Die Innenstadt war voller Oranier. Mit Flöten, Pfeifen und Trommeln marschierten sie vom Kriegerdenkmal am George Square bis zum Glasgow Green. Catherine hatte durchs Bürofenster zugesehen, wie die Banner der verschiedenen Logen vorbeizogen. Erst sangen die Protestanten ihre Unterstützung für King Billy, und später, als die Pubs aufmachten, grölten sie zu einer Melodie, die Catherine nicht kannte, und die meisten von ihnen offenbar auch nicht: »Auf die Mütze, Fenier-Schweine.«
Den ganzen Tag saßen Polizisten in reflektierenden Jacken auf nervösen Pferden. Jetzt, da die Parade vorbei war, rotteten sich junge Männer zusammen und schmetterten ihre religiösen Parolen wie hasserfüllte Sternensänger. Sie pöbelten jungen Mädchen hinterher und jagten jeden Mann, der nicht die richtigen Farben trug.
Catherine verließ so spät wie möglich das Büro, um das schlimmste zu vermeiden. Als sie vor dem Sandsteingebäude stand, bereute sie zutiefst, dass sie heute ihren neuen smaragdgrünen Mantel und die hochhackigen Wildlederstiefel trug. Regenwolken schoben sich vor die Julisonne, und sie verfluchte, dass sie am Oranier-Samstag hatte arbeiten müssen. Sie war nicht mal besonders gut im Rechnen, aber Mr Cameron bestand darauf, dass sie kam, wenn er kam, um das Telefon zu beantworten, das nie klingelte, und Tee zu kochen, den er nie trank.
Es war kein schlechter erster Job, hatte ihr Stiefvater Shug gesagt, erst recht nicht für ein albernes Huhn wie sie, das frisch von der Schule kam und nichts im Kopf hatte als Jungs und Kleider. Das Kreditgeschäft war zwar langweilig, aber sie mochte die Genauigkeit, mit der alles eingetragen und ausgeglichen werden musste. Sie freute sich über den sauberen Rotstift am Ende jeder Kontenseite, korrekt, austariert und wahr. In gewisser Weise hatte sie diese Neigung von Agnes geerbt — die haarkleine Pingeligkeit, der scharfe Blick dafür, was da war und was ausgegeben werden konnte.
Es war kein schlechter Job, außerdem hatte Mr Cameron einen Sohn, der groß und stattlich war, und als Catherine den Heimweg antrat, ließ sie ihre Gedanken zu dem Jungen wandern. Im Kino hatte Campbell Cameron an ihr rumgefingert wie ein schmutziger Oktopus. Selbst seine zartesten Küsse hatten sich anmaßend und fordernd angefühlt.
Ihre Großmutter hatte sie beiseitegenommen und ihr erklärt, sie sei bekloppt, sie solle Seamus Kelly heiraten. Lizzie sagte, sie habe einen guten katholischen Jungen geheiratet, und der habe ihr seit über vierzig Jahren in allen Krisen zur Seite gestanden. Es war nicht schwer, den Rat ihrer Großmutter in den Wind zu schlagen. Seit Catherine denken konnte, hatte Lizzie nur zweimal ein neues Sofa bekommen, und eine Ehe musste mehr bieten als Spülhände und abgeschubberte Knie. Außerdem musste sich Lizzie wegen dem jungen Cameron sowieso keine Sorgen machen. Catherines Stiefvater versuchte längst, sie mit seinem Neffen zu verkuppeln, Donald Junior.
Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte ihr Stiefcousin sie heimlich beeindruckt mit seinem Auftreten, wie er selbstbewusst Besitz von Lizzies kleinem Wohnzimmer ergriff. Donald Junior hatte breitbeinig dagesessen, mehr Platz eingenommen, als ihm zustand, und ohne Bescheidenheit von sich selbst geredet. Catherine gefielen die unterschwelligen Signale, mit denen er ihr klarmachte, dass er wichtiger war als sie. So waren sie, die Blauköppe, gehätschelt, gut ernährt, immer im Mittelpunkt. Sie waren der Stolz ihrer Mutter, mit allen Schwächen und Peinlichkeiten, und Donald Junior wirkte vollkommen frei von Schuldgefühlen oder anderen Lasten. Ein richtiger Goldjunge, selbst wenn er in Wirklichkeit mehr von einem frischen, durchscheinenden Rosa war.
