Als der Sommer endlich kam, war er feucht und stickig. Die Tage waren zu lang für einen Mann der Nacht. Das endlose Tageslicht hing herum wie ein unhöflicher Gast, das nördliche Zwielicht wollte einfach nicht gehen. An Sommertagen fiel Big Shug das Schlafen besonders schwer. Die Sonne ließ die dicken Vorhänge lila leuchten, und die Kinder waren am lautesten, wenn sie am glücklichsten waren, ständig ging die Tür, und Teenager aus anderen Wohnungen und Frauen in Riemchensandalen schlappten über den Teppich im Flur, rosa Füße und Mäuler, die rund um die Uhr Krach machten.
Dann brach endlich die Nacht herein und Big Shug wendete sein Taxi in einem kleinen engen Kreis. Der schwarze Hackney drehte sich wie ein dicker Hund, der seinen Schwanz jagt, und verließ die Sighthill-Siedlung. Beim Anblick der Lichter von Glasgow entspannte sich Shug in seinem Sitz, und zum ersten Mal an diesem Tag ließ er die Schultern von den Ohren sacken. Für die nächsten acht Stunden gehörte die Stadt ihm, und er hatte Pläne.
Er wischte das Seitenfenster sauber und sah sich lange im Außenspiegel an. Lächelnd stellte er fest, wie gut er aussah: weißes Hemd, schwarzer Anzug, schwarze Krawatte. Ein bisschen übertrieben für die Arbeit, sagte Agnes, aber die redete dieser Tage sowieso zu viel. Das Lächeln wanderte durch seinen Körper, und er fragte sich, ob ihm das Taxifahren im Blut lag. Für ihn und seinen Bruder Rascal war es praktisch eine Art Familienbetrieb. Für seinen Vater wäre es auch was gewesen, hätte ihn der Schiffbau nicht zur Strecke gebracht.
Shug hielt an der Ampel im Schatten des Krankenhauses und beobachtete eine Schar Krankenschwestern, die heimlich rauchten. Wie sie mit verschränkten Armen die Brüste hochdrückten. Sie rauchten, ohne die Hände zu benutzen, um nicht zuviel Körperwärme zu opfern. Er grinste langsam und beobachtete seine Reaktion im Spiegel. Die Nachtschicht stand ihm eindeutig am besten.
Er streifte gern allein durch die Dunkelheit und sah sich die Schattenseiten an. Dann kamen die Gestalten heraus, die die graue Stadt zugrunde gerichtet hatte, konserviert von Jahren des Trinkens, des Regens und der Hoffnung. Menschen zu transportieren war sein Auskommen, doch am liebsten beobachtete er sie.
Die dünne Fensterscheibe seufzte, als er sie herunterließ und sich eine Zigarette anzündete. Der Wind stieß herein, und sein langes dünnes Haar tanzte wie Strandgras in der Brise. Er hasste es, dass er kahl wurde, hasste es, älter zu werden; alles wurde harte Arbeit. Er stellte den Spiegel tiefer ein, damit er seine Platte nicht sehen musste. Er betastete seinen langen, dichten Schnurrbart und streichelte ihn abwesend wie ein Haustier. Darunter zitterte sein Doppelkinn. Er stellte den Spiegel wieder nach oben.
Die Glasgower Straßen glänzten im Regen und im Laternenlicht. Die Krankenschwestern blieben nicht lang, schnippten halbgerauchte Zigaretten in die Pfützen und schlurften wieder hinein. Shug seufzte, bog ab und fuhr an Townhead vorbei in Richtung Zentrum. Er mochte die Fahrt von Sighthill herunter, es war wie der Abstieg ins Herz der viktorianischen Finsternis. Je näher am Fluss, dem tiefsten Punkt der Stadt, desto weiter öffnete sich das wahre Glasgow. Versteckte Nachtclubs unter dunklen Eisenbahnbögen und geschwärzte, fensterlose Pubs, in denen alte Männer und Frauen an sonnigen Tagen in einer schwitzenden, beißenden Vorhölle schmorten. Unten am Fluss boten sich dünne, nervös blickende Frauen Männern in polierten Kombis feil, und manchmal fand die Polizei dort später ihre zerhackten in schwarze Müllsäcke verpackten Einzelteile. Am Nordufer des River Clyde war die städtische Leichenhalle, und es schien passend, dass die verlorenen Seelen in diese Richtung drifteten, als wollten sie keine Umstände machen, wenn ihre Zeit endlich gekommen war.
