurück nach Köln reisen. Wann auch immer ich hier wieder rauskommen werde – er wird mich dann längst vergessen haben. Süße Typen wie er
bleiben in der Regel nicht lange am Single-Markt. Im Herbst wird er längst wieder vergeben sein. Ein Gedanke, der dafür sorgt, dass sich ein kalter Knoten in meinem Bauch bildet. Kruzifix, ich will nicht, dass ihn jemand anderer anfasst! Wut steigt in mir auf. Ist es Eifersucht? Nein, das ist doch lächerlich!
Trotzdem kann ich nichts gegen dieses Gefühl unternehmen. Bin hilflos und vergrabe meinen Kopf unter meinen Händen. Meine Schultern beginnen zu beben. All den Mist, der mir in letzter Zeit passiert ist, hab ich relativ wacker ertragen, aber jetzt kann ich nicht mehr stark sein. Tränen schießen mir in die Augen und rinnen über meine Wangen.