Agnes musste drei Dosen Lager herunterkippen, bevor sie vor die Tür treten konnte. Am Zaun stand eine Gruppe von Frauen, die Arme wie Stoßstangen verschränkt. Sie hatte das Gefühl, die Frauen warteten dort, seit sie vor vier Monaten eingezogen waren. Die Kälte störte sie offenbar nicht. Der Boden war voller Zigarettenkippen, und auf den Zaunpfosten standen schmutzige Teetassen. Als Agnes aus der Tür kam, brachen sie die Gespräche ab und drehten sich geschlossen zu ihr um. Mit hoch erhobenem Kopf ließ Agnes die Absätze ihrer schwarzen Pumps laut und klar auf dem Pflaster klackern. Sie lächelte die Frauen in den Leggings und Pantoffeln hochmütig an. Dann ging sie an ihnen vorbei und schlug die Richtung der Bergarbeiterkneipe ein, um einmal alles zu vergessen.
Die Frauen beobachteten sie schweigend. Kurz bevor Agnes außer Hörweite war, meldete sich eine von ihnen zu Wort. »Wir ham uns nich schon gestritten, oder?«, fragte Bridie. Ihr gesträhntes Haar war noch nicht gebürstet, und ihr massiger Rumpf steckte in einer Männerjogginghose und einem Bademantel.
Agnes drehte sich nicht um. »Wie kommst du darauf?«
»Weilde uns nich zu deiner Party eingeladen hast. Ich dacht, wir wären Kumpel?«
»Welche Party?« Agnes drehte sich halb um.
»Na, wo willste sonst hin, wennde dich so aufgerüscht hast?«
»Zum Miners’ Club. Ich wollte mal sehen, was ihr so macht, um euch zu amüsieren.«
Die Frauen tauschten Blicke. Nervös drehten sie an ihren Christopherus-Medaillons. »Vergisset«, sagte Bridie. »Die Kerle mögens nich, wenn wir da auftauchen. Bleib lieber hier bei uns, und wir feiern ne kleine Willkommensparty.« Bridie zog eine große Glasflasche hinter dem Zaunpfosten hervor. Sie kippte den Inhalt ihrer Teetasse auf die Straße und schüttelte die Wodkaflasche. »Komm rüber und erzähl unsen bisschen wat von dir.«
Agnes trat näher und sah zu, wie die bittere Flüssigkeit den Schmutzring des Tees auffraß. Als der pure Wodka fast den Rand erreichte, hielt sie mäßigend die Hand hoch und kicherte sittsam. Bridie warf ihr einen Seitenblick zu und goss weiter bis oben hin. »Fürn Frieden. Ich will ja nich, datte uns für billig häls.«
Agnes nahm die Tasse und bedankte sich höflich. Die Frauen beäugten ihre neue Nachbarin von oben bis unten: die Riemchenpumps, das mit Spray fixierte Haar, den schönen Pelzmantel. Agnes sah die leere Straße rauf und runter und ließ sich begaffen. Die Dämmerung brach wieder früh herein. Die Straßenlaternen brannten schon, und ein Rudel halsbandloser Hunde streunte von Pfütze zu Pfütze und schnüffelte an den stinkenden Gullys. Einer pinkelte, und die anderen markierten der Reihe nach dieselbe Stelle. Agnes wandte sie wieder den Frauen zu, die sie hungrig anlächelten. »Na dann, zum Wohl.« Sie stießen mit den Tassen an.
Jemand zog einen Beutel mit Tabak heraus und ließ ihn herumgehen. Jinty leckte ein Zigarettenpapier ab und streute bedächtig eine schmale Linie goldenen Tabak hinein. »Steck das weg!«, sagte Agnes, die die Chance sah, sich für den Wodka zu revanchieren. Sie griff in die tiefen Manteltaschen und zog ein Päckchen Kensitas aus dem Nerz.
Bridie betrachtete das glänzende goldene Päckchen, das vergoldete Feuerzeug. »Jesses. Als wär die Queen persönlich eingezogen.«
»Is wat anderes, wemma sichen Tabak nich außen Zähnen pulen muss«, stimmte Jinty zu.
Jede Frau nahm sich eine Zigarette und zündete sie sich an. Gierig zogen sie daran und ließen sich schweigend das Aroma schmecken. Sie hielten die Zigaretten zwischen Daumen und Zeigefinger wie ein Blasrohr. Dabei musterten sie Agnes, deren lackierte Nägel wie fünf Marienkäfer vor ihrem Gesicht tanzten. Mit anmutigen Fingern rauchte sie leichte, flache Züge, während die anderen tief die Wangen einsaugten. Dann hob sie die Tasse und trank mit großen, gierigen Schlucken.
»Wo kommtern her?« Jinty streckte den Finger aus, um Agnes’ Smaragdohrringe zu berühren.
»Ursprünglich? Germiston. Aber ich schätze, man kann sagen, überall aus dem East End. Ich bin ziemlich oft umgezogen.«
»Überall außem East End, he?«, wiederholte Bridie und nickte weise. »Dann biste bestimmt ne gut Katholikin. Un wat bringt dich hier raus in unsre lütte Siedlung?«
Agnes stockte. »Mein Mann hat gehört, es wäre ein hübscher Ort zum Leben, ein sicherer Ort für die Kinder.« Sie hielt inne. »Mit netten Nachbarn.«
»Aye.« Bridie lachte. »Nen Kurort isset nich grade, dat war früher mah. Die Mine is jahrelangen Bach runtagegangen. Heut hat fast keener mehr Arbeit. Von Jahr zu Jahr hocken mehr Männers zu Hause und holen sich am helllichten Tach einen runter.«
»En pah ham noch Arbeit. Hauptsächlich machense die Löcher dicht, damit keene vonne Blagen rinfallen«, erklärte Noreen. »Damit keene Unfälle mehr passiern, weißte.«
»Unfälle?«
»Aye, et hat immer wieder böse Wetter gegehm. Früher hamses Methan da rauspumpen müssen, um malochen zu könn. Na ja, die Männers, die hams gewusst; die ham gewusst, wogegense arbeiten, und ham immer Respekt gehabt, aber einmah is der Stollen einfach runtagekomm aufde ahmen Seelen. Is einfach eingestürzt. Und dann hats ne Explosion gegeben, und alle sin verbrannt. Hat einige Blagen hier zu Halbwaisen gemacht.« Jinty starrte immer noch auf Agnes’ Ohrringe. »Und viele Frauen einsam.«
Sie drehten sich um und sahen zu dem Haus, in dem die Frau mit dem Totenkopfgesicht wohnte. Bridie seufzte. »Keene Sorge wegen Colleen McAvennie. Die bellt schlimmer, alze beißt.«
»Ist sie auch eine Cousine von dir?«
»Aye, aber nich mein Blut, verstehste. Die will nur immer ihren Jamesy beschützen. Is früher mahn gutaussehender Kerl gewesen. Großer schwerer Kraneinweiser; hat die Jungs mim Förderkorb innen Schacht runtagelassen und hochgezogen. Aber dann isser beim Brand inne Grube verletzt worn, und die ganze Haut vonne Schulter und Hals sind flöten gegang. Rot wien Sonnenbrand im Juli.« Die Frauen senkten die Köpfe, fast ein Zeichen von Respekt. »Is aber trotzdem nochen gutaussehender Mann.«
»Wo is eigentlich dein Mann mitte schicken roten Koffern hin?«, fragte Jinty plötzlich.
»Er ist Taxifahrer; manchmal nimmt er ein paar Sachen mit«, log Agnes. Die Erklärung war mager. »Er fährt meistens Nachtschicht.«
Jinty saugte an ihren Zähnen. Dann griff sie mitfühlend nach Agnes’ Hand. »Wir sin hier nich von gestern, Süße. Für mich hatter ausgesehen, als wollter länger wegbleim.«
Bridie zeigte mit der Zigarette auf Jinty. »Ach, hör nich auf die. Lass dich nich runterziehen. Wir sang bloß, wir ham alle Männers und wir ham alle Probleme mitte Männers.«
Die Frauen zogen mitfühlend an ihren Kippen. Noreen runzelte besorgt die Stirn. »Wie willste die Blagen füttern, wenner nicht wiederkommt?«
Das Geld war ihre große Sorge, und die Angst nagte an ihrem Herzen. »Ich weiß es nicht.«
Die Frauen tauschten Blicke. Bridie sprach zuerst. »Na, dann müssenwa dich beide Stütze anmelden. Montagmorgen gehste aufs Amt. Du musst nur zusehen, dasse Invalidenrente kriegst. Beim Arbeitslosengeld müssteste nämich sonst jeden Donnerstag da antanzen.«
»Würde ich denn Invalidenrente bekommen?«
»Keine Sorge, Süße. Wenn die deine Adresse sehn, machense dir ohne mitte Wimper zu zucken den Stempel drauf.« Bridie zeigte auf die leere Straße. »Hier gips eh keine Arbeitsplätze. Invalidenrente is unser einziger Club, und Montag ist Clubtag.«
Agnes setzte die Wodkatasse wieder an und starrte in die trübe Flüssigkeit. Offenbar war viel Milch in dem Tee gewesen.
Lächelnd schenkte Bridie ihr bis zum Rand nach. »Aye, ich hab gleich gesehen, dasse trinkst.« Sie zog an ihrer Zigarette. »Habs dir aufen ersten Blick angesehen. Die andern ham dich für sone aufgeblasene Trulla auße Stadt gehalten, mit deinen Pailletten und dem ganzen Schnickschnack. Aber ich hab gleich gesehen, wat dahintersteckt. Ich hab die Traurigkeit gesehen, und da wusst ich, dasse anne Flasche hängst.«
Die Frauen nickten und krächzten »Aye« wie ein Schwarm Krähen. Agnes erstarrte mit der Tasse an den Lippen.
»Trinkse alles, watte kriegst?«, fragte Bridie.
»Wie bitte?« Agnes ließ die Tasse sinken.
»Hasten sehr ernstes Problem?«, erklärte Bridie.
»Ich hab überhaupt kein Problem.«
»Hömma, Goldstück. Du stehst hier mitten auffe Straße und trinkst Wodka pur. Sieht so aus, als hättste jedenfalls kein Problem, Invalidenrente zu kriegen.«
»Ihr trinkt doch alle Wodka«, gab Agnes beleidigt zurück.
Die Frauen zogen hämisch die Mundwinkel nach unten, als sie ihr im orangen Schein der Laternen den Inhalt ihrer Tassen zeigten. In jeder leuchtete das trübe Weiß von Tee mit Milch. »Nee, Süße, wir trinken bloß pisskalten Tee«, wies Bridie sie zurecht. »Du bist hier die Einzige, die sich Wodka reinkippt wie Kranwasser.«
Agnes’ Gesicht glühte rot. Die Frauen lächelten sie mit dünnen Lippen mitleidig an. Im orangen Laternenschein wirkten ihre Pupillen unter den schweren Lidern schwarz. Agnes sah in ihre Tasse und stürzte den Rest herunter.
Bridie hielt die Hand hoch. »Pass auf. Ein Tag nachem anderen und der Scheiß. Ich hab selber mahn kleines Problem gehabt. Sechs Blagen unnen arbeitslosen Ehemann? Kannste glauben, dass ich gesoffen hab.« Mit der Sandalenspitze zertrat sie die Kippe im Staub. »Am Ende warns die Filmrisse, die mirn Rest gegeben ham. Ich hab die ersten fünf Minuten vom Tag morgens nich mehr ausgehalten, wenn ich nich gewusst hab, wer wat zu wem gesagt hat und mit welcher Pissnelke ich mich wieder angelegt hatte. Wennde dir inne Küche ne Tasse Tee machst und dich alle schon vonne Seite anglotzen. Dann kuckste dich um, und einer hatten blaues Auge. Dann gehste zum Spiegel und hast selbst auch eins.« Die Frauen nickten mitfühlend. Keine lachte.