Als Shug am Bahnhof vorbeifuhr, war er froh, dass am Taxistand dort viele Fahrer und wenig Kunden standen. Touristen waren langweilig, redselig und geizig. Erst dauerte es eine Ewigkeit, bis man das Riesengepäck in den Kofferraum gehievt hatte, dann dampften sie einem in ihren quietschenden Regencapes das Taxi voll. Das hässliche, verkniffene Pack konnte sich die zehn Cent Trinkgeld in den Arsch schieben. Hämisch hupte er in Richtung der Jungs und fuhr weiter zum Fluss runter.
Regen war Glasgows Naturzustand. Er hielt das Gras grün und die Bürger bleich und bronchialbelastet. Für das Taxigeschäft war er unerheblich. Das Problem war, man entkam ihm nicht, und die ewige Feuchtigkeit durchdrang sowieso alles, im Bus genauso wie im Fond eines teuren Taxis. Andererseits bedeutete der Regen, dass die jungen Mädchen vom Tanzen mit dem Taxi nach Hause wollten, um sich das toupierte Haar und die spitzen Schuhe nicht zu ruinieren. Deswegen mochte Shug den endlosen Regen.
Er fuhr in die Hope Street und reihte sich dort am Taxistand ein. Es dürfte nicht lange dauern. Nur zwei oder drei der alten Jungs standen da und warteten auf Kundschaft. Von hier war es ein Katzensprung zu den Tanzlokalen auf der Sauchiehall Street und ein kalter Marsch für die Ladys, die am Blythswood Square anschafften. So oder so, es war ein guter Ort für eine interessante Nacht.
Shug saß rauchend in der Plörre und lauschte dem Knistern des CB-Funks. Die Dispatcherin kündigte Kunden oben in Possil und Fahrten runter zur Trongate an. Joanie Micklewhite war die einzige Stimme im Äther, und Shug lauschte jede Nacht dem gebetsmühlenartigen Monolog, wenn sie Hilfe anforderte, Antworten abwartete, Aufträge erteilte und Frechheiten abwürgte. Immer nur das halbe Gespräch, als redete sie mit sich selbst oder als redete sie, dachte er, nur mit ihm. Er mochte den friedlichen Klang ihrer Stimme. Irgendwie tröstete sie ihn.
Er rauchte die Zigarette zu Ende und beobachtete junge Paare, die aneinandergeschmiegt aus der Spätvorstellung kamen. Die Fahrer vor ihm nahmen nach und nach Fahrgäste auf und tuckerten hinaus in die Nacht. Als Shug allein an der Spitze stand, beobachtete er eine Gruppe junger Mädchen, die auf der Straße Fritten aßen und sich darüber stritten, wie sie nach Hause kämen. Erst sah es so aus, als würden sie ins Taxi steigen, aber nein, die praktische Dicke wollte lieber auf den Nachtbus warten. Lasst sie doch, dachte er, soll sie nass werden. Die hübscheste, betrunkenste von ihnen torkelte immer noch auf ihn zu. Shug setzte im Dämmerlicht sein Lächeln auf.
Er wurde aus den schmutzigen Gedanken gerissen, als knochige Finger an sein Fenster klopften. »Biste frei, Kumpel?«, fragte eine Männerstimme.
»Nein!«, rief Shug und zeigte auf die betrunkenen Mädchen.
»Alles klar«, sagte der alte Mann, ohne hinzuhören. Er riss die Tür auf, bevor Shug die Zentralverriegelung drücken konnte, und hangelte seinen kleinen dick eingepackten Körper in den Wagen. »Kennste die Rangers-Bar auffe Duke Street?«
Shug seufzte: »Aye, Kumpel«, als das hübsche Mädchen zum nächsten Taxi in der Reihe ging. Er lächelte sie mit seinem halben Lächeln an, aber sie sah ihn gar nicht.
Statt sich auf die schwarze Lederbank zu setzen, klappte der Alte den Notsitz herunter und klemmte sich direkt hinter Shug. Das machten die, die reden wollten. Jetzt haben wir die Scheiße, dachte Shug.
Draußen war es nass, aber im Taxi war es schwül. Im Hackney breitete sich der Geruch von saurer Milch aus. Der Alte hatte ein vergilbtes Hemd und einen zerknitterten grauen Anzug an, über dem er einen dünnen Wollmantel trug und zu guter Letzt einen viel zu großen Überzieher. Er sah aus wie ein Flüchtling, der schmächtige Körper in meterweise Gabardine und Wolle gehüllt. Unter dem Schatten der Tweedmütze sah bloß die rote Nase hervor. Unvermittelt fing er zu seiern an. »Haste dat Spiel heut gesehn, Junge?«
»Nein«, antwortete Shug, wohl wissend, wo die Frage hinging.
»Mann, da hasten astreines Spiel verpasst, nen echten Knaller.« Der Mann schnalzte mit der Zunge. »Für wen bisten?«
»Celtic«, log Shug. Er war gar kein Katholik, aber es war der schnellste Weg, das Gespräch zu beenden.
Das Gesicht des alten Mannes fiel zusammen wie ein Spültuch. »Ach du Scheiße. Hätt ich mir denken könn, dass ich ausgerechnet inne Papisten-Kutsche lande.« Shug beobachtete ihn im Spiegel und schnaubte unter seinem Schnurrbart. Shug war kein Celtic-Fan; er war zwar auch kein Rangers-Fan, aber er war stolz darauf, Protestant zu sein. Er hätte den Freimaurerring umgedreht, aber der Alte sah sowieso nicht hin und bewegte sich wie unter Wasser.
Nachdenklich sah Shug zu, wie der Kerl in einen Zustand fahriger Verzweiflung geriet und von Larmoyanz zu Angriffslust überging. Er hielt die Hände vor sich, als würde er Gott anflehen. Dann legte er den Arm an die Rückseite der Trennwand und drückte das Gesicht an die Scheibe, die ihn von Shugs Ohr trennte. Mit vom Suff feuchten Lippen spuckte er eine wirre Tirade aus und machte dabei Grimassen wie ein Kleinkind, das Sprechen lernt. Dicke Speicheltropfen spritzten gegen die Trennscheibe. Shug trat mit Absicht auf die Bremse, und der Mann schlug sich mit einem Rumms die Stirn an der Scheibe an. Mützenlos, aber ungerührt brabbelte er weiter. Shug verzog das Gesicht. Nachher würde er gründlich die Scheibe wischen müssen.
Der alte Glasweger Jakey war vom Ausstreben bedroht. Traditionell eine gutmütige Seele, wurde er mit dem Anstieg der Drogen von einer jüngeren, sehr viel unangenehmeren Spezies abgelöst. Shug sah in den Spiegel und beobachtete den Alten, der sein betrunkenes Solo fortsetzte, das Gerede so leise und unzusammenhängend, dass Shug nur Schlagwörter wie Thatcher und Gewerkschaft und Basterd mitbekam. Ohne Mitgefühl sah er zu, wie der Alte abwechselnd lachte und heulte.
Die Louden Tavern war dunkel und fensterlos, die Tür tief in die Backsteinfassade des niedrigen Gebäudes zurückgesetzt. Der Bau war flaschen- und bombensicher. Im Rot, Weiß und Blau der Glasgow Rangers gestrichen stand die Fassade mit stolzem Trotz im Schatten des Parkhead-Stadions, Heimat von Glasgow Celtic, dem sportlichen Mekka der Katholiken.
Shug verlangte ein Pfund siebzig für die Fahrt und sah zu, wie der Alte der Reihe nach seine Taschen durchging. So machten sie es alle. Freitags verpulverten sie die Lohntüte an jeder Kneipe, an der sie vorbeikamen, bis nur noch Fünf- und Zehn-Pence-Münzen übrig waren, die ihnen in den Taschen rumkullerten und deren gesammeltes Gewicht ihrem watschelnden Gang zusätzliche Schwere verlieh. Den Rest der Woche ernährten sie sich von diesen willkürlichen Funden, völlig planlos, was deren Höhe anging. Von ihren Hosen und großen Mänteln trennten sie sich nicht mal im Schlaf, aus Angst, ihre Frauen oder Kinder könnten sie zuerst plündern und Brot und Milch von dem Kleingeld kaufen.
Der Alte brauchte eine Ewigkeit, um in jeder Tasche nachzusehen. Shug lauschte der sanften Stimme des Taxifunks und versuchte ruhig zu bleiben. Als der Jakey endlich gezahlt hatte und ins dunkle Maul des Pubs gesegelt war, donnerte Shug über die Duke Street zurück, um den Auslass der Tanzlokale nicht zu verpassen. Vor dem Scala hob eine Olle die Hand und winkte wie ein junges Mädchen. Shug musste scharf bremsen, um sie nicht über den Haufen zu fahren.
Er sah zu, wie sie hinten ins Taxi stieg, und war froh, dass sie sich in die Mitte der breiten Rückbank pflanzte. »Zum Parade bitte.« Sie schniefte, rümpfte die Nase und warf Shug einen zornigen Blick zu. Wahrscheinlich stank es da hinten, als hätte jemand in einen alten Topf Grütze gepisst.
Das Taxi begann die Hügel mit den Mietskasernen von Dennistoun hinaufzuklettern. Shug sah in den Rückspiegel und beobachtete, wie die Frau ihn beobachtete. Die Glasweger Hausfrau saß immer in der Mitte, nie an der Seite, um aus dem Fenster zu sehen, oder auf dem Notsitz wie die einsamen Jakeys, die sich unterhalten wollten. Die hier war typisch, steif und aufrecht wie eine presbyterianische Königin, die Knie zusammen, den Rücken gerade, die Hände auf dem Schoß gefaltet. Den Mantel eng um sich gezogen, das Haar streng frisiert, sogar hinten, und das Gesicht straff wie eine Maske.
»Wat fürne schreckliche stürmische Nacht«, sagte sie schließlich.
»Aye. Im Radio sagen sie, es schüttet die ganze Woche.« Irgendwas an ihr erinnerte ihn an seine Mutter, die längst tot und begraben war. Die zerschundenen Hände und schmalen Schultern täuschten über die Stärke und Energie hinweg, die sicherlich in ihr steckten. Er dachte an die Nächte, wenn sein Vater die Hand gegen seine Mutter erhob. Je mehr sie einsteckte, desto mehr schlug er zu, bis sie rot, dann blau, dann schwarz war. Shug dachte daran, wie sie vor dem Spiegel stand, sich das Haar ins Gesicht zupfte, das Make-up um die Augen verschmierte, um die Veilchen zu verstecken.
»Ich hab grad noch gesagt, ich fahr normalerweise kein Taxi.« Sie suchte seinen Blick im Spiegel.
»Ach nee?«, fragte Shug, froh, aus den Gedanken gerissen zu werden.