Catherine sah ihm gerne beim Essen zu. Es schockierte sie, wie er sich das tropfende Lamm aus der Kohlsuppe fischte und auf seinem Teller Eintopf immer drei ganze Würstchen erwartete. Sie hatte gesehen, wie er Lizzie den Teller zurückgab und mehr verlangte. Wie konnte sie ihrer kleinen Granny erklären, dass sie glücklich war, ihn zu haben? Es war allgemein bekannt, dass er Dutzende Mädchen geküsst hatte, während Catherine sich immer noch mit ihren zwei Brüdern ein Zimmer teilte. Donald Junior musste bei seiner Mutter keine Miete zahlen. Er musste wegen nichts dankbar sein oder Gewissensbisse haben.
Gleich nachdem sie sich kennengelernt hatten, hatte er versucht, ihr die Jungfräulichkeit abzuschwatzen. Catherine hatte ihm einen Vortrag über die Sakramente gehalten, und er hatte laut gelacht, als sie ernsthaft erklärte, sie würde bis zur Hochzeit warten. Er kam ganz nach seinem Onkel. Doch sie hatte sich die Fingernägel in die Handflächen gebohrt und ihn züchtig abgewiesen. Insgeheim genoss sie die ungewohnte Machtverteilung, auch wenn sie damit gerechnet hatte, dass er sie deswegen sitzenließ. Doch aus irgendeinem Grund ließ Donald Junior nicht von ihr ab. Stattdessen sprach er mit seinem Onkel Shug, und an ihrem siebzehnten Geburtstag machte er ihr, seiner Stiefcousine, auf dem oberen Deck im Trongate-Bus einen Heiratsantrag, mit viel Fanfare und sich selbst in der Hauptrolle.
Als der Regen stärker wurde, begann Catherine in den hohen Stiefeln zu laufen. In den grellen schwarzroten Schlagzeilen der Abendzeitungen landeten ständig Schauergeschichten mit Automatenfotos von jungen Frauen, die in den dunklen Ecken der Stadt vergewaltigt und ermordet worden waren. In den Zeitungen hieß es, die Opfer wären Prostituierte, und sie brachten finstere Storys von Drogenproblemen und Beschaffungskriminalität. Eine von ihnen war erwürgt und in den Graben an der Landstraße geworfen worden. Der Mörder hatte die misshandelte Leiche ordentlich zusammengelegt und in eine schwarze Mülltüte verpackt. Dort hatte sie vier Monate lang gelegen, bis irgendwelche Umweltsünder, die illegal ihren Müll abluden, die Tüte aufrissen und ihnen eine lila Hand entgegenfiel. Die ganze Zeit hatte sie keiner vermisst. Wullie hatte betroffen an seinem Gebiss gesaugt, und Lizzie hatte gefragt, wo bei alldem die Kirche blieb.
Catherine hatte voller Grauen die Zeitungsfotos der toten Mädchen studiert. Auf den Automatenfotos hoben sich die eingesunkenen Augen und die hohlen Wangen dunkel vor dem bleichen orangen Hintergrund ab. Ein Mädchen wurde ermordet, und das beste Foto, das die Familie von ihm hatte, war ein Abzug der Passfotos aus dem Monatsticket.
Es war noch nicht dunkel, als Catherine den betonierten Platz vor dem Hochhaus erreichte. Im Zwielicht standen ein paar Kinder im Kreis und stocherten mit einem Stock an etwas herum. Die Kinder waren zu klein dafür, um die Uhrzeit noch draußen zu sein, und ein paar trugen trotz des Juliregens weder Jacken noch Schuhe. Irgendwas an dem feuchten Häufchen, um das sie standen, war seltsam, irgendwas wirkte vertraut, aber aus dem Zusammenhang gerissen. Catherine überquerte den Platz und hoffte, dass es nicht wieder ein toter Hund war. In Sighthill vergiftete jemand die Streuner mit Rattengift; weil es gnädiger war, als zuzusehen, wie sich die Köter vor Läufigkeit wanden.
Auf dem Beton lag ein nasser Haufen verkohlter Vorhänge, lila Paisley-Muster, wie das ihrer Mutter, verbrannt und immer noch rauchend. Catherine zählte in Zweierschritten zum sechzehnten Stock und sah, dass alle Lichter an und die Fenster zu der späten Uhrzeit weit aufgerissen waren. Kein gutes Zeichen. Ihr Bruder Leek war wahrscheinlich ausgeflogen. Wenn der Abend wie üblich gelaufen war, hatte er das Drama beim Essen kommen sehen und sich rechtzeitig verdrückt. Darin war er gut. Und weil er so still war, wurde er nicht mal vermisst.
