Elftes Kapitel
Franco
Wumm, wumm, wumm …
Mit dem schweren Fäustel schlage ich einen Holzpflock in den Boden. Lucki legt den Kopf schief und beobachtet skeptisch, was ich hier treibe, während Wucki und Mucki ungerührt grasen. Der Zaun der Koppel muss erneuert werden. Es hat in den letzten Wochen viel geregnet und einige Pflöcke sind morsch geworden.
Die hintere Koppel, jene von Figo und den Schafen, ist nur von einem einfachen Drahtzaun umgeben. Weil Ziegen wahre Ausbruchskünstler sind, muss der Zaun der vorderen aber viel massiver sein und darf ja keine Lücken aufweisen. Lucki und Wucki haben bereits mehr als nur einmal unter Beweis gestellt, wie gut sie klettern können.
Weil mir der Schweiß in Bächen übers Gesicht rinnt, muss ich pausieren. Ich ziehe das Arbeitshemd aus und wische mir damit über die Stirn. Bereits vor einigen Tagen ist die Regenfront nämlich abgezogen und jetzt herrscht wieder heißes Augustwetter.
Mein Oberkörper ist aber weiß wie Ziegenkäse. Nicht verwunderlich nach zwei Monaten im geschlossenen Vollzug. Die eine jämmerliche Stunde pro Tag, die ich in den Hof durfte, war natürlich viel zu wenig, um eine halbwegs gesunde Hautfarbe zu behalten. Umso mehr genieße ich jede Minute, die ich jetzt wieder auf der Alm sein darf.
Nachdem ich wochenlang alles dafür getan hatte, mich wie ein Musterhäftling zu benehmen und ja nirgends anzuecken, ist es letzten Dienstag endlich passiert. Plötzlich wurde meine Zelle geöffnet und zwei Blaue standen draußen.
„Herr Sailer, Sie dürfen jetzt wieder rüber. Packen Sie ihre Sachen!“, sagte der eine .
„Was?“ Etwas Sinnvolleres brachte ich in diesem Moment nicht heraus. Von innen drückte etwas gegen meine Augen. Beinahe wäre ich dem Beamten heulend um den Hals gefallen, aber Gott sei Dank schaffte ich es, mich rechtzeitig zusammenzureißen. Also nickte ich nur und murmelte schließlich: „Gut, danke.“
Die vielen Wochen in meiner einsamen Zelle haben mich stark mitgenommen. Die meiste Zeit saß ich wie ein Häufchen Elend auf meinem Bett und tat nichts … absolut nichts. Immer wieder habe ich leise vor mich hingeweint. Bei den Gesprächen mit Frau Struck, der Sozialarbeiterin, bekam ich sogar richtige Heulkrämpfe, obwohl ich ein Typ bin, der normalerweise nicht weint. Vor meiner Zeit im geschlossenen war es das letzte Mal auf dem Begräbnis meiner Eltern der Fall.
Frau Struck ist eine hochanständige Frau! Ich weiß, dass ich meine Rückverlegung in den offenen hauptsächlich ihr zu verdanken habe. Hätte sie sich nicht für mich eingesetzt, würde ich vermutlich immer noch alleine in der Zelle sitzen.
Jetzt ist meine Haft zwar noch nicht zu Ende, aber es sind nur noch drei Wochen. Und allein die Tatsache, dass ich nun wieder arbeiten und meine Tiere sehen darf, weckt die Lebensgeister in mir. Motiviert greife ich also wieder zum Fäustel und schlage die nächsten Pflöcke in die Erde. Wumm, wumm, wumm … Immer schon war ich gerne auf der Alm, jetzt genieße ich jede Stunde, die ich hier sein darf, als würde ich mich in einem Luxushotel befinden.
„Das ist der Franco, unser guter Geist.“
Ich lasse den Fäustel sinken und drehe mich um. Rosi unterhält sich gerade mit einem Typen mit blondierten Haaren und einer seltsamen entenhaften Körperhaltung. Sein Blick wandert mehrmals an mir auf und ab, so als wären wir hier auf einer Fleischbeschau.
„Ein richtiger Handwerksbursche, der Franco, gell.“ Rosi kichert. Abwechselnd schaut sie mich und den Blondierten an, dann zwinkert sie uns erwartungsvoll zu .
