Vierzehntes Kapitel
Robin
Die beiden Koffer, die ich gerade auf den Hotelparkplatz schleppe, sind aus schwarzem Hartplastik und haben die Form von langen Rechtecken. Ich folge Leo, der ebenfalls zwei solcher Ungetüme trägt. Darin befinden sich seine E-Gitarren. Wozu man auch immer gleich vier Stück davon braucht? Ein junger Hotelmitarbeiter mit blonder Scheitelfrisur hilft uns beim Beladen des Wagens. Mit einer von Janines Bücherkisten stapft er hinter mir über den Kiesweg.
„Wie viel ist denn jetzt noch oben?“, will ich von Leo wissen, nachdem wir den Kastenwagen erreicht und alles hineingeschlichtet haben.
„Nur noch vier, vielleicht fünf Kisten“, antwortet er. „Und die Kommode müssen wir noch zerlegen.“
„Okay, alles klar.“
Wieder oben angekommen, mache ich mich mit dem Schraubenzieher über das Möbelstück her. Die Dienstwohnung befindet sich direkt unter dem Dach. Entsprechend heiß ist es. Ich wische mir über die Stirn und löse die ersten Schrauben, während sich Leo und sein Kollege mit den nächsten Kisten auf den Weg nach unten machen. Ist mir ganz recht. Lieber arbeite ich alleine, denn nach Reden steht mir nicht der Sinn.
Knast, Knast, Knast , hallt es immer wieder durch meinen Kopf. Franco sitzt also im Knast! Die Info, die er mir gestern serviert hat, ist wirklich starker Tobak. Nur weil ich todmüde war, habe ich einschlafen können. So haben meine Gedanken eben erst wieder heute Früh zu rasen begonnen.
Das Bild, das ich von ihm hatte, war offenbar total verkehrt. Hatte ihn als coolen Kerl mit weichem Kern wahrgenommen. Als einen, der ein liebevolles Gemüt hat und in Wirklichkeit keiner Fliege etwas zuleide tun kann, aber meine Güte, er ist ein Knastbruder! Na gut, angeblich nicht, weil er jemandem den Schädel eingeschlagen hat oder so, aber trotzdem … Er nannte es eine Geldsache – irgendetwas mit diesem Zoo. Mehr hat er nicht gesagt, für mich hörte es sich jedenfalls sehr nach Finanzbetrug an.
Franco, ein Betrüger?
Eine Vorstellung, die mir die Luft raubt. Ich lege den Schraubenzieher weg, weil ich eine Pause brauche. In meinem Kopf hämmert es, denn die Sache mit dem Knast ist ja nicht das Einzige, was er mir gestern gestanden hat.
Er will mehr , hat er gesagt. Mehr! Sein Doppelleben als Familienvater war also offensichtlich wirklich nur ein Hirngespinst von mir. Im Klartext: Der Typ, in den ich seit zwei Monaten hilflos verknallt bin, ist wohl doch schwul und will etwas von mir … eigentlich müsste ich superhappy sein und mit knallroten Ohren hinauf zur Hütte laufen, ihm um den Hals fallen, ihn küssen, bis wir keine Luft mehr kriegen, und ihn dann fragen, wann wir uns wiedersehen werden, um uns endlich richtig kennenzulernen. Ja, er könnte nach Köln kommen oder ich würde noch einmal nach St. Josef reisen, muss ja nicht im Kastenwagen sein. Es gäbe so viele Möglichkeiten und jede hört sich himmlisch an.
Nur macht sich in mir ein Gefühl breit, das sich vollkommen anders anfühlt, nämlich beklemmend. Himmel, warum muss alles so kompliziert sein?
Mehr als ein Denke schon habe ich nicht rausgebracht, als er mich nach einem Wiedersehen gefragt hat. Und obwohl ich mir seit heute Morgen durchgehend den Kopf zerbreche, bin ich bis jetzt kein bisschen schlauer geworden. Mensch, ich kann mich doch nicht auf einen Betrüger einlassen!
Mal im Ernst, ziehe ich Leute an, die es nicht ehrlich meinen? Es gab ja nicht nur Tim. Vor ihm hatte ich zwei richtige Beziehungen: Felix, acht Monate lang, begonnen hat es kurz nach dem Abi, und Steffen, zwei Jahre lang, als ich schon zur Uni ging. Beide Male war es dasselbe Spiel: Sie haben hinter meinem Rücken andere gevögelt und ich bin irgendwann dahintergekommen. Daher weiß ich, wie es sich anfühlt, jemanden zu lieben, der nicht aufrichtig ist. Nämlich absolut beschissen.
Wäre Franco aufrichtig, würde er nicht im Gefängnis sitzen. Ich kann unehrliche Leute nicht ausstehen! Warum sollte einer, der in Geldangelegenheiten nicht ehrlich ist, es in der Liebe sein? Das muss ich mir immer wieder vor Augen halten.
Aber wieso zur Hölle noch einmal rinnt jedes Mal, wenn ich mir innerlich vorsage, dass er mehr von mir will, ein heißes Kribbeln über meine Haut? Warum wird es intensiver, wenn ich an das Franco-Grinsen denke, das er mir, unmittelbar nachdem er es gesagt hatte, geschenkt hat? Nur für einen klitzekleinen Moment, aber lange genug, sodass ich einen Blick auf seine sexy Zahnlücke erhaschen konnte. Hach … Mensch, diese Gefühle sind doch total unsinnig. So renne ich nur in mein eigenes Unglück. Wieder einmal! Es ist zum aus der Haut fahren!
Fest steht: Ich muss Franco unbedingt noch einmal sprechen! Gestern war ich völlig überfordert mit der Situation und habe kaum ein Wort rausgebracht. Kann es doch nicht bei dem Denke schon belassen und auf Nimmerwiedersehen abhauen. Dann wäre ich ja um keinen Deut besser! So einer bin ich nicht. Ich will klare Verhältnisse, auch wenn sie wehtun.
Jetzt löse ich die letzten Schrauben und schlichte die einzelnen Kommodenteile aufeinander. In diesem Moment kommen Leo und sein Kollege zurück.
„Boah, Training brauch ich in nächster Zeit keins mehr“, meint Leo lachend und schüttelt seine Arme aus. „Diese Dinger sind vielleicht schwer.“ Ächzend hebt er die nächste Bücherkiste hoch.
„Ähm … Leo, um zwei Uhr wollten wir los, oder?“, frage ich ihn.
Er stellt die Kiste wieder ab. „Wäre gut, ja. Sonst sind wir doch die ganze Nacht lang unterwegs.
Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und checke die Uhrzeit. Kurz vor zwölf. Noch zweieinhalb Stunden. „Wäre es okay, wenn ihr den Rest alleine einräumt? Hätte noch etwas zu erledigen“, erkläre ich.
Leo guckt irritiert. „Wenn du meinst. Hm … sicher, kein Problem.“ Er zuckt mit den Schultern und zum Glück ist Leo ein Typ, der nie viele Fragen stellt, denn ich habe gerade wirklich keine Lust, ihm zu erklären, warum ich jetzt unbedingt auf die Alm muss. „Sieh aber zu, dass du um zwei wieder hier bist, okay?“, sagt er schließlich.
„Yep, bis später“, antworte ich und mache mich schnell aus dem Staub.
Den Weg kenne ich noch gut. Als ich mich vom Josefhof entferne, den See halb umrunde und in den Almweg einbiege, fühle ich mich elend. Mein Herz stemmt sich mit aller Kraft gegen das, was mein Verstand vorhat. Es trommelt so heftig, dass ich glaube, meine Brust zerspringt im nächsten Moment. Dass ich ihn liebe, ihn am liebsten sofort einpacken und mit nach Köln nehmen will, muss doch eine Einbildung sein! Ich kann mich doch nicht auf einen Betrüger einlassen, verdammt noch mal! Es wäre das Dümmste, was ich nur machen könnte.
Ich erklimme den steilen Waldweg. Richtig ins Schwitzen komme ich aber erst, als ich die flache Almwiese durchquere, denn die Hütte befindet sich jetzt vor meinen Augen und kommt mit jedem Schritt näher. Schließlich erreiche ich den Stall und die Koppel. Die drei Ziegen gucken mich neugierig an und meine Knie sind weich wie Pudding.
„Franco?“, rufe ich. Er ist nicht hier, also steuere ich die Terrasse an, um dort nachzusehen. Ein heißer Blitz durchfährt mich, denn er ist gerade ums Eck gekommen und steht jetzt vor mir.
Er trägt wieder dieses Flanellhemd wie damals, als ich ihn zum allerersten Mal gesehen habe. Nur ein Knopf oberhalb des Bauchnabels ist verschlossen, sodass sein Sixpack darunter hervorblitzt. Die Hose hat er zu den Knien hochgekrempelt. Seine sexy Waden mit den feinen Härchen, die so angenehm auf meiner Haut gekitzelt haben, meine Güte … Ich schlucke, denn ich muss mich jetzt darauf konzentrieren, ihm zu sagen, was Sache ist.
Er hat einen Eimer in der Hand, den er abstellt. Erstaunt zieht er die Augenbrauen hoch. „Robin“, murmelt er, „du bist wiedergekommen …“ Jetzt ist das Franco-Grinsen wieder da und mich durchfährt ein wohliger Schauer. Bumm, bumm, bumm , macht mein Herz. Nein, nein, es soll aufhören, und zwar augenblicklich!
„Franco, ich bin gekommen um …“
Himmel, ich schaffe es nicht, mich zusammenzureißen, sondern falle ihm um den Hals und küsse ihn. Er erwidert den Kuss und übernimmt die Führung. Es ist ein typischer Franco-Kuss. Seine Zunge erobert mich und sorgt dafür, dass in mir alle Drähte zu schmoren beginnen.
Nein, Robin, nein! Wenn du jetzt weitermachst, wirst du am Ende wieder nur unglücklich sein! Es ist doch jedes Mal dasselbe!
Am liebsten würde ich ihm sagen, dass ich bis über beide Ohren in ihn verliebt bin. Mein Verstand brüllt und versucht mir mit allen Mitteln klarzumachen, dass es ein verdammter Fehler wäre.
Er wird dich nur unglücklich machen. Unehrliche Menschen haben dich immer unglücklich gemacht, hast du das etwa vergessen?
Solange der Kuss andauert, gelingt es mir, die Schreie in meinem Kopf zu ignorieren. Als sich unsere Lippen voneinander gelöst haben, sammle ich mich, denn ich will es durchziehen. Ich will Klarheit. Jetzt!
„Franco, ich finde, es ist besser, wenn wir uns nicht wiedersehen“, sage ich. Kaum ist der Satz ausgesprochen, fühle ich mich so, als würde mich jemand mit Tausend Nadeln malträtieren.
Das Funkeln in seinen Augen verschwindet schlagartig. Nun ist sein Blick matt. Er weicht ein Stück zurück. Der Eimer scheppert, weil er dagegengetreten ist.
„Aber Robin …
„Glaub mir, es ist besser so. Es wird nicht funktionieren, tut mir leid“, sage ich noch. Dann drehe ich mich um und laufe los. Will wieder runter ins Tal und so schnell wie möglich raus aus St. Josef.