Aber sie musste ihn finden. Sie konnte ihrer Mutter nicht allein gegenübertreten.
Die dunkle Gasse zwischen dem Eisenzaun der Saint-Stephen’s-Grundschule auf der rechten Seite und dem Maschendrahtzaun der Springburn-Palettenfabrik auf der linken war berüchtigt; wenn man erst drin war, gab es bis zum anderen Ende kein Zurück. Banden liebten sie. Auf halbem Weg torkelte ein altes betrunkenes Paar durch den vom Wind verwehten Müll. Catherine hörte, wie die Frau dem Mann schmutzige Versprechungen zuflüsterte. Sie ging schneller, bückte sich und kroch durch eine Lücke im Maschendrahtzaun. Ihr Haar blieb im Zaun hängen, und einen Schreckmoment dachte sie, die beiden würden sie von hinten festhalten. Catherine riss sich los, und als sie frei war, fiel sie rückwärts in den Matsch. Nass und skalpiert drehte sie sich um, sah ihre Haarsträhne am Zaun hängen wie ein Büschel Tierfell und überlegte sich, wie sie es Leek dafür heimzahlen würde.
Auf dem Gelände der Palettenfabrik türmten sich Hunderte riesige Blöcke aus aufeinandergestapelten blauen Transportkisten. Jeder Block war etwa zehn Meter hoch und so breit wie das Fundament eines Hochhauses. Der Vorarbeiter hatte dazwischen eine Art Straßennetz angelegt, zehn Block breit mal zehn Block tief, mit gerade so viel Abstand, dass er mit seinem kleinen Gabelstapler durch die Gänge kam. Catherine zählte die Gassen, wie Leek es ihr widerwillig beigebracht hatte. Schon am Tag war es leicht, sich zwischen den Paletten zu verlaufen, und im Dunkeln war es noch viel leichter. Die Scheinwerfer vorne warfen schwaches Licht in die Nord-Süd-Achsen, aber sobald man um die Ecke bog, war es schwarz wie die Nacht.
Als Catherine die glühenden Punkte im Dunkeln tanzen sah, war es zu spät. Sie versuchte kehrtzumachen, aber sie rutschte auf den feuchten Absätzen ihrer Wildlederstiefel aus und schlitterte noch tiefer in die Dunkelheit. Knochige Hände packten sie an den Armen und zogen sie zum Schwarm der Glühwürmchen. Sie wollte schreien, aber jemand drückte ihr die Hand auf den Mund. Sie schmeckte Nikotin und Klebstoff. Viele Hände tasteten sie ab, tatschend, suchend. Sie hörte das Schaben von Cord, als sich ein Paar Beine von hinten näherte. Die Beine drückten sich an sie, und durch den dünnen Stoff der engen Hose spürte sie den Mann. Er war prall vor Blut und Erregung.
Einer der glühenden Punkte kam näher und leuchtete unheilvoll vor ihrem Gesicht. »Wat zum Geier willste hier?«, fragte er.
»Geile Titten«, sagte die Glut links von ihr. Die brennenden Glühwürmchen lachten und hüpften.
»Lassma anfassn.« Sie spürte eine kleine Hand, fast eine Frauenhand, die an ihrer Bürobluse zog.
Plötzlich schnitt ein silbriges Licht durchs Dunkel, und Catherine fühlte den Druck von kaltem Metall an ihrer Wange. Die schmutzige Hand, die ihr den Mund zugehalten hatte, griff nach ihrer Kehle. Dann berührte die blanke Klinge des Anglermessers ihren Mundwinkel und schob sich zwischen ihre Lippen. Sie schmeckte metallisch, wie ein schmutziger Löffel. »Celtic oder Rangers?«
Catherine wimmerte traurig. Es war eine Fangfrage: Wenn sie die falsche Antwort gab, würden sie ihr mit dem Messer das Glasweger Grinsen verpassen, eine Narbe von Ohr zu Ohr, und sie wäre fürs Leben gezeichnet. Wenn sie richtig antwortete, würden sie sie wahrscheinlich vergewaltigen.
Wenn sie abends im Bett saß und sich das lange Haar bürstete, hatte sie oft zugesehen, wie Leek Shuggie denselben Blödsinn fragte. Mit seinen schlaksigen Gliedern setzte sich Leek rittlings auf den kleinen Bruder, so dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Dann hielt er die Fäuste Zentimeter vor Shuggies Gesicht und fragte: »Friedhof? Oder Krankenhaus?« Es war zwecklos. Alle Antworten führten zum gleichen Ergebnis. Man kriegte, was immer der fiese Arsch, der auf einem saß, loswerden wollte.