„Hallöchen, bin der Jens“, flötet der Blondierte. Er streckt mir die Hand hin, knickt das Gelenk unnatürlich ab und wackelt merkwürdig mit dem Kopf.
„Servus“, brumme ich, als ich ihm die Hand schüttle.
„Der Jens ist aus München und für ein paar Tage auf Urlaub in St. Josef“, erklärt Rosi in ihrer typischen Aufgeregtheit. Ihre Hände wirbeln durch die Luft.
„Schön. Hoffe, es gefällt dir hier“, erwidere ich in Richtung des Blonden und wende mich im nächsten Moment wieder dem Pflock zu. Innerlich seufze ich.
Himmelherrgott, Rosi! Kaum haben sie mich aus dem Kerker gelassen, schon versucht sie wieder, mich mit irgendjemandem zu verkuppeln. Da genügt es, dass ein Gast auftaucht, der schwul aussieht, schon kriegt sie rote Backen und kichert in einer Tour.
Weiterhin spüre ich die Blicke des Blonden in meinem Rücken, hämmere aber unverdrossen weiter und schenke ihnen keine weitere Beachtung mehr.
„Ja mei, gemma halt zurück auf die Terrasse“, sagt Rosi, als sie offenbar kapiert, dass sie mir mit diesem Blondie auf die Nerven geht.
Muss mit ihr wohl mal ein ernstes Wörtchen reden. Sie soll ihre Kuppelaktionen bitte schleunigst einstellen. Hat letztes Mal ja geradewegs in eine Katastrophe geführt. Na gut, das weiß Rosi halt nicht … Habe behauptet, dass ich im geschlossenen gelandet wäre, weil ich am Abend noch im Wirtshaus eingekehrt wäre und dort einen über den Durst getrunken hätte. Dass ich bei Robin war, habe ich ihr genauso verschwiegen wie die Tatsache, dass ich mich in ihn verliebt habe und sich an diesem Zustand bislang nichts geändert hat.
Pfingsten ist jetzt zwei Monate her. Zwei Monate, in denen ich leider viel zu viel Zeit zum Nachdenken hatte. Keine guten Voraussetzungen, um jemanden zu vergessen.
Robin … Es reicht, wenn ich seinen Namen leise ausspreche, schon kommt mein Herz ins Stolpern. Daran hat sich nichts geändert … leider! Mein Gott, wie sehr mir se ine klugen Sprüche abgehen. Das Flattern seiner Wimpern, die helle, schöne Stimme. Wie sehr ich es mochte, wenn er schüchtern und ein bisschen verloren vor mir stand und mich zärtlich anschaute – ich musste ihn jedes Mal knuddeln und küssen. Seit zwei Monaten habe ich ihn nun nicht mehr gesehen und in dieser Zeit sind meine Gefühle für ihn nur noch tiefer geworden.
Als sie mir am Dienstag meine Sachen zurückgegeben haben, habe ich natürlich überlegt, ob ich soll oder nicht und wenn ja, wie ich es anstellen könnte, ihn … naja, zu kontaktieren. Nach dem blöden Missgeschick mit der Wasserflasche hab ich ja seine Nummer nicht mehr. Und momentan besitze ich nicht einmal ein funktionierendes Handy. Meines hat das Wasser ebenfalls nicht überlebt und sich nicht einmal mehr einschalten lassen, als ich es zurückbekommen habe.
Wieder einmal habe ich aber das Glück, von tollen Menschen umgeben zu sein. Rosi hat gestern erzählt, dass unten in St. Josef vor kurzem ein neuer Laden aufgemacht hat, in dem sie allerhand Technik-Schnickschnack verkaufen, und die Chefin hat mir etwas Geld gegeben, damit ich mir ein neues Handy holen kann. Brauche ja nichts Besonderes, sondern nur eines, mit dem ich telefonieren kann. Sobald ich mit dem Zaun fertig bin, werde ich also hinunter in den Ort fahren und mich in dem Laden mal umschauen.
Na ja, wenn ich schon in St. Josef bin, könnte ich natürlich auch probieren, ob sie mich im Josefhof zur Chefin durchlassen. Sie ist ja Robins Schwester. Vielleicht gibt sie mir seine Nummer oder richtet ihm zumindest aus, dass ich ihn gerne sprechen würde.
Wieder einmal seine Stimme hören und sei es nur am Telefon – bei dem Gedanken setzt sich der Kreisel in meinem Bauch wieder in Bewegung und ein heißes Gefühl steigt in mir auf, aber mein Verstand befiehlt mir, es sein zu lassen. Denn es ist zu spät, um mich bei ihm zu melden. Ganz bestimmt hasst er mich dafür, dass ich nach unserem Rendezvous so sang- und klanglos von der Bildfläche verschwunden bin. Ich könnte es ihm nicht verdenken. Oder vielleicht kann er sich sowieso gar nicht mehr an mich erinnern. Muss mir ja nichts vormachen. Robin lebt in Köln, einer Stadt, die für ihr ausschweifendes schwules Leben bekannt ist. Dort läuft der Hase anders als in St. Josef. Wahrscheinlich hat er längst jemanden anderen kennengelernt. Ich lasse den Fäustel sinken und halte ein paar Momente lang inne. Himmelherrgott, nein! Ich verscheuche diese Vorstellung aus meinem Kopf, denn sie macht mich nur wütend.
Sofort widme ich mich dem nächsten Pflock. Wumm, wumm, wumm … Ja, auch wenn es sich anfühlt wie ein tiefer Nadelstich, ist es wohl besser, wenn ich das Kapitel Robin ein für alle Mal abhake. Gibt‘s vielleicht einen Trick, wie man es schaffen kann, nicht mehr ständig an jenen Burschen denken zu müssen, in den man unglücklich verknallt ist? Wenn ja, würde ich ihn gerne kennen.
Nachdem ich den letzten morschen Pflock ersetzt habe, trete ich einen Schritt zurück und betrachte mein Werk. Gut, der Zaun sollte den Ladys jetzt wieder standhalten. Als ich den Fäustel zurück in die Abstellkammer trage, mache ich auf der Kuhweide hinter den Koppeln in einiger Entfernung eine Frau aus. Im nächsten Moment strahle ich, denn es ist Gundula, die mittlerweile auch mich bemerkt hat und auf mich zuläuft.
„Servus Franco“, ruft sie. Als sie mich erreicht, ist sie etwas außer Atem, weil sie so schnell gelaufen ist. Sie sammelt sich wieder. „Wir schauen gerade, ob bei den Viechern alles in Ordnung ist. Huhu, Gerfried, huhu!“, schreit sie und macht mit ihrer ausgestreckten Hand eine scheibenwischerartige Bewegung. Erst jetzt bemerke ich Gerfried, der gerade zwischen den Kühen umherstapft. Als er auf Gundis Rufe aufmerksam wird, steuert er auf uns zu.
„Na, hast es jetzt überstanden, die schlimme Zeit?“, fragt Gundi in dem liebevollen Tonfall, der für sie typisch ist. Sie ist eine fröhliche Frau. Ihre wilden Haare, die früher rot waren, mittlerweile aber von vielen grauen Strähnen durchzogen sind, werden von einem Stirnband gebändigt.
„M-hm, seit Dienstag darf ich wieder zur Arbeit raus“, sage ich zu ihr. „Jetzt sind’s nur noch drei Wochen.“
„Na endlich!“ Sie reibt mir die Schulter und legt den Kopf schief. „Dann ist’s ja bald vorbei, hm?“
„Kann’s kaum erwarten“, murmle ich.
„Mei, das glaub ich dir.“
Jetzt erreicht uns auch Gerfried, der einen Weidestock dabeihat. „Hola Amigo!“, ruft er und hebt den Stock.
„Servus Gerfried.“ Wir begrüßen uns mit einem freundschaftlichen Handschlag.
Ich freue mich wahnsinnig, die beiden zu sehen. Sobald Gundi und Gerfried in meiner Nähe sind, fühle ich mich wohl. Das war immer schon so. Die beiden strahlen so viel Lebensfreude aus. Sobald sich ihnen ein Problem in den Weg stellt, genügt ein Fingerschnipp und sie haben es gelöst – zumindest erwecken sie diesen Eindruck.
Neben Rosa-Marie und der Chefin gehören Gundi und Gerfried zu den wenigen Leuten in St. Josef, die von meinem Knastaufenthalt wissen. Eigentlich hatte ich mit ihnen die Vereinbarung, dass ich während des Sommers auf ihre Almkühe schaue und dafür im kommenden Winter bei ihnen auf dem Hof wohnen und die Ladys in ihrem Stall unterstellen darf.
Weil ich nun aber fast den ganzen Sommer lang anderwärtige Verpflichtungen hatte, konnte ich dieser Aufgabe leider nicht nachkommen. Deshalb mussten sie selbst regelmäßig auf die Alm kommen.  Keine Ahnung, ob ihr Wohnangebot unter diesen Umständen noch gilt. Kann es keinesfalls erwarten. Ich sollte die Gelegenheit also gleich nutzen, um dies zu klären.
So schön es auch ist, dass sich in drei Wochen die Knasttüren ein letztes Mal hinter mir schließen werden – ich werde danach obdachlos sein. Habe früher in dem Häuschen auf dem Zoogelände gewohnt, das ich räumen musste. Die Gemeinde wird es wohl bald an jemanden anderen verpachten. Vielleicht kann ich noch ein paar Wochen lang in der Hütte wohnen, doch die wird Mitte Oktober geschlossen, weil es danach auf der Alm richtig ungemütlich wird, auch wenn dies am heutigen heißen Augusttag kaum vorstellbar ist. Die Chefin und Rosa-Marie haben unten in St. Josef nur eine kleine Wohnung, die gerade einmal für sie beide reicht. Sprich: Ich bin auf Gundula und Gerfried angewiesen.
„Bin jetzt wieder hier“, erkläre ich und halte mir zwei Finger zu den Augen, die ich in Richtung der Kühe schwinge, um zu zeigen, dass ich alles im Blick habe.
„Wissen wir, ja, wissen wir“, antwortet Gundi. „Trotzdem wollten wir mal heraufkommen. Natürlich auch, um nach dir zu sehen. Die Gerti hat uns gesagt, dass du tagsüber jetzt wieder hier bist.“ Sie streicht mir über die Wange und wirft mir einen mütterlichen Blick zu. „Sag Franco, wann kommst denn zu uns und schaust dir an, welche Kammer wir dir für den Winter herrichten sollen?“
Ein Riesengefühl der Erleichterung kommt in mir auf, während Gerfried seiner Frau zunickt. „Gibt im ganzen Tal keinen, der sich mit den Viechern besser auskennt als du“, sagt er und knufft mich von der Seite. „Wirst uns eine große Hilfe im Winter sein, Amigo!“
Danach ergreift Gundi wieder das Wort. „Und stell dir vor, wir haben vorige Woche kleine Zickleins gekriegt. Die Molly hat geworfen. Gleich drei Stück“, sagt sie und klatscht voller Begeisterung in die Hände. „Gemeinsam mit deinen Ladys werden wir dann also einen richtigen Ziegenhaufen haben. Ist das nicht toll?“ Sie strahlt mich an und auch meine Mundwinkel schnellen nach oben.
Habe jetzt eine Sorge weniger, komme mir aber gleichzeitig dumm vor. Wie konnte ich von Gundi und Gerfried nur denken, dass sie mich auf der Straße sitzen lassen würden. Sie sind hochanständige Leute. Hatte ich das etwa vergessen?
„Danke“, erwidere ich. „Werd‘ euch im Winter helfen, wo ich kann, ich versprech’s.
„Mei, wir freuen uns schon auf dich.“
Nachdem sich die beiden wieder auf den Weg ins Tal gemacht haben, schlüpfe ich in mein Arbeitshemd und gebe der Chefin Bescheid, dass ich nun wegen des Handys in den Ort fahren werde. Als ich auf dem Weg zum Auto bin, verfinstert sich der Himmel. Dunkle Wolken sind aufgezogen und schon fallen die ersten Tropfen.
Im Laufschritt erreiche ich den Wagen und brause los. Ich nehme die ersten Kehren der Forststraße und der Regen wird stärker. Nach dem Gespräch mit Gundi und Gerfried ist meine Laune aber mehr als sonnig. Nach all dem Mist, der mir passiert ist, wendet sich langsam, aber doch einiges dem Guten zu. Nur noch drei Wochen Knast und danach sind ich und die Ladys erst einmal für das nächste halbe Jahr versorgt. Werde alles tun, damit ich danach endlich wieder auf eigenen Beinen stehen kann. Aber natürlich muss mir bis dahin auch noch eine andere Sache gelingen: Ich muss Robin endlich vergessen!