Er konnte seine Mutter nirgends finden. Er hielt den knochenweißen Zahn in der hohlen Hand; der kleine Schneidezahn schwamm in einer Pfütze aus Spucke und Blut, und Shuggie war sich sicher, dass er sterben würde. Waren das die Sachen, die passierten, wenn man sieben war? Er traute sich nicht, die anderen Zähne mit der Zunge abzutasten, weil er Angst hatte, dass sie dann alle ausfallen würden. Er musste seine Mutter finden, um sie zu fragen. Aber seine Mutter war fort.
Shuggie drückte das Gesicht an das rostige Gartentor und beobachtete ein Rudel streunender Zechenhunde. Fünf Rüden drangsalierten eine kleine schwarze Hündin. Sie machten hohe kläffende Geräusche, als sie vorbeiliefen, und Shuggie steckte den Mund zwischen die Zaunbretter und sang mit — jip jip jip. Er lauschte dem Gesang der Hunde; es war, als würden sie ihn rufen. Eigentlich durfte er nicht vor das Gartentor, ohne ihr Bescheid zu sagen, aber sie war ja nicht da.
Die Gummisohlen seiner Schuhe fest hinter dem Tor verankert, streckte er den Kopf auf die Straße und spähte erst nach links, dann nach rechts. Er erfand ein Spiel, bei dem er die Luft anhielt und raus- und wieder reinrannte und dabei die ganze Zeit nach ihr Ausschau hielt.
Sie war nicht da.
Die Hunde riefen ihn vor das Tor. Shuggie nahm seine schmutzig blonde Puppe vom Boden und warf sie raus auf die Straße. Mit einem heiseren Knacken landete Daphne auf dem Pflaster und machte einen Schneeengel im Staub. Shuggie hechtete hinaus, schnappte sie, flitzte wie ein kleiner knochiger Fisch zurück und schlug mit lautem Scheppern das Tor hinter sich zu. Als er über die Schulter zum Haus sah, kam niemand ans Fenster, und bei Bridie Donnelly kam auch niemand ans Fenster. Niemand sah ihn. Sie war nicht da.
Shuggie öffnete wieder das Tor und folgte den Hunden. An der Ecke standen ein paar Frauen in Männerpantoffeln. Sie hatten sich lebhaft über irgendwas unterhalten, aber als er näher kam, senkten sie die Stimme. Eine drehte sich zu ihm um und machte einen Knicks. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, so zu tun, als wäre es ihm egal, und tanzte demonstrativ weiter über die staubige Straße an der Kirche auf der Anhöhe vorbei. Er machte sich einen Spaß daraus, Staubwolken in den Himmel zu wirbeln, und tanzte immer weiter weg von zu Hause. Als er an der katholischen Schule war, sah er den Kindern auf dem Pausenhof zu. Er stand im Schatten einer Rosskastanie und fragte sich, warum er nicht in der Schule war. Heute Morgen waren keine Zeichentrickfilme gelaufen, deswegen wusste er, dass nicht Samstag war, aber sie hatte ihm seine Kleider nicht hingelegt, wie sie es manchmal tat, und deswegen war er nicht gegangen, und sie hatte nichts gesagt.
In einer Ecke des Pausenhofs kickten die Jungs gnadenlos einen alten Fußball herum, und sie entdeckten ihn, bevor er merkte, dass sie ihn sahen. »Was hassen da?«, rief der Kleine der braunen Brüder, der Söhne von Colleen McAvennie mit dem Totenkopfgesicht. Instinktiv versteckte Shuggie die Daphne-Puppe hinter dem Rücken.
»Hallo«, sagte Shuggie und winkte höflich. Er ahmte den Knicks der Bergmannsfrau nach und streckte elegant ein Bein nach hinten aus.
Mit offenem Mund starrten sie ihn durch das abblätternde Geländer von oben bis unten an. »Warum bisse nich inne Schule?«, fragte Gerbil, der jüngere, und pulte grüne Farbschuppen vom Metall.