»Raus mitte Sprache.«
Das Fischmesser klirrte gegen ihre Zähne, als es die Innenseite ihrer Wange erforschte. Aus ihrem linken Auge rollte eine einzelne Träne. Catherine dachte an den Klebstoffgeruch und zwang sich zu raten. »Celtic?«
Der Typ schnaubte enttäuscht. »Glück gehabt.« Langsam zog er ihr das Messer aus dem Mund; er genoss das Grauen in ihrem Gesicht. Catherine schob sich den Finger in die Wange, schmeckte warmes, salziges Blut, aber zum Glück war ihr Gesicht noch in einem Stück.
Ein gleißendes Licht strahlte ihr direkt ins Gesicht, und sie wich gegen die Beine hinter sich zurück. »Ach du Scheiße!«, sagte die Stimme. »Dassis die Schwester von lütten Leek.« Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an das Licht gewöhnten. Sie griff nach der Taschenlampe und hielt sie auf den Boden. Die Typen, die um sie herumstanden, waren bloß Bengels, jünger als sie und wahrscheinlich jünger als Leek. Sie hatten im Dunkeln geraucht und gewartet. Weil sie zu Hause keinen Frieden hatten, lauerten sie hier, bis jemand vorbeikam, den sie fertigmachen konnten, oder auf die Gelegenheit, den Wachmann niederzustechen.
Catherine holte aus und schlug nach dem Typ mit dem Anglermesser. Aber sie fühlte sich nicht besser, also ballte sie die Faust noch mal und drosch auf seinen Hals, Kopf und Schultern ein. Der Junge ging in Deckung und tanzte lachend von ihr weg.
Angewidert stieß Catherine die Jungs beiseite und rannte los, am letzten Palettenblock entlang. Sie hörte Schritte hinter sich, schnell, flach. Irgendwann griff sie in die raue blaue Holzwand und stemmte sich, so schnell sie konnte, den Palettenstapel hinauf. Eine Hand packte einen ihrer neuen Stiefel, riss an ihrem Fuß, und sie verlor fast den Halt. Mit aller Kraft klammerte sie sich an dem splitterigen Holz fest. Sie trat nach hinten aus und hörte, wie ihr Stiefel auf einen harten Schädel krachte, dann zog sie das Knie an und kletterte den Rest des Turms hinauf.
Die Taschenlampe leuchtete unter ihren Rock, suchte ihren Schoß. Die Idioten verspotteten sie mit schrillen Stimmen, kurz vor dem Stimmbruch, der bedrohliche Klang kleiner Jungs, die die berauschende Macht der Männlichkeit entdeckten. Als Catherine die letzten drei Meter geschafft hatte, hätte sie sich am liebsten hingelegt und Luft geholt, aber sie zwang sich aufzustehen und trotzig über die Kante zu sehen. Es waren fünf, mit Pickeln und Flaum im Gesicht. Sie grinsten zu ihr herauf, während der Älteste mit Daumen und Zeigefinger ein Loch machte und den anderen Zeigefinger hineinsteckte. Catherine spuckte hinunter. Weißer Schaum regnete herunter, und die Jungs quiekten wie die Kinder, die sie noch waren, und verzogen sich wie kichernde Ratten.
Oben auf dem Palettenstapel blickte sich Catherine auf den gleichförmigen leuchtend blauen Holzfeldern um. Die Jungs hatten sie beim Zählen gestört, und sie konnte nur hoffen, dass sie am richtigen Turm hochgeklettert war. Leek schaffte es, über den zwei Meter breiten Abgrund zwischen den Türmen zu springen, aber sie nicht. In ihren nassen Stiefeln würde sie ausrutschen und abstürzen. Sie schauderte bei dem Gedanken, was die Rowdys mit ihrer Leiche anstellen würden, wenn sie mit gebrochenem Genick daläge.
Catherine zählte vom Zaun bis vier und von der Abzweigung bis fünf. Es stimmte; sie hatte sich nicht verzählt. Suchend überflog sie die Plattform und entschied sich für eine Palette, vier mal vier von der Südostecke. Wie Leek ihr eingetrichtert hatte, sah sie sich um, bevor sie in die Hocke ging und die blaue Palette anhob. Irgendwo im Innern leuchtete ein flackerndes Licht. Catherine steckte den Kopf in die Öffnung und zischte den Namen ihres Bruders. »Leek, Leek!« Sie bekam keine Antwort. Sie rief wieder, und plötzlich ging das Licht aus, und im Loch wurde es schwarz. Regen tropfte ihr von der Nasenspitze, als sie in die leere Tiefe starrte. Auf einmal schoss ihr aus der Dunkelheit ein weißes Gesicht mit kleinen rosa Ohren entgegen. »Buh!«
Catherine kippte nach hinten. Hätte sie näher am Rand gesessen, wäre sie runtergefallen. Sie spuckte einen Batzen Speichel in Leeks weißes Gesicht.
»Hey, was soll die Scheiße!«
»Warum musst du mir so einen Schreck einjagen?« Catherine kniete sich hin und suchte ihre roten Hände nach Splittern ab. Dann wurden die Scham und die Angst übermächtig, und frustrierte Tränen liefen ihr übers Gesicht.
Leek wischte sich mit dem Pulloverärmel die Spucke vom Mund. Er deutete ihr Heulen falsch. »Jetzt mach keinen Aufstand. Kommst du runter oder was? Du lässt den Regen rein.«
Eingeschnappt kroch Catherine zu der Öffnung und kletterte hinunter in die Höhle ihres Bruders. Leek zog die lose Palette über ihren Köpfen zu. Im Innern war es so muffig wie in einem Grab und so dunkel wie in einem Sarg. Catherine begann einen langen Seufzer, aber Leek würgte sie ab: »Halt die Klappe«, während er sich in der Rabenschwärze zu schaffen machte. In der gegenüberliegenden Ecke klirrte Metall, und dann wurde der Raum von trübem verrauchten Licht erhellt.
Die Campinglampe warf lange Schatten in den stollenartigen Raum. Das Innere der ausgehöhlten Paletten war mindestens doppelt so groß wie ihr Zimmer zu Hause, aber die Decke war bloß einen Meter achtzig hoch. Leek hatte den Boden und die Wände mit Teppichresten und flachgedrückten Pappkartons ausgekleidet. Durch das Loch in der Decke hatte er alte Möbel hereingeschleppt. Manche Paletten waren wie Stützbalken aufgerichtet, und ein paar hatte er über Eck gestellt und mit alten Teppichen belegt, so dass sie eine Art hartes Sofa bildeten. An den Wänden hingen Nacktbilder aus alten Zeitschriften. Jemand hatte ein Bild von Maggie Thatcher aufgehängt, und ein anderer Witzbold hatte ihr einen geäderten Schwanz in den eisernen Mund gezeichnet.
Catherine sah zu, wie ihr Bruder es ihr in seinem Heim gemütlich machte. Sie kannte ein paar der älteren Sighthill-Jungs, die die Höhle vor ein paar Jahren gebaut hatten. Nachdem die wildesten von ihnen nachts einen übereifrigen Wachmann mit dem Messer angegriffen hatten, hatte man sie ziemlich in Ruhe gelassen. Es war ein toller Ort, um sich zu betrinken und Klebstoff zu schnüffeln. Aber die meisten der Jüngeren mochten vor allem, dass es hier keine gewalttätigen Väter gab. Manche brachten Mädchen her und bauten aus geliehenen Mänteln und Pullovern Betten. Aber mit der Zeit, als der eine oder andere Ruf ruiniert war, kamen die Sighthill-Mädchen nicht mehr in die Palettenhöhle. Die Stimmen der Jungs brachen weiter, die Hormone tobten weiter, und so verschwanden die meisten, um anderswo ihre halbstarken Eroberungen zu machen. Das Palettenhaus wurde leerer und stiller. Jetzt hatte es Leek häufig das ganze Wochenende für sich allein.
Falls Agnes am Donnerstag zu trinken anfing, packte Leek ein paar Dosen Bohnen und Puddingpulver in der Küche seiner Granny ein und kam hier raus, um sich zu verstecken. Wenn er Sonntagabends zurückkam, saßen alle vor dem Fernseher. Agnes war dann sanft und reumütig, und der Teufel Alkohol hatte sie verlassen. Sie machte ihm auf dem Sofa Platz, und er saß dicht bei ihr und genoss ihren warmen, parfümierten Duft nach Badeschaum. Lizzie sah ihn mit einem zerstreuten Lächeln an und fragte, ob er das ganze Wochenende im Bett verbracht hatte. Es war gut, ein stilles Wasser zu sein.