Jinty erzählte: »Ich hab vor Dolans Laden gestanden und mit Leuten über die neueste Folge Dallas geredet, die ich am Abend vorher anne Haare über die Straße gezerrt hatte.« Sie ballte die Fäuste, ihr schmächtiger Körper von der Erinnerung belebt. Dann zeigte sie auf das Haus der Frau mit dem Totenkopfschädel. »Wisster noch, als Colleen meinte, Isa hätte Big Jamesy schöne Augen gemacht?«
Bridie schnalzte mit der Zunge. »Son Quatsch. Die beiden sin ein Blut. Dat vergessen alle immer.«
»Hat Colleen nich interessiert.« Jinty wandte sich wieder an Agnes. »Unser Colleen trinkt nämich eigentlich ganich. Die hats mehr mit Jesus, dense an ihrm Herzen überall mit rumschleppt. Aber an dem Montagmorgen hatse doch einen gekippt, is sternhagelvoll gewesen. Sie kam mit ihren Montagsbuch vonne Post und hat jeden beschissenen Penny versoffen. Die Bälger ham vor Hunger geheult, während sie sich immer noch was eingegossen hat. Und dann hatse ne Plastiktüte genomm, is die ganze Straße hoch und runter und hat Hundekacke eingesammelt. Helle, dunkle, weiche, harte, bis die Tüte bis oben hin voll war. Und dann isse mitte Tüte voll Scheiße die Straße hoch.« Jinty zeigte in Richtung der Abraumhalden. »Hat sichen dottergelben Gummihandschuh angezogen und angefangen, mitter Kacke zu schmeißen. Hat die Straßenseite von Isas Haus von oben bis unten eingesaut mit Hundescheiße. Hat Scheiße geschmissen und geschrien, Big Jamesy soll rauskommen und sich ihr stellen wien Mann.«
»Und was ist dann passiert?«, fragte Agnes.
»Aye, kommt gleich.« Jinty warf einen hämischen Blick über die Schulter auf Colleens Gartentor. »Die hat dat ganze Haus mit Hundescheiße beworfen, dasses meilenweit gestunken hat. Die Scheiße is anne Fenster runtergelaufen und am Rauputz klehm gebliem. Die Mauer hat nur so getrieft. Ich bin weiß Gott kein Fan von Isa — erst hat ihr Mann vonner Grube ne Abfindung kassiert, und dann isse mittem Geld zum Bingo und gewinnt auch noch —, aber Scheiße werfen, nee, das geht gah nich, dass jemand auffe Straße mit Scheiße rumwirft wie sone Wilde.«
Bridie setzte die Geschichte für sie fort. »Am Ende hat sich rausgestellt, dass Big Jamesy überhaupt nich mit Isa rumgemacht hat. Er war uff Maloche. Maloche! Ausgerechnet. Er hatten Job auffe Müllkippe gefunden, Teilzeit, und hats keim gesagt, weiler Angst hatte, dasser angeschwärzt wird und die Stütze gestrichen kriegt.«
Jinty küsste ihren heiligen Christopherus. »Colleen hat gedacht, der vögelt rum, dabei wollt der ahme Kerl nurn bisschen Kohle extra verdienen.«
»Zum Glück gips Filmrisse.« Finster bekreuzigte sich Bridie. »Also. Ich weiß, warumde säufst, Süße. Manchmah isset echt hart, mit allem zurechtzukommen. Ich halt mich inzwischen vonne Flasche fern, aber dafür nehmichen pah von denen hier jeden Tag.« Sie hielt ein kleines Tablettenfläschchen hoch. »Bridies kleine Kumpel.«
»Aspirin?«, fragte Agnes.
»Nee!« Bridie leckte sich die Oberlippe und beugte sich vor. »Valium. Fallsde mah welche ausprobieren willst. Mah kosten. Wennde mehr willst, kann ichse dir besorng. Zum Sonderpreis.« Bridie drückte auf den Deckel und schraubte lächelnd die Plastikflasche auf. Sie kippte Agnes zwei Tabletten in die Hand, als wären es Bonbons. »Hier, probier einfach mah. Und willkommen in Pithead.«