Als die Heckklappe des Lieferwagens aufging, waren bereits Leute auf die Straße gekommen und sahen unverhohlen zu. Sie hatten nicht einmal die feuchten Küchentücher oder die Bügelwäsche aus der Hand gelegt, bevor sie aus dem Haus traten, um nachzuschauen, was los war. Aus den niedrigen Häusern kamen ganze Familien und setzten sich auf die Eingangsstufen, als liefe etwas Gutes im Fernsehen. Angeführt von einem Jungen ohne Hose überquerte eine Bande rußiger Kinder die Straße und stellte sich im Halbkreis um Agnes auf. Sie begrüßte die Kinder höflich, die wortlos zurückstarrten, alle mit rot verschmierten Soßenmündern vom Mittagessen.
Die Bergmannshäuser standen so dicht beieinander, dass die Haustüren einander gegenüberlagen, jedes Haus durch einen niedrigen Zaun und einen schmalen Grasstreifen vom nächsten getrennt. Die Haustüren auf der anderen Seite standen weit offen, und die Frauen beobachteten Agnes, jede von einem halben Dutzend Kindern umringt, alle mit dem gleichen Gesicht. Sie erinnerten sie an das Foto ihrer Granny Campbell mit dem irischen Dutzend, das Wullie ihr einmal gezeigt hatte. Agnes stand auf der Eingangstreppe, winkte lächelnd über den niedrigen Zaun, und ihre strassbesetzten Kaninchenärmel glitzerten im Licht.
»Hallo.« Sie wandte sich höflich an die ganze Versammlung.
»Ziehter ein?«, fragte eine Frau aus der Tür über ihrer. Ihr blondes Haar lockte sich über dunkelbraunen Ansätzen nach hinten. Sie sah aus, als hätte sie eine Kinderperücke auf.
»Ja.«
»Ihr alle?«, fragte die Frau.
»Ja. Meine Familie und ich«, erklärte Agnes. Sie stellte sich vor und hielt ihr die Hand hin.
Die Frau kratzte sich am Haaransatz. Agnes fragte sich, ob sie nur in Fragen sprach, als sie endlich antwortete. »Ich bin Bridie Donnelly. Ich wohn seit neunenzwanzig Jahn hier ohm. In der Zwischenzeit hab ich fünfzehn Nachbarn unten gehabt.«
Agnes spürte die Blicke aller Donnellys auf sich. Ein dünnes Mädchen mit dunklen runden Augen brachte ein Tablett mit lauter unterschiedlichen Teetassen durch die Tür. Jeder nahm sich eine. Sie ließen Agnes nicht aus den Augen, als sie tranken.
Bridie nickte über den Zaun. »Dat da is Noreen Donnelly, meine Cousine. Aber nich mein Blut, verstehste.« Eine Frau mit grauen Augen klappte den Mund zu und nickte kurz. Bridie Donnelly fuhr fort: »Die Lütte da is Jinty McClinchy. Meine Cousine. Die is mein Blut.« Die Frau neben Noreen war nicht größer als ein Kind und zog tief an einer kurzen Zigarette. Sie hatte wegen des Rauchs die Augen zusammengekniffen, und sie sah aus wie Bridie mit einem Kopftuch. Sie sahen alle aus wie Bridie, auch die Jungs, nur dass die nicht ganz so männlich wirkten.
Im Augenwinkel bemerkte Agnes noch eine Frau, die gerade über die staubige Straße kam. Die Frau blieb stehen und redete mit dem Halbkreis schmuddeliger Kinder; dann nickte sie, als hätte sie eine schwerwiegende Neuigkeit erfahren, und marschierte durch das Gartentor direkt auf die neuen Bewohner zu. Agnes hatte keine Chance zu entkommen. Hinter ihr trat Leek mürrisch aus der Haustür, um die nächste Fuhre aus dem Wagen zu holen.
»Is dat dein Mann?«, fragte die Neue, ohne sich vorzustellen. Ihr Gesicht war so fleischlos wie ein mit Leder bespannter Totenkopf. Die Augen saßen tief in ihrem Schädel, und ihr Haar war von einem wilden satten Braun, doch es war schütter wie das Fell einer räudigen Katze. Sie stand in ausgeleierten Steghosen da und trug Männerpantoffeln an den Füßen.
Agnes stutzte, weil die Frage so absurd war. Zwischen ihr und Leek lagen über zwanzig Jahre. »Nein. Das ist mein mittleres Kind. Im Frühling wird er sechzehn.«
»Ah! Frühling.« Die Frau dachte eine Weile nach, dann zeigte sie mit spitzem Finger in Richtung des Gemüselasters. »Ist dat dein Mann?«
Agnes sah, wie der ächzende Möbelpacker mit dem alten Fernseher kämpfte, den sie aus Diskretion in ein Bettlaken gehüllt hatte. »Nein, das ist ein Freund von einem Freund, der uns beim Umzug hilft.«
Die Frau grübelte. Sie saugte die ausgemergelten Wangen in den Totenschädel. Agnes hob die Hand, um sich zu verabschieden. »Wat haste da am Ärmel?«, fragte die magere Frau.
Agnes sah an sich herunter und hielt schützend die Arme vor die Brust. Die Strasssteine zitterten nervös. »Das sind bloß kleine Glasperlen.«
Shona Donnelly, das Mädchen mit dem Teetablett, atmete langsam aus. »Oh! Missus, ich find sie wunder…«
Doch die magere Frau unterbrach sie. »Haste überhaupn Mann?«
Wieder ging die Haustür auf, und Shuggie trat auf die Stufen. Ohne die Frauen eines Blicks zu würdigen, baute er sich vor seiner Mutter auf und stemmte die Hände in die Hüften. Er stellte einen Fuß vor und sagte klarer, als Agnes ihn je hatte sprechen hören: »Wir müssen reden. Ich glaube wirklich nicht, dass ich hier leben kann. Es riecht nach Kohl und Batterien. Es ist einfach unmögbar.«
Die Zuschauerinnen drehten einander verblüfft die Köpfe zu. Es wirkte, als würde ein Dutzend Gesichter in den Spiegel sehen. »Haste Töne. Liberace zieht ein!«, gackerte eine der Frauen.
Die Frauen und Kinder wieherten im Chor, hohe, quietschende Lacher und kehliger Husten voller Katarrh. »Oho! Hoffentlich passt der Flügel innen Salon.«
»War schön, euch alle kennenzulernen«, sagte Agnes mit einem dünnlippigen Lächeln. Sie drückte Shuggie an die Hüfte und wandte sich ab, um ins Haus zu gehen.
»Ach, komm schon, Süße, sei nich so. Wir freun uns, euch kennzulernen«, keuchte Bridie, deren hartes Gesicht vom Lachen um die Augen weich geworden war. »Wir sin hier alle wie eine Familie. Passiert nur nich oft, dass wer neue Gesichter zu sehn bekomm.«
Die Frau mit dem Totenkopfgesicht trat einen Schritt auf Agnes zu. »Aye, schon gut. Wir komm bestimmt klah.« Sie saugte an ihren Zähnen, als steckte ein Stück Fleisch in einer Lücke fest. »Haupsache, du häls deine schicken Ärmel von unsern Scheißmännern fern.«
Für den Rest des Nachmittags wanderte Shuggie am Rand der neuen Siedlung entlang, während die Männer den Umzugswagen ausluden. Frauen in engen Leggings schoben Küchenstühle an die Fenster, um ausdruckslos zuzusehen, wie eine Kiste nach der anderen ins Haus getragen wurde. Sie hatten dem Jungen mit übertriebenen Gesten zugewinkt, hatten imaginäre Mützen gelüftet und dann in sich hineingelacht.
Er lief in seinem neuen Anzug bis zum Ende der Straße. Da draußen war nichts. Die Straße endete am Rand des Torfmoors, als hätte sie aufgegeben. Dunkle Pfützen mit trübem Wasser lagen still und tief da und wirkten unheimlich. Hohe Wäldchen von braunem Schilfrohr schossen aus dem Gras und krochen langsam auf die Siedlung zu, als wollten sie den Boden von den Bergleuten zurückerobern.