»Aye, aber ich hab heuten lütten Gewinn gemacht, wissense. Nur lütt, aber gut iss trotzdem.« Sie kratzte sich am Daumennagel. »Kannich gebrauchen, wissense, wo mein George keine Arbeit mehr hat«, seufzte sie. »Fümmunzwanzig Jahre. Drüm beim Eisenwerk in Dalmarnock, und alles, watter gekriegt hat, warn drei Wochenlöhne. Drei Wochen! Ich bin selber hin und hab bei sein roten Chef an die Tür gehämmert und gesagt, wo er sich die drei Wochenlöhne hinschiem kann.« Sie öffnete die Schließe ihrer kleinen steifen Handtasche und sah hinein. »Wissense, wat der Basterd zu mir sagt? ›Mrs Brodie, Sie ham Glück, dass Ihr Mann drei Wochenlöhne gekriegt hat. Ich hab hier junge Kerls, die dat ganze Leben vor sich ham, und die kriegen nur noch den Rest ihrer Schicht bezahlt.‹ Da hab ich gekocht. Ich sag: ›Und ich hab zwei große Jungs zu Hause, die ich füttern muss, und die finden auch keine Arbeit. Wat denkense eigentlich, wie ich dat machen soll?‹ Hatter mich angeglotzt und, ohne mit der Wimper zu zucken, gesagt: ›Versuchenset mit Südafrika!‹« Sie schloss die Tasche. »Warn selber noch nie südlich von South Lanarkshire, aber wir solln nach Südafrika!« Sie kratzte weiter an ihrem roten Daumen. »Sowat is einfach nich recht. Die Regierung muss wat tun. Machen die Eisenwerke und die Werften dicht. Als nächstes sind die Bergleute dran. Passense bloß auf! Südafrika! Niemals! Bis nach Südafrika gehen, damitse da die Schiffe billig bauen könn und hier raufschicken und noch mehr von unsern Jungs arbeitslos machen? Sone Sauerei.«
»Es geht um Diamanten«, erklärte Shug. »Sie gehen nach Südafrika, um Diamanten zu schürfen.«
Die Frau sah ihn an, als hätte er ihr widersprochen. »Mir doch egal, watse da schürfen, von mir aus könnense im Arsch vonne Afrikaner Lakritz abbauen. Aber arbeiten sollense daheim in Glasgow, und essen sollense, wat die Mutti kocht.«
Shug trat aufs Gaspedal. Die Stadt veränderte sich; er sah es in den Gesichtern. Glasgow verlor langsam den Kurs, er sah es glasklar durch seine Scheibe. Er merkte es auch an den Einnahmen. Er hörte, wie die Leute sagten, dass Thatcher keine ehrlichen Arbeiter mehr wollte; die Zukunft war Technologie, Atomkraft und private Gesundheitsversorgung. Die Tage der Industrie waren gezählt, und die Gerippe der Clyde-Werft und der Springburn-Eisenbahnwerke lagen in der Stadt herum wie abgenagte Dinosaurierknochen. Ganze Hochhäuser voller junger Kerle, denen man das Handwerk ihrer Väter versprochen hatte und die jetzt keine Zukunft mehr hatten. Kerle, die ihre Männlichkeit verloren.
Shug hatte mitangesehen, wie die Arbeiterklasse aus den armen Vierteln herausgedrängt wurde. Eine Bande von mittelklassigen Beamten und Stadtplanern hatte es als Geniestreich betrachtet, einen Gürtel neuer Wohngebiete und billiger Hochhaussiedlungen um die Stadt zu errichten. Gegen ein Stück Gras und Himmel sollten die Missstände in der Stadt verschwinden.
Die Frau saß steif und still auf der Rückbank. An ihren Daumen schälte sich die Haut, und in ihren Mundwinkeln nistete Sorge. Erst als sie die Rückseite ihrer Frisur betastete, sah Shug, dass sie noch lebendig war. Er ließ sie am Anfang ihrer Sackgasse raus, und sie drückte Shug ein Pfund Trinkgeld in die Hand.
»Hey, was ist das?« Er versuchte es ihr zurückzugeben. »Ich brauch das nich.«
»Jetz gib schon Ruhe!«, sagte sie. »Is nurn kleiner Teil von meim Gewinn. Ich geb mein Glück weiter. Glück is dat Einzige, was uns ausse Bredullje hilft.«
Widerwillig nahm Shug das Trinkgeld an. Scheiß auf die englischen Touristen und ihre beschissenen Kodaks. Shug wusste, wie es lief. Die, die am wenigsten hatten, gaben am meisten.
Als Shug zurück in die Innenstadt kam, war die Spätvorstellung vorbei, und die Stadt richtete sich auf ein paar Stunden kalten Schlaf ein. Aus ein paar Nachtclubs dröhnte noch Musik, aber es wäre Selbstmord, sich vor die Tür zu stellen, weil die ersten Besoffenen erst weit nach Mitternacht rauskämen. Shug seufzte und überlegte, ob er trotzdem warten sollte. Vielleicht konnte er ein Mauerblümchen auflesen, das die ganze Zeit die Gläser halten musste, während ihre Freundinnen mit den Kerlen tanzten. Die Hässlichsten gingen meistens zuerst nach Hause. Solche hatte er schon öfter heimgefahren, hatte sogar bei abgestellter Taxiuhr gewartet, wenn sie sich beim Paki an der Ecke zum Trost mit Chipstüten oder Schokokeksen eindeckten. Wenn man nett zu ihnen war, waren sie ziemlich nett zurück.
Er hatte gerade die Krawatte gelockert und sich auf eine lange Wartezeit eingestellt, als sich im Taxifunk die sanfte Stimme meldete. »Wagen einunddreißig. Wagen einunddreißig. Bitte kommen.« Er seufzte. Das war Agnes, wer sonst.
Er nahm das schwarze Mikrofon in die Hand und drückte die Taste an der Seite. »Hier Wagen einunddreißig.« Eine lange Pause entstand, und er wartete auf die Nachricht.
»Oben in Stobhill wird dein Typ verlangt, ein Wagen für Easton«, sagte Joanie Micklewhite.
»Ich hab eine Fahrt zu Flughafen. Hast du keinen Wagen, der näher ist?«, fragte er.
»Tut mir leid, Süßer. Die Kundin hat ausdrücklich nach dir verlangt.« Er konnte ihr Grinsen fast hören. »Sie sagt, lass dir Zeit, sie ist nicht in Eile.«
Darauf wäre er nicht gekommen. Agnes, klar, oder sogar seine erste Frau, die ihm die Asche für die vier Blagen abknöpfen wollte, aber auf die wäre er echt nicht gekommen. So weit waren sie doch gar nicht, oder?
Um die Uhrzeit brauchte er nicht lang zum alten Krankenhaus. Die Messerstechereien im Stadion und die häusliche Gewalt am Zahltag landeten in der Royal Infirmary. In Stobhill wurde in Glasgow nur geboren und gestorben. Jetzt stand eine unscheinbare Mieze im blauen Putzkittel vor dem beleuchteten Foyer. Sie zog an ihren ausgeleierten Strumpfhosen und rückte sie zurecht. Vom Regen und den Tränen war ihr Make-up verschmiert, und er sah den Ring der Kippen zu ihren Füßen, als hätte sie die ganze Pause hier in der Kälte gestanden und auf ihn gewartet. Shug grinste. Erst vierundzwanzig, und schon sein Fußabtreter.
»Hätt nich gedacht, dass du kommst«, sagte sie und stieg hinten ins Taxi.
»Warum haste mich dann gerufen?«
»Hab dich eben vermisst. Wir ham uns seit Wochen nich gesehen.« Sie öffnete und schloss kokett die feisten Schenkel. »Oder haste mich schon über?« Sie grinste.
Shug drehte sich auf dem Sitz um. »Hömma, für wen hältste dich, Ann Marie? Ich versuch hier mein Brot zu verdienen, und du rufst mich quer durch die Stadt wien Köter, der dir aufn Teppich gepisst hat.« Er schlug mit dem Ballen der Faust gegen die Scheibe. »Wir müssen diskret sein. Cool bleiben. Wa zum Teufel glaubste is los, wenn Agnes dahinterkommt, he? Ich sag dir, wa dann los is. Sie würd dich am Schlafittchen packen und dich der Länge nach durch den Clyde schleifen. Und wennse damit fertig wär, würdse auch noch dein guten Namen durchen Dreck ziehen. Jeden Abend bei deinen Eltern anrufen, immer, wennse grad im Bett sind. Würdse aufwecken und ihnen sagen, dass ihr liebes kleines katholisches Mädchen was mittem verheirateten Protestanten hat.« Er hielt inne und beobachtete die Wirkung seiner Worte. »Willst du das wirklich?«
Tränen rannen ihr übers Gesicht und sammelten sich in ihrer Schürze. »Aber ich liebe dich.«
Shug fuhr mit dem Taxi einen scharfen Bogen und parkte in einer dunklen Ecke des leeren Parkplatzes. Er warf einen Blick auf die Uhr und sah ihr im Rückspiegel in die Augen. »Na gut, dann zieh halt das verdammte Höschen aus. Ich hab bloß fünf Minuten.«
Shug hatte Hunger, als er in die Stadt zurückfuhr. Fürs erste würde Ann Marie nicht beim Taxifunk anrufen, da war er sich sicher. Sie war ein nettes Mädchen, schwere Brüste und willig, aber sie klammerte ihm zu sehr. Das war das Problem mit den jungen Dingern; sie sahen keinen Grund, warum sie es nicht besser haben sollten. Er war eindeutig fertig mit ihr.
Er dachte gerade an die Stimme vom Taxifunk, als sie sich wieder meldete. »Wagen einunddreißig, Wagen einunddreißig, bitte kommen.«
Er griff nach dem Mikrofon und hielt die Luft an. Irgendwie hatte er heute kein Glück. »Joanie?«
»Sofort. Zu Hause. Anrufen«, war die knappe Antwort.
Er stellte den Hackney am Anfang der Gordon Street ab, nahm sich ein paar Münzen aus der Kasse und lief durch den Regen auf eine alte rote Telefonzelle zu. Auch in der Kabine war es feucht, und es stank nach Pisse. Er hatte versucht, sich Agnes’ Befehlen zu widersetzen, aber das machte alles noch schlimmer. Sie ließ nicht locker, und je später die Nacht, desto ausfälliger wurde sie. Das Beste, was er tun konnte, war: Sofort. Zu Hause. Anrufen.
Es klingelte nur einmal, bevor sie dran war. Wahrscheinlich saß sie im Flur neben dem Kunstledertelefontisch und trank und wartete und trank.
»Hall-o«, sagte die Stimme.
»Agnes, was ist?«
»Ach, wenn das nicht der Chef-Hurenbock persönlich ist.«
»Agnes«, Shug seufzte. »Was ist jetzt schon wieder?«
»Ich weiß alles«, zischte die betrunkene Stimme.
»Was weißt du?«
»Weiß. Alles.«
»Du redest Blödsinn.« Unbehaglich trat er in der engen Telefonzelle von einem Bein aufs andere.
»Ichweißes.« Die Stimme dröhnte, ihre feuchten Lippen waren zu nah an der Sprechmuschel.
»Wenn sonst nix ist, muss ich zurück an die Arbeit.«
Vom anderen Ende der Leitung kam ein tiefes Schluchzen.
»Agnes, du kannst nicht mehr am Taxistand anrufen, sonst werd ich gefeuert. In ein paar Stunden bin ich zu Hause, dann können wir reden. Okay?« Doch er bekam keine Antwort. »Na gut, willste wissen, was ich weiß? Ich weiß, dass ich dich liebe«, log er. Das Schluchzen wurde lauter. Shug legte auf.
Der Regen und die Pisse waren in seine Schuhe mit den Troddeln gesickert. Er griff noch einmal zum Hörer und schlug damit gegen die Fenster der roten Telefonzelle. Er hatte drei Scheiben eingeschlagen, bevor der Hörer kaputtging und er sich besser fühlte. Im Taxi musste er zehn Minuten stillsitzen, bis seine Hände den Würgegriff lockerten, mit dem er das Lenkrad hielt.
Vielleicht ging es ihm besser, wenn er etwas aß. Er tastete unter dem Fahrersitz nach der Brotdose. Sie roch nach Margarine und weißem Brot, nach Ehe und engen Wohnräumen. Der Anblick der Corned-Beef-Stücke, die Agnes ihm eingepackt hatte, drehte ihm den Magen um. Er kippte den Inhalt in den Rinnstein, nahm die Abkürzung durch ein paar Nebenstraßen und blieb vor DiRollos rund um die Uhr geöffnetem Null-acht-fünfzehn-Imbiss stehen. Wegen seiner ungeselligen Öffnungszeiten und der Diskretion des Besitzers war der Laden sowohl bei Taxifahrern als auch bei Prostituierten beliebt. Auf dem Schild prangte ein großer roter Hummer, aber das Angebot war weniger exotisch.
Wie scheinbar zu jeder Tages- und Nachtzeit stand Joe DiRollo hinter der Theke. Im Licht der Neonröhren sah er aus, als wäre er kürzlich verstorben. Er war klein, und sein dünnes Haar war mit Brillantine oder Frittenöl oder beidem nach hinten gestrichen. Hinter dem Tresen waren nur sein aufgedunsener Kopf und die Schultern zu sehen, wie die Spitze eines schmierigen Eisbergs. Der Rest seines bleichen Körpers drückte gegen die Machete, die er unter dem Tresen versteckte. Er grüßte jeden Gast mit einem verschleimten Räuspern und schräg gelegtem dicken Kopf.
»Wie läufts, Joe?«, fragte Shug ohne ehrliches Interesse.
»Aye, so weit, so gut.«
»Viel zu tun mit unsern hübschen Damen heute Nacht?« Shug zeigte mit dem Daumen in Richtung einer ausgemergelten Kundin, die mit geschlossenen Augen auf den Beinen schwankte.
»Ach, die komm und gehn, weißte ja.« Joe DiRollo lachte über seinen eigenen Witz. »Nich so gut fürs Geschäft wie früher. Nehme ne halbe Tüte Fritten und nen Gingerale, und dat wars! Dann wollense aufs Klo, mein Privatklo, und der alte Joe sagt okay. Issjan netter Kerl, aber dann kommse ne Stunde nich raus, verstehste. Essen ne halbe Tüte Fritten, und dann waschense sich in meim Klo die Muschi.«
Shug beäugte den Backfisch auf der Wärmeplatte. »Liegt an den Drogen. Ich würd mich nich trauen, da noch wat reinzustecken.«
»Aye, die sterm wie die Fliegen. Wenns nich die Drogen sind, werdense von irgenden Arschloch erwürgt.«
»Hör auf, sonst vergeht mir der Appetit auf Schnecken.« Shug verzog das Gesicht. »Machste mir mah Fisch ’n’ Chips mit extra viel Salz und Essig?«
Joe nahm ein weißes Papier und lud eine große Kelle breite Fritten und ein dickes Stück Backfisch darauf. Er verteilte Salz und Essig über der heißen Mahlzeit, und Shug ließ den Finger kreisen. »Mehr, Joe. Noch mehr.« Joe machte weiter, bis die Portion triefte.
Er reichte Shug das Päckchen und eine Tüte Schnecken über die Theke. »Du hast immer noch nix zu meim Angebot gesagt. Willste die Bude jetz oder nich?«
Neben seinen Fish ’n’ Chips war Joe DiRollo bekannt dafür, dass er die Stadt beschiss. Im Namen seiner vielen Töchter bewarb er sich für Sozialwohnungen. Dann vermietete er sie weiter und kassierte einen Zehner pro Woche mehr als das, was die Stadt von ihm verlangte.
»Ich geb dir Bescheid«, sagte Shug und ging zur Tür. »Mrs Bain … na ja, die ist schwierig.«
»Wundert mich, dass du überhaupt umziehen willst. Ich dachte, da oben im Himmel über Sighthill lebste wien König.«
»Dem König gehts gut; nur die Königin will, dass Köpfe rollen. Halt die Butze einfach nochen bisschen. Ich muss vorher was einfädeln. Ich will, dass alles perfekt wird.« Er grinste und biss in eine dicke Fritte.
Als Shug die letzte der eingelegten Schnecken gegessen hatte, war seine Schicht fast vorbei. Er ließ die Fenster runter. Über dem George Square ging die Sonne auf, flutete die Stadt mit warmem orangem Licht und setzte die Statue von Robert Burns in Flammen. Das war die beste Zeit des Tages, wenn die Stadt in tiefem Frieden lag, bevor sie von den täglichen Massen verdorben wurde. Ungeduldig sah Shug zur Turmuhr und brach zeitig zur North Side auf.
Während er langsam zu Joanie Micklewhite fuhr, ließ er die Fenster offen und tippte mit dem Zeigefinger an den grünen Duftbaum. Sie hatte bald Feierabend, und dann konnten sie sich all die Dinge sagen, die sie über den Taxifunk nicht sagen konnten. Er stellte den Hackney dicht hinter die vier oder fünf anderen Taxis und wartete auf sie, im Sitz nach vorn gebeugt und grinsend wie ein kleiner Bengel, der an Weihnachten die Tür beobachtet.