Dabei war er nicht klein. Mit fünfzehn war er schon über einen Meter achtzig. Er war immer dünn gewesen, und als er in die Höhe schoss, wurde sein Körperbau noch sparsamer und effizienter. Die Haare wie den Körperbau hatte er von seinem abgesägten leiblichen Vater geerbt. Sein Haar war fein und dünn, straßenköterblond, und hing ihm weich über Ohren und Augen. Seine Augen waren grau und klar, und brauchten lange, bis sie Gefühle zeigten. Leek hatte die Kunst perfektioniert, durch Menschen hindurchzusehen, sich aus Gesprächen auszuklinken, durch Hinterköpfe und offene Fenster seinen Tagträumen hinterherzuschweben.
Mit seinen Gefühlen ging Leek genauso sparsam um, wie sein Körper gebaut war. Er hatte den sanften Charakter seines leiblichen Vaters, war still und nachdenklich, einzelgängerisch und distanziert. Sein einziges physisches Zugeständnis an seine Mutter war die große, knochige Nase, zu streng, um römisch zu sein. Sie brach die Linie seines weichen, scheuen Ponys und saß in seinem dünnen Gesicht wie ein stolzes Denkmal seiner irisch-katholischen Vorfahren. Agnes hatte sie von Wullie, und Wullie hatte sie von seinem Vater, der sie aus Donegal-County herübergebracht hatte. Niemand der Campbell-Linie blieb von dem Zinken verschont, er ließ weder Mann noch Frau aus.
Die Palettenhöhle war ein mit Teppich ausgelegtes Fort, ein Jungsort. Es roch nach Bier, Klebstoff und Sperma, und Catherine hatte keinen Sinn für ihre Reize. Sie sah sich um und schauderte beim Anblick der Unordnung und halb gegessenen Dosen. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und zog die Nase hoch. »Wie lange bist du heute schon hier?«
»Keine Ahnung«, sagte er und nahm einen alten Mantel von einem muffigen Haufen in der Ecke. »Am Mittag hat sie die Reste vom Tauf-Whisky in sich reingekippt.«
Er hielt ihr den trockenen Mantel hin. Catherine zog ihren guten grünen Mantel aus und zog den Männer-Tweed über. Er roch nach Lanolin und Schweiß, aber die raue Trockenheit der warmen Wolle fühlte sich gut an. Leek nahm eine alte Keksdose von dem Brett über den Mädchenfotos und gab sie ihr. Dann setzten sie sich zusammen auf das selbstgebaute Sofa. Er legte sanft den Arm um sie und schlüpfte zu ihr in den Mantel, so dass jeder einen Ärmel hatte.
Catherine nahm sich eine Handvoll Kekse aus der Dose. Sie schmeckte den Sirup, den ihre Granny benutzte. Die karamellige Süße tröstete sie. »Ich hab den ganzen Tag nichts gegessen. Es war sonst niemand da, um das Telefon zu hüten, und Mr Cameron hat gesagt, er bringt mir ein Sandwich vom Mittagessen mit. Aber er hats nicht getan. Und ich wollte nichts sagen, weil er sonst gedacht hätte, ich wäre beleidigt.«
»Gefühle sind für Schwächlinge.« Leek benutzte die Stimme aus Doctor Who, die sie hasste.
Catherine streckte den Kopf aus dem Kragen und sah ihn abschätzig an. »Nur Schwächlinge verstecken sich.« Seine langen, schüchternen Wimpern sanken auf die rosa Wangen. Es war schon immer leicht gewesen, ihn zu verletzen. Sie zog die Hand in den mottenzerfressenen Mantel und legte den Arm um ihn; durch den dünnen Schulpullover spürte sie seine Rippen. »Tut mir leid, Leek. Aber es ist echt gruselig, hier rauszukommen, um dich zu suchen. Ich bin klitschnass, und ich hab Angst gehabt, und jetzt sind meine neuen Stiefel im Arsch.«
»Hier geht einfach alles vor die Hunde.«
Sie drückte ihn. Er war zwei Jahre jünger und schon einen Kopf größer. Sie schmiegte den feuchten Scheitel an seine Kinnfalte. Dann weinte sie leise und versuchte, die Wut auf die Rowdys und ihr Anglermesser abzuschütteln. »Hast du dich den ganzen Tag hier versteckt?«
»Aye.« Sein Seufzer ging ihr durch und durch. »Wie gesagt. Als sie aufgewacht ist, wusst ich schon bei den Zeichentrickfilmen, dass sich was zusammenbraut. Sie hat doll gezittert, und dann hat sie gesagt, ich soll auf den Kleinen aufpassen, weil sie einkaufen muss …« Er brach ab.
Catherine wusste, dass er ins Leere starrte. »Ist sie ins Pub?«
Sein Blick war verschleiert. »Nein. Ich … ich glaub nicht. Sie hatte den Whisky, und dann, glaub ich, hat sie was gekauft und im Fahrstuhl getrunken.«
»Na ja, Höhenluft ist auch ziemlich trocken.« Catherine leckte sich die klebrigen Krümel von den Fingern und stellte die Dose hin.
»Aye, sie sah echt ausgedörrt aus«, sagte er traurig. Eine lange Pause entstand. Leek nahm die obere Leiste seiner Keramikzähne heraus und rieb sich die Wangen, wo sie drückte. Genervt von den ständigen Zahnarztbesuchen, hatte Agnes ihn überredet, sich die schlechten Zähne, die voller Amalgamplomben waren, zum fünfzehnten Geburtstag komplett ziehen zu lassen.
»Tut es immer noch weh?«, fragte Catherine, froh, dass sie noch ihre eigenen Zähne hatte.
»Aye.« Er wischte die Spucke von dem Gebiss und schob es sich wieder in den Mund.
»Tut mir leid, Leek, und es tut mir auch leid, dass ich dich heute allein gelassen habe.« Sie küsste ihn liebevoll auf die Wange.
Doch die Zärtlichkeit ging ihm zu weit. Er drückte ihr die Hand ins Gesicht und schob sie weg. »Finger weg, du Vogelscheuche. Außerdem brauch ich kein Mitleid. Ich habs satt, mich von der Scheiße runterziehen zu lassen.« Leek knöpfte den großen Mantel auf und stellte sich wieder in die Kälte. Er zog sich den Ärmel des schwarzen Schulpullovers über die Finger und wischte sich den Kuss seiner Schwester aus dem Gesicht.
Als sie ihn ansah, dachte sie, dass Leek ohne den Campbell-Zinken wie zwölf aussehen würde. Sie beobachtete, wie er sich mit seinen langen, zarten Uhrmacherfingern über den Nasenrücken fuhr, wie er die Nase betastete, maß, und es dann bereute. Er ließ die Hand sinken. »Hör auf zu glotzen.« Er machte einen Schritt aus dem Lampenschein auf die dunkle Seite der Höhle.
Catherine griff nach einem schwarzen Skizzenbuch. Leek hatte wieder gemalt. Sie blätterte durch detaillierte Zeichnungen von Bikinischönheiten auf den Motorhauben muskulöser Ferraris, oder rittlings auf geflügelten Drachen. Leeks Bilder konnten es mit den Covern jedes Rock-Albums aufnehmen, eine vollendet ausgeführte Welt seiner schüchternen Fantasie. Nach den Muskeln und Sehnen und nackten Schönheiten waren da präzise, mit dem Lineal gezogene Pläne für Architektur und Holzarbeiten, technische Entwürfe futuristischer Gebäude und kleine, feine Baupläne für Plattenspieler und eine selbstentworfene Staffelei. Seit Catherine denken konnte, hatte Leek immer einen Bleistift in der Hand gehabt.
Sie lächelte stolz, als Leek aus der Dunkelheit auftauchte und ihr das Skizzenbuch aus der Hand riss. »Hab nicht gesehen, dass dein Scheißname draufsteht.« Er zog den Pullover hoch und steckte sich das Buch in den Bund seiner Jeans.
»Leek, ich glaube, du hast echt Talent.«
Er schnaubte verächtlich und verschwand wieder im Dunkeln.
»Wirklich. Du wirst mal ein großer Künstler, und ich werde heiraten, und wir schaffen es beide raus aus der Scheiße und lassen die ganze Müllkippe hier hinter uns.«
Aus dem Dunkeln kam ein Zischen. »Leck mich. Ich weiß, dass du mich bald sitzenlässt. Ich hab gesehen, wie du dem Oranier-Arschloch schöne Augen machst. Ich weiß, dass du mich sitzenlässt und dass ich allein mit ihr fertig werden muss.«
»Leek. Kannst du im Licht bleiben, wo ich dich sehen kann?«
»Nein. Mir gefällts im Dunkeln.«
Catherine trocknete sich mit dem Mantelärmel die Haare ab und dachte einen Moment nach. Sie verdrängte die Angst vor den Halbstarken, die ihr noch in den Knochen saß. »Schade, ich bin nämlich hier, um mich auszuziehen und mit einem riesigen Drachen für dich zu ringen.«
Er trat aus der Dunkelheit und schüttelte den Kopf. »Lass gut sein. Ich zeichne lieber dicke Titten.«
Catherine zuckte zusammen, aber sie sagte: »Dann benutz deine Fantasie.«
»Ich hab keinen Bleistift, der dünn genug ist, um ihre winzige Miniatu-ralli-tät hinzukriegen.«
Sie funkelten einander mit ernsten Gesichtern an. Catherine verzog zuerst das Gesicht, als müsste sie würgen, und tat so, als kotzte sie den alten Männermantel voll. Leek machte es ihr nach, bis sie beide in imaginärer Kotze versanken. Catherine sah, wie das Lächeln ihres Bruders zurückkehrte, und dachte, wie schade es war, dass man es nur noch so selten zu sehen kriegte. Leek bemerkte ihren forschenden Blick. »Mach doch ein Foto, wenns sein muss.«
Catherine versuchte ihren Blick weicher zu machen, um ihn nicht wieder zu verjagen. »Also, als du gegangen bist, war Mammy da mehr auf Krawall gebürstet oder eher weinerlich?«
Er zuckte die Achseln. »Sie war fast den ganzen Tag am Telefon auf der Suche nach Shug. Mir war einfach klar, dass es schlecht enden würde.«
»Wieso?«
»Sie hat getrunken, als wollte sie sich an einen anderen Ort befördern.«
»War sie laut?«
Er schüttelte den Kopf. »Eher traurig als laut heute.«
Catherine seufzte. »Scheiße. Wir müssen zurück. Ich glaube, es ist was passiert.«
»Auf keinen Fall. Ich habe genug Essen dabei, um die Nacht hierzubleiben.« Er war schon wieder halb im Dunkeln verschwunden.
»Du holst dir den Tod.«
»Gut so.«
»Ach, Leek. Du bist echt zu alt, um hier Puppenhaus zu spielen.« Es war nicht nett, und sie wusste, sie würde nichts gewinnen, wenn sie so weitermachte. Ihr Bruder war mit einer legendären Sturheit geschlagen; er starrte einfach durch einen durch und schwebte davon, verließ seinen Körper und desertierte. Aber Catherine wollte ihrer Mutter nicht allein entgegentreten. Und sie wollte auch nicht ohne ihn durch die Dunkelheit gehen. »Bitte. Ich bin gekommen, um dich zu holen. Ich hab deine Klebstoff schnüffelnden Kumpels nicht für umsonst unter meinen Rock glotzen lassen.« Sie biss sich kläglich auf die Lippe. »Die ham ein Anglermesser, Leek. Die ham mich begrapscht.«
Leek wurde wütend, als er das hörte. Das jähe Auflodern seines Temperaments erschreckte sie und freute sie heimlich jedes Mal. Es passierte immer ganz leise und abrupt, der kleinste Kommentar konnte aus Geblödel Ernst werden lassen. »Bitte.« Mit übertrieben hilfloser Geste ließ sie die Schultern hängen. Dabei war Jammern eigentlich nicht ihre Art.
Leek verschwand in der dunklen Ecke und kam mit seinem Kapuzenanorak und dem kaputten Stiel eines Spatens zurück. Er wendete ihn bedrohlich in den Händen. Dann löschte er die rauchende Campinglampe und sie kletterten schweigend durch das Loch aufs Palettendach. Leek schloss die Falltür hinter sich, und sie standen hoch oben und blickten hinaus auf die funkelnden Lichter der Stadt. Die Aussicht war wunderschön. Catherine hob die Hand und zeigte in die Dunkelheit weit hinter die orangen Lichter der Stadt.
»Leek. Siehst du das da hinten?«, fragte sie.
Am Horizont war ein leerer Streifen, schwarz wie der Rand des Nichts. Leek folgte der Linie ihres Fingers.
»Nee.«
»Da!«, sagte sie und streckte den Arm noch weiter aus, als würde das helfen. »Da hinten, hinter Springburn und Dennistoun. Hinter der letzten Siedlung.«
»Caff! Nur weil du den Arm steif machst, sehe ich nicht mehr. Es ist stockdunkel. Da draußen ist nichts.«
»Genau!« Sie dachte kurz nach, bevor sie den Arm sinken ließ und wieder zur Hochhaussiedlung sah. »Ich hab gehört, wie Shug sagte, dass wir da rausziehen.«