Shuggie sah ein paar barfüßige Kinder, die im Staub spielten. Er hockte sich vor eine der Hecken, die die Sozialsiedlung begrünen sollten, und tat so, als würde er die kleinen roten Blüten untersuchen, ihre Größe vergleichen, während er darauf wartete, dass die Kinder ihn zum Mitspielen aufforderten. Sie fuhren mit Fahrrädern herum und ignorierten ihn. Er zerdrückte weiße Beeren zwischen den Fingern, versuchte, milde uninteressiert zu wirken, und dann versuchte er, mit dem klebrigen Saft den Glanz von seinen guten Schuhen zu wischen.
Die genagelten Stiefel der Bergleute schlugen Funken auf dem Asphalt. Nach und nach begannen einzelne Männer die leere Straße heraufzutrotten. Eine Grubensirene gab es nicht mehr; doch wie vom Muskelgedächtnis einer toten Routine getrieben kamen die Männer zum Feierabend nach Hause, obwohl es nichts zu feiern gab, nur einen Bauch voll Ale und einen Rücken krumm vor Sorge. Ihre Arbeiterjacken waren sauber, und ihre Stiefel glänzten noch. Shuggie trat zurück, als sie vorbeikamen, die Köpfe gesenkt wie müde schwarze Maultiere. Wortlos sammelte jeder Mann eine Handvoll dürrer Kinder ein, die gehorsam folgten, wie ehrfürchtige Schatten.
Agnes stand im Windfang hinter der Haustür und schloss die große Glastür zum Flur. Sie konnte nicht denken. In dem kleinen Zwischenraum trank sie die Dose aus, die sie am Boden der Handtasche versteckt hatte. Sie drückte das Gesicht an die kühle, tröstliche Wand; die Mauern waren dick und feucht, und sie wusste gleich, dass das Haus schwer zu heizen sein würde.
Sie stand lange in ihrem Versteck, bevor sie den Flur hinunterging, vorbei an den zwei kleinen Schlafzimmern. Im ersten stand Catherine, ohne sich in irgendeine Richtung zu bewegen. Draußen stützten die verwilderten Bergmannskinder die Ellbogen auf die Fensterbank und starrten herein, als wären sie im Zoo. Sie war so perplex, dass sie nur zurückstarren konnte. Die Fensterrahmen waren schlecht eingepasst, und der rissige Kitt versprach kalte Nächte und feuchte Wände. Agnes hörte die Stimmen der Kinder so klar, als wären sie im Raum.
Leek hatte das andere Zimmer gefunden. Er hatte seine Tasche mit den Zeichensachen geöffnet, lag auf dem nackten Boden und zeichnete mit Kohle die schwarzen Hügel ab. Dann nahm er die Kante des Kohlestifts und zeichnete die Umrisse der Männer in den dunklen Jacken, die sie angestarrt hatten, als sie in die Siedlung gefahren waren. Die Männer säumten die Hügel wie Bäume ohne Laub. Agnes beobachtete ihren Sohn, voller Neid auf seine Gabe zu verschwinden, davonzuschweben und sie alle zurückzulassen.
Dahinter kam kein Schlafzimmer mehr. Das dritte, das man ihnen versprochen hatte, war offensichtlich das Wohnzimmer, und als sie den Gang zurückging, zweimal, dreimal, wusste sie, dass die Kinder wieder alle in einem Zimmer schlafen müssten.
Shug stand am Ende des Flurs und sah sie ausdruckslos an. Das über die Glatze gekämmte Haar tanzte im Wind, und er fing die abtrünnigen Strähnen ein und versuchte sie mit Spucke wieder anzukleben. Er trat in die kleine offene Küche und gab ihr ein Zeichen, ihm zu folgen. In der Küche hing ein großes Wäschegestell unter der Decke, das aussah wie eine Folterbank. An einem Ende baumelte noch eine Garnitur Bergmannskleidung, ordentlich zum Trocknen aufgehängt, von den Socken über die weiße Unterhose zum blauen Polyesterhemd, vom vielen Waschen steif geworden. Würde der Mann, dem sie gehörte, je aus der Grube zurückkehren? Vielleicht waren sie doch im falschen Haus.
Von den Spanholzschränken löste sich an mehreren Stellen das Furnier, und Shug bohrte den kleinen Finger unter eine der Schichten. Hinter ihm, in der Ecke über dem Herd, wucherte schwarzer Schimmel an der Wand. Ohne sie anzusehen, sagte er einfach: »Ich kann nicht bleiben.«
Zuerst sah sie kaum auf. Sie dachte, er meinte, er musste zur Schicht, um Geld zu verdienen. Das tat er häufig, er kam von der Schicht nach Hause, nur um gleich wieder aufzustehen und zu erklären, dass er weiterfuhr. Er war nie der Typ gewesen, der lange zu Hause herumsaß.
»Um wie viel Uhr willst du essen?«, fragte sie, in Gedanken schon bei dem Frittiertopf und den Brotmessern.
»Ich will dein Essen nicht mehr. Begreifst dus nicht?« Er schüttelte den Kopf. »Das wars. Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht bei dir bleiben. Immer willst du was. Immer bist du blau.«
Erst da merkte sie, dass die Brokatkoffer zwischen den Umzugskisten standen, die roten Koffer jedoch nicht. Offenbar machte sie ein völlig verwirrtes Gesicht, denn Shug begegnete ihrem Blick und nickte langsam wie bei einem Kind, das Medizin geschluckt hat, und gleich kam der Moment, wenn der Ekel im Magen landete. Agnes sah weg. Sie wollte nicht begreifen. Sie wollte seine Medizin nicht. Sie hörte auf nach dem Frittiertopf zu suchen und begann die Perlen an ihrem Pullover zu ordnen, die funkelnden geschliffenen Seiten nach außen, um Zeit zu schinden, weil sie nicht wusste, was sie tun sollte.
»Das wars«, sagte er wieder.
Im Raum stand nur ein Stuhl, ein Küchenstuhl mit kaputter Lehne, voller Farbspritzer und dafür gedacht, die obersten Schrankfächer zu erreichen. Agnes schloss leise die Küchentür; draußen im Flur fingen die Kinder schon zu meckern an, weil ihnen klar wurde, dass es nicht genug Schlafzimmer gab. Agnes stellte den kaputten Stuhl vor die geschlossene Tür und setzte sich. »Warum reiche ich dir nicht?«
Shug blinzelte, als traute er seinen Ohren nicht. Er schüttelte den Kopf und tippte sich beim Sprechen auf die Brust. »Nein, Milady. Warum reiche ich dir nicht?«
»Ich habe nie einen anderen Mann angesehen.«
»Das mein ich nicht.« Er rieb sich die Augen, als wäre er müde. »Warum hast du mich nicht genug geliebt, um das Trinken zu lassen? Ich hab dir immer von allem das Beste gekauft, hab rund um die Uhr malocht.« Er starrte die Wand an, starrte durch die Wand durch. »Ich hab sogar gedacht, wenn ich dirn Balg von mir schenke, biste endlich zufrieden, aber nein. Nichma das hat gereicht, um dich glücklich zu machen.«
Er packte sie grob am Ellbogen, versuchte sie vom Stuhl zu zerren. Doch Agnes riss sich los und setzte sich wieder, als würde sie friedlich streiken.
Sie befand sich in einem gefährlichen Übergangsstadium. Sie hatte genug getrunken, um sich zu wehren, aber noch nicht genug, um unvernünftig zu sein. Ein paar Schluck mehr, und sie würde zerstörerisch, unflätig, gehässig werden. Er starrte sie an, als versuchte er abzulesen, welches Wetter vom Tal heraufzog. Dann packte er sie wieder und versuchte sie wegzubewegen, bevor die schwarzen Regenwolken die Schleusen öffneten.
Agnes wand sich aus seinem Griff, setzte sich wieder und richtete sich auf. Sie sah ihn lange mit einem kalten Blick an. Sie konnte nicht fassen, was gerade passierte. »Nein. Damit kommst du nicht durch. Nicht bei einer Frau wir mir. Ich meine, sieh mich an. Sieh dich an.«
»Du bist peinlich.« Er zog an der Vorderseite ihres Pullovers.
Dann packte Shug sie mit Gewalt. Sie schrie nicht, als er ihr ins Haar griff und sie zu Boden riss. Agnes stemmte sich gegen die Küchentür, als könnte sie ihn für immer einsperren. Doch er schlug die Tür gegen ihren Hinterkopf, als wäre sie eine störrische Teppichecke. Als er über sie hinwegstieg, trat er mit dem Schuh gegen die Unterseite ihres Kinns, und ihre perlweiße Haut platzte auf.
»Bitte nicht, ich liebe dich. Wirklich«, wimmerte sie.
»Aye, ich weiß.«
Als der Hackney die Pit Road erreicht hatte, standen die Kinder im Flur, und Agnes lag glitzernd und flauschig am Boden wie ein abgelegtes Partykleid.
Die roten Lederkoffer waren nie in der Bergmannswohnung gewesen. Shug kam ein paar Tage nicht zurück, und als er wiederkam, hatte er die Koffer nicht dabei. Er hatte sie zu Joanie Micklewhite gebracht und sie unters Bett geschoben, wo Joanie Platz für ihn freigeräumt hatte. Doch davon wusste Agnes vorerst nichts. Eines Abends tauchte Shug einfach wieder auf, küsste sanft die Wunde unter ihrem Kinn und nahm sie auf dem Klappsofa im Wohnzimmer.
Shug begann während der Nachtschicht vorbeizukommen und sie auf diese Weise zu benutzen. Gewöhnlich wartete er bis nach Mitternacht ab, wenn die Kinder schliefen, bevor er in einem frisch gebügelten Hemd pfeifend durch den Flur schlenderte. Wenn sie ihn auszog, war ihr klar, dass eine andere Frau seine Unterwäsche wusch und zum Trocknen aufhängte. Wenn sie fertig waren, blieb er liegen, bis Agnes die Arme um ihn schlang, dann stand er auf und ging. Falls sie für ihn kochte, blieb er manchmal ein bisschen länger. Falls sie mit Fragen oder Klagen anfing, ging er sofort und kam zur Strafe mehrere Nächte nicht wieder.
Wenn er gegangen war, blieb Agnes auf dem Klappsofa, weil sie es ohne ihn im großen Bett nicht aushielt. Den Rest der Nacht starrte sie die Decke an, während im Zimmer nebenan die Jungs schliefen. Diesen ganzen ersten Herbst über schlich sich Catherine zu ihrer Mutter auf die Matratze, und dort lagen sie zusammen unter der Feuchtigkeit und dem wuchernden Schimmel.
»Warum gehen wir nicht einfach nach Sighthill zurück?«, flüsterte Catherine. Aber Agnes war zu verletzt, um es ihr zu erklären. Sie wusste, wenn sie zu ihrer Mutter zurückging, käme er nie wieder.
Sie musste bleiben, wo er sie abgestellt hatte.
Sie würde jeden Krümel nehmen, den sie von ihm bekam.
Am fünften November war Guy-Fawkes-Tag, und der Rauch von Lagerfeuern und brennenden Reifen hing schwer in der Luft. Leek und Catherine standen am Fenster und sahen zu, wie die selbstgebauten Scheiterhaufen in der trüben Dunkelheit in Flammen aufgingen. Kinder bewarfen einander mit Krachern, als wären es pfeifende Geschosse. Es sah aus wie ein Mordsspaß.
Der Fernseher stand noch halb in das Bettlaken gehüllt auf dem Boden, als wären sie noch nicht endgültig eingezogen. Catherine ließ sich mit einem Handtuchturban aufs Sofa sinken. Gleich kamen die Spätnachrichten, und danach würde sie ihrer Mutter eine weitere Nacht lang im Dunkeln beim Weinen zuhören.
Agnes wartete in der Küche hinten im Haus. Wenn das Licht aus war, hatte sie von hier aus den besten Blick auf die Pit Road. Jeden Abend hielt sie nach dem Hackney Ausschau und schöpfte jedes Mal Hoffnung, wenn sie das Tuckern eines Diesels hörte. Sie hatte den ganzen Tag getrunken, aber es half nichts. Sie ging zwischen dem Fenster und ihrem Vorrat unter der Spüle hin und her. Am Schnappen der Schranktür konnten die Kinder zählen, wie oft sie sich unter der Spüle bediente und heimlich einen Schluck trank.
»Mammy, was gibt’s zum Essen?«, rief Leek vom Sofa.
Agnes hörte auf, den Schorf unter ihrem Kinn zu betasten. Sie sah den Topf an, der auf dem Elektroherd stand. »Ich könnte die Suppe aufwärmen.«
»Die Suppe mit den Erbsen?«, fragte Leek.
»Ja.«
»Also, nicht, wenn Erbsen drin sind«, sagte Leek beleidigt, weil sein fünfzehn Jahre währender Krieg gegen grünes Gemüse immer noch nicht bemerkt worden war.
»Oh, Mann, es ist Erbsensuppe, Blödmann!«, zischte Catherine.
Leek bohrte ihr den Fuß in die Seite und zog ihr das Handtuch vom Kopf, wobei er auch ein paar Haare erwischte. Er warf es in die andere Ecke des Zimmers. Selber schuld, flüsterte er lautlos. Ohne es aussprechen zu müssen, waren sie übereingekommen, sich in der Gegenwart ihrer Mutter möglichst zu benehmen.
Catherine stand auf, um sich das Handtuch wiederzuholen. Sie hatte auf Lizzies warnenden Rat gehört und ihre Jungfräulichkeit bewahrt, und jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis sie mit Donald Junior verheiratet wäre und sich nicht mehr mit ihren Brüdern oder ihrer Mutter ein Zimmer in dieser kalten feuchten Hütte teilen müsste. Diese Aussicht war der einzige Grund, warum sie nicht sofort davonlief; sie war sowieso nicht mehr lange hier.
Catherine wickelte sich das Handtuch wieder ums Haar und zeigte ihrem Bruder den Finger. Dann ging sie rüber, um nach ihrer Mutter zu sehen. Agnes kreiste durch die Küche wie eine Spielzeugeisenbahn; hin und wieder blieb sie am Spülschrank stehen, füllte ihre Tasse aus einem Behälter in einer Plastiktüte nach und trank einen tiefen Schluck. Catherine schob mit der Zehenspitze die Schranktür auf; erleichtert sah sie, dass Agnes sich keine Bleiche eingeschenkt hatte.
Als Catherine die abgestandene Suppe sah, rümpfte sie die Nase. »Mammy, wie wärs, wenn wir was beim Chinesen bestellen?«
»Gute Idee!«, rief Leek aus dem anderen Zimmer.
Catherine hatte nur »Chinese« gesagt, doch Agnes verstand Shug. In letzter Zeit besaß sie die seltsame Gabe, alles auf ihn zu beziehen. Ihr Blick wurde klar. »Ich könnte die Taxizentrale anrufen und fragen, ob Shug heute kommt?«, schlug sie aufgekratzt vor. »Vielleicht bringt er was vom Chinesen mit?«
Catherine seufzte. Shug hatte Agnes gewarnt, nicht mehr bei der Taxizentrale anzurufen. Es stand auf der langen Liste von Dingen, die sie nicht mehr tun durfte, wenn sie wollte, dass er weiterhin kam. So erpresste er sie emotional. Aber wenn er hörte, dass die Kinder Hunger hatten, kam er vielleicht vorbei, und für ein paar Stunden wäre alles wieder gut. Sie würde sich hübsch machen, und vielleicht blieb er ausnahmsweise die ganze Nacht bei ihr auf dem Klappsofa. Agnes trank einen Schluck und ging ihre Rolle durch: normal klingen, nüchtern, unverbindlich; locker bleiben und ins Telefon lächeln. Zwar hatte es bisher noch nie funktioniert, warum, wusste sie auch nicht, aber sie wollte es unbedingt wieder versuchen.
Agnes setzte sich an den kleinen kunstledernen Telefontisch und zündete sich eine Zigarette an, um ihre Nerven zu beruhigen. Als sie gewählt hatte, drehte sie ihren Verlobungsring um, als könnte die Person am anderen Ende sie sehen. Das Gold des Eherings hatte ein schmutziges Gelb angenommen.
Mit genervtem Knistern antwortete eine Frauenstimme. »Northside Taxis!« Es war Joanie Micklewhite. Agnes kannte sie nur flüchtig.
»Hallo, Joanie, bist du das? Hier ist Mrs Bain.«
»Oh, hallo, Süße. Wat kann ich für dich tun?« Joanie klang kühl, als wäre sie jemandem in die Arme gelaufen, dem sie lieber nicht begegnen wollte.
»Könntest du Shug ausrichten, dass er bitte zu Hause anruft?«, sagte Agnes. Sie fragte sich, ob Joanie wusste, dass Shug sie verlassen hatte. Sie fragte sich, wer am Taxistand noch alles wusste, dass Shug nicht mehr in ihrem Bett schlief.
»Ich versuchs. Wartste kurz, Schätzchen?« Es wurde einen Moment still in der Leitung, als Joanie Agnes in die Warteschleife schob und Shugs Taxi anfunkte. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie wieder dran war. »Bist du noch da?«
Agnes hatte gerade an der Zigarette gezogen. Sie blies den Rauch zur Decke. »Noch am Apparat! Hast du ihn erreicht?«
Joanie zögerte, und Agnes wappnete sich für eine Enttäuschung. »Aye. Er hat gesagt, er ruft dich an, sobald er kann.«
Agnes war erleichtert, und so etwas Ähnliches wie Hoffnung keimte in ihr auf, die Vorfreude, ihn zu sehen, ihren eigenen Mann. Sie dachte an das Samtkleid, das sie für ihn tragen würde; sie überlegte, ob sie noch Zeit hatte, sich die Beine zu rasieren.
Dann sagte Joanie: »Agnes. Ich weiß, dass er dir nicht allet erzählt hat, Schätzchen.« Sie stotterte weiter: »Ich … ich wollt dir nur sagen, wenn dus irgendwann rausfindest, ich hab nich gewollt, dass so wat passiert. Ich hab selber sieben Stück zu Haus. Und, also, es tut mir leid.«
Die letzten Feuer erloschen gerade, als Shug endlich kam. Die Kinder waren im Bett, schlecht gelaunt und hungrig. Agnes konnte das chinesische Essen nicht anrühren. Sie sah zu, wie ihm das Haar von der Glatze fiel, als er sich große Bissen in den Rachen stopfte. Es hatte ihm nicht einmal den Appetit verdorben, und das setzte ihr zu. Agnes rieb sich die Schläfen und setzte sich zwischen all die noch nicht ausgepackten Kisten. Rote Koffer waren nicht dabei. »Hält sie ihre Wohnung in Ordnung?«
»Nich besonders«, sagte er, ohne aufzublicken.
Agnes setzte die Bierdose an und trank so viel, wie sie in einem Zug herunterbekam, bevor sie Luft holen musste. Dann fragte sie: »Sieht sie gut aus?«
»Ich hab dir schon am Telefon gesagt, dass ich nich über sie reden will, verdammt noch mal.« Er riss ein Stück Weißbrot in zwei Hälften. »Lass mich in Frieden essen. Ich bin nich hier rausgefahren, um zu streiten.«
Agnes schwieg lange und dachte gründlich darüber nach, was sie als nächstes sagen würde. Mit der linken Hand betastete sie ihr Messer. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie einen Streit anfangen, ihn erstechen oder ihn überreden wollte, noch ein bisschen zu bleiben. Als sie wieder sprach, versuchte sie ruhig und sanft zu klingen. Es fiel ihr leichter, wenn sie ihn dabei nicht ansah. »Es wird nichts, oder? Mit unserem Neuanfang?«
Shug hielt im Kauen inne. Er zuckte die Schultern. »Das ist der Neuanfang, Agnes. Ich konnte einfach nicht mehr.«
Sie hielt sich die Hände vors Gesicht. Ihr Nagellack war so rot, als wäre er noch feucht. »Warum zum Teufel hast du mich hier rausgebracht?«
Shug schob den Teller weg. In seinem Schnurrbart klebte rosa Soße. »Ich musste es wissen.«
»Was musstest du wissen?« Ihre Stimme kippte vor Wut. »Ich dachte, du wolltest hier raus.«
»Ich musste wissen, ob dus wirklich tust.«
Agnes packte ihn am Pulloverkragen. Shug griff nach seinem Geldgürtel und küsste sie energisch mit der Zunge. Er musste die kleinen Knochen ihrer Hand zerquetschen, damit sie losließ. Sie hatte ihn geliebt, und er hatte sie vollkommen brechen müssen, bevor er sie endgültig verließ. Agnes Bain war ein zu kostbares Exemplar, um sie der Liebe eines anderen zu überlassen. Er durfte nicht mal Scherben übrig lassen, die ein anderer später einsammeln und kleben könnte.