»Ich weiß nicht«, gab Shuggie schulterzuckend zu. Die Jungs waren nicht viel älter, aber sie waren kräftig und braungebrannt von den Sommern draußen, wenn sie das Moor erkundeten und Katzen in die Steinbrüche warfen. Er hatte gesehen, wie leicht sie den schweren Schrott vom Lastwagen ihres Vaters luden.
Francis McAvennie kniff die dunklen Augen zusammen und sagte: »Dat is, weil deine Mammy ne olle Saufnase is.« Er beobachtete Shuggies Gesicht, um die Wirkung seiner Worte zu sehen.
Gerbil McAvennie steckte sich eine Farbschuppe in den Mund. »Wieso haste kein Daddy?« Seine Stimme war schon so tief wie die eines Mannes.
»Hab ich w-wohl«, stammelte Shuggie.
Gerbil grinste. »Und wo isser dann?«
Das wusste Shuggie nicht. Er hatte gehört, dass er ein Hurenbock war, dass er die Blagen einer anderen Frau großzog und dass er jede Schlampe fickte, die bei ihm im Taxi saß. Aber er hatte das Gefühl, das sollte er nicht sagen. »Er hat Nachtschicht. Er verdient Geld, damit wir in Ferien fahren können.«
Die Schulglocke läutete, und Father Barry kam heraus, um die Kinder durchzuzählen. Gerbil streckte die Hand durch den Zaun und grapschte mit langen Fingern nach Shuggies Puppe. Francis gluckste wie ein Baby und machte bei dem Spiel mit, bis beide wild die Arme nach ihm ausstreckten. Shuggie wich in den Schatten der Rosskastanie zurück. »Ich sags Father Barry! Du schwänzt die Schule!«, kreischten sie.
Shuggie drückte Daphne an die Brust, drehte sich um und lief, so schnell er konnte, davon. Als er am Miners’ Club vorbeikam, war er völlig außer Atem, aber er hörte immer noch, wie die McAvennie-Jungs nach Father Barry riefen.
Das Wirtshaus war heruntergekommen und sah verlassen aus. Shuggie stellte sich auf die Zehenspitzen und zog sich am Gitter vor dem Fenster hoch. Dann sah er sich auf dem Vorplatz um, wo leere Lagerfässer in Bierlachen standen. Das schmutzige Ale mischte sich mit Benzin, und auf den Tümpeln schimmerten bunte Regenbögen. Shuggie kniete sich hin und tauchte Daphnes blondes Haar in die schillernde Pfütze. Als er sie wieder herauszog, hatte ihr glänzendes gelbes Haar die Farbe der Nacht, und er schnalzte mit der Zunge. Wo waren die schönen Regenbogenfarben jetzt? Er tauchte ihren Kopf wieder in die Pfütze und hielt ihn länger unter Wasser. Die Puppe klappte die Augen zu, als würde sie schlafen, aber sie lächelte dabei, und er wusste, dass alles in Ordnung war. Als er sie aus der Pfütze zog, lief die schwarze Flüssigkeit ihr über das Gesicht und auf das weiße Wollkleid. Ihr billiges gelbes Haar war mattschwarz geworden. Er starrte die Puppe an, und plötzlich fiel ihm auf, dass er eine ganze Minute nicht an seine Mutter gedacht hatte. Daphne roch komisch.
Eine Weile lief er im Slalom um die Lagerpfützen. Er spähte die Straße hinauf, und als er sich sicher war, dass Father Barry nicht nach ihm suchte, lief er los und bog in eine Gasse mit Bäumen ein, die er noch nie gesehen hatte. Sie führte hinter einer Reihe von älteren Bergmannshäusern vorbei, die durch einen Gemeinschaftsgarten verbunden waren. An einem Ende des Gartens stand ein Backsteinschuppen, in dem die Mülltonnen untergebracht waren. Es war ein niedriger, fensterloser Klotz, vor dessen dunkler Öffnung eine grün gestrichene Tür aus den Angeln hing. Neben dem Schuppen lag eine riesige alte Waschmaschine auf der Seite, schwer und groß wie ein Schrank, wie sie in Krankenhäusern und Wohnheimen benutzt wurden. Sie war zu schwer für die Müllmänner, deshalb lag sie neben dem Schuppen und rostete vor sich hin, und dicke Fliegen surrten faul in ihrem Schatten ein und aus.
In der Waschmaschine saß ein Junge, die Beine über dem Kopf, in die Trommel geringelt wie eine Katze mit gebrochenem Rückgrat. »Willste mah in meim Karussell mitfahren?«
Shuggie sah ihn erschrocken an.
Der Junge schwang hin und her, in schaukelnden Halbkreisen in der Trommel, dass in einem Moment seine Füße über seinem Kopf und im nächsten Moment sein Kopf über den Füßen war. »Siehste, issen Mordsspaß!«, lockte er.
Shuggie hielt ihm Daphne hin und ließ ihr den Vortritt. Der Junge schraubte sich aus der Trommel und schob die langen braunen Beine durch die Öffnung wie eine Spinne, die durch ein Schlüsselloch kriecht. Dann bog er den Körper rückwärts heraus; als er sich aufrichtete, war er fast so groß wie die Waschmaschine. Er war ein gutes Jahr älter als Shuggie, mindestens acht oder neun, und er fing bereits an, in die Höhe zu schießen.
»Hallo. Ich heiße Johnny. Meine Ma nennt mich Bonny Johnny«, sagte er mit einem schmalen Lächeln. »Soll so wat wien Wrestler-Name sein, aber ich find es Dünnpfiff.« Er schlug sich auf den Unterarm, wie es die Wrestler vor dem Kampf im Fernsehen taten. Dann boxte er in die leere Luft. »Und wie heißt du, kleiner Mann?«
»Hugh Bain«, antwortete er schüchtern. »Shuggie.«
Der Junge beobachtete ihn, spähte unter gesenkten Lidern hervor, der gleiche Blick, mit dem ihn die Kinder der Bergleute in der Schule ansahen, wenn Shuggie sich meldete. Es war eine Mischung aus Argwohn und Verachtung. Shuggie hatte den Blick häufig bei seiner Großmutter gesehen, wenn sie seinen Vater anschaute. Er drehte das linke Knie nach innen.
Dann grinste Johnny. Sein Ausdruck hatte sich so schnell verändert, dass Shuggie einen Schritt zurückwich. Es war, als hätte er einen Schalter umgelegt, und sein Gesicht leuchtete wie eine nackte Glühbirne in einem leeren Raum.
»Wat hasten da, Shuggie, is das ne Puppe?« Der Junge benutzte seinen Namen, als würde er ihn schon lange kennen. Ohne auf Antwort zu warten, sagte er: »Biste vielleichten kleines Mädchen?« Er trat ins hohe Gras, trat es platt, als er auf ihn zukam.
Shuggie schüttelte wieder den Kopf.
»Wennde kein kleines Mädchen bis, musste wohl ne kleine Schwuchtel sein.« Sein Grinsen wurde hart. Nur seine Stimme war tief und süß, als redete er auf einen Welpen ein. »Du bist doch keine Schwuchtel, oder?«
Shuggie wusste nicht, was eine Schwuchtel war, aber er wusste, dass es schlimm war. So nannte Catherine Leek, wenn sie ihn beleidigen wollte.
»Weißte überhaupt, wat ne Schwuchtel is, kleiner Mann? Ne Schwuchtel issen Junge, der schmutzige Sachen mit andern Jungs macht.« Jetzt stand Johnny direkt vor Shuggie, und er war fast doppelt so groß wie er. »Ne Schwuchtel issen Junge, der liebern kleines Mädchen wär.«
Bonny Johnny war schmutzig weiß, als hätte man ihn zu lange in Tee getaucht. Seine Haut hatte einen Sepiastich, sein Haar glänzte wie Honig und die Augen waren bernsteinfarben wie Lagerbier. Als Johnny lächelte, sah man schon die Zähne eines großen Jungen. Shuggie betastete mit der Zunge seine Zahnlücke, als er zurücklächelte. Johnny riss ihm die Puppe aus der Hand und warf sie in die Waschmaschine. »Siehste! Die will auch Karussell fahren.«
Dann drückte sich Johnny von hinten an Shuggie, schlang ihm die Arme um die Taille und hob ihn durch das Loch in die Trommel. Shuggie stieg ein, und eine helfende Hand gab ihm den letzten Schubs. Daphne umklammernd sah er ins Tageslicht hinaus und spürte das eiskalte Metall an den Beinen.
Johnny packte die Kante der Trommel und fing an, sie langsam von rechts nach links zu schaukeln, sanft wie eine Wiege. Shuggie fiel vornüber und versuchte, sich gegen das Metall zu stemmen, um das Schaukeln auszugleichen; er spannte alle Muskeln an und bleckte die Zähne wie eine verschreckte Katze. Daphne rutschte ihm weg und polterte durch die Trommel.
Johnny schaukelte ihn sanft weiter. »Siehste, is nich so schlimm, oder?«
Die Bewegung erinnerte Shuggie an das Piratenschiff vor der Lieblingsbäckerei seines Großvaters, in das man eine Münze werfen konnte. Unfreiwillig gluckste er vor Vergnügen.
»Warte«, sagte Johnny. Er hielt die Kante fest, stemmte sich gegen die Waschmaschine und begann heftiger zu schaukeln. Shuggies Kopf und Knie sausten in Halbkreisen von einer zur anderen Seite, während Daphne gegen die Decke knallte. Johnnys Nackenmuskeln schwollen an, als er die Trommel mit aller Kraft herumwuchtete. Shuggie überschlug sich. Die Trommel drehte sich wieder und wieder, und Shuggie krachte mit dem Kopf gegen das Metall und schlug sich den eigenen Fuß in den Rücken.
Dann wurde die Trommel langsamer, und Shuggie polterte kopfüber herab. Ein fleischiger Arm griff nach einer der Metallrippen und hielt die Zentrifuge fest. In Shuggie stieg ein sirenenartiges Geheul auf, als der Schmerz durch seinen Schädel, das aufgeplatzte Knie und die zerbeulten Schienbeine schoss. Durch einen Wasserfall der Tränen sah er, wie eine große Hand auf Johnnys Kopf eindrosch, während der Junge sich duckte und versuchte sein Gesicht zu schützen. Der Angreifer war so groß, dass Shuggie sein Gesicht nicht sah, er sah nur die wütenden Schläge des tätowierten Arms, die auf den bloßen Nacken und die Schultern des Jungen niedergingen.
»Wat in Herrgotts Namen hab ich dir wegen der beschissenen Waschmaschine gesagt?«, donnerte der kopflose Torso. Sein dicker Daumen zeigte auf die Trommel. »Hol dat raus da, zum Teufel, oder ich schlag dich windelweich.«
So schnell die Gestalt aufgetaucht war, so schnell war sie wieder verschwunden. Wie ein geprügelter Hund stand Johnny vor der Waschmaschine. Er lächelte nicht mehr, und seine Ohren hingen herunter. Er griff in die Trommel und zog Shuggie heraus. »Hey. Hör auf zu heulen, oder ich schlag dich windelweich.«
Das Tageslicht blendete Shuggie, als er aus der Trommel kam. Sein Kopf tat so weh, dass er keine Farben mehr sah.
Johnny sah sich den Jungen von oben bis unten an. Shuggie blutete am Bein, wo ihm das Metall die Haut aufgerissen hatte, und seine Arme und Beine liefen jetzt schon blau an. Johnny packte ihn und zerrte ihn um die Ecke durch die schwarzen Fliegen in die dunkle Kühle des Müllschuppens. Es roch sauer nach verdorbenem Joghurt.
Im Dunkeln spuckte sich Johnny in die Hand und rieb damit im nassen Gesicht des Jungen herum, und dann an seinem Schienbein. Es machte alles noch schlimmer. Das Blut vermischte sich mit Spucke, und statt wegzugehen, verteilte es sich noch mehr. Der große Junge bekam Angst, und seine Augen weiteten sich. Er riss eine Handvoll grüner Ampferblätter aus der Erde und rubbelte Shuggies Bein damit ab. Er schrubbte, bis das Blut weg war und stattdessen eine dicke Schicht matschiger Pflanzenrotz an Shuggies Bein klebte. Das Chlorophyll brannte in der Wunde. Shuggie begann wieder zu wimmern.
»Halt still, du kleiner Schwuchtelarsch.« Seine anfängliche Freundlichkeit war verflogen. Shuggie sah die roten Handabdrücke seines Vaters auf Johnnys sepiastichiger Haut aufblühen.
Im Schuppen war es bis auf das Brummen der fetten Schmeißfliegen still. Johnny rieb und rieb am Bein des kleinen Jungen, bis sein Atem ruhiger wurde. Er rieb, bis Shuggie erst weiß, dann rot, dann dunkelgrün war. Als sich die Angst in Johnnys Augen langsam legte, kehrte das falsche Lächeln in sein braunes Gesicht zurück. Es war sehr dunkel im Müllschuppen.
Bonny Johnny richtete sich auf, eine drahtige Silhouette vor dem hellen Tageslicht. Er drückte Shuggie den grünen Blättermatsch in die Hand, dann zog er sich die Turnhose herunter. »Hör auf zu flennen«, sagte er mit seinen großen Zähnen. »Jetzt rubbelst du mich.«
Als Shuggie endlich am Miners’ Club vorbeihumpelte, hatte die Sonne die Regenbogenpfützen fast getrocknet. Er hatte Daphne in der Waschmaschine zurückgelassen. Er wollte nie wieder dorthin zurück.
Als er sich die Eingangsstufen hochschleppte, hörte er sie im Flur am Telefon. »Fick dich, Joanie Micklewhite. Richte dem hurenden Sohn einer protestantischen Nutte aus, das er nicht alles haben kann!« Die erschütternde Klarheit ihres Queen’s English unterstrich die unflätigen Ausdrücke noch. »Du beschissene, schwanzlutschende Drecksau. Du bist so hässlich und fade wie der trockene Arsch eines alten Weißbrots.« Sie knallte den Hörer so fest auf die Gabel, dass die Glocke klingelte.
Shuggie kam ans Ende des Flurs und bog um die Ecke. Seine Mutter saß mit übereinandergeschlagenen Beinen am Telefontischchen und hielt eine Tasse auf dem Knie. Sie sah ihn an, als wäre er soeben aus dem Teppich gewachsen. Sie bemerkte weder den fehlenden Zahn noch das mit Blut, Spucke und Ampfer verschmierte Bein.
In ihrem Gesicht klebte die glasige Grimasse, die von unter der Küchenspüle kam. Sie nahm ihren Ohrring und schmiss ihn durchs Zimmer, bevor sie wieder nach dem Hörer griff. »Jetzt bin ich so richtig in Stimmung, um deiner Granny zu sagen, wohin sie sich verziehen soll, verdammte Scheiße.«
Das Haus war nur einen Steinwurf von der Bushaltestelle entfernt, aber Leek ließ sich sehr viel Zeit auf dem Heimweg. Seine Beine waren schwer von der Schufterei beim Jugend-Ausbildungsprogramm, und sein Herz war schwer von der Angst vor dem, was ihn zu Hause erwartete. Er wünschte sich einfach nur eine friedliche Stunde zum Zeichnen, aber seit sie nach Pithead gezogen waren, hatte es das ganze Jahr keinen Frieden gegeben.
Er wusste, dass Catherine heute Abend wieder nicht nach Hause kommen würde. Sie wurde immer besser darin, sich zu verdrücken und ihr geheimes Leben mit Donald Junior von ihrer sich auflösenden Mutter fernzuhalten. Catherine behauptete, ihr Chef sei ein Sklaventreiber und sie käme abends immer so spät aus dem Büro, dass sie bei ihrer Großmutter übernachten musste. Leek wusste von den Geldnöten seiner Mutter, er wusste, wie sehr sie auf Catherines wöchentlichen Beitrag angewiesen war, und dass sie deswegen nichts sagte. Leek wusste auch, dass Catherine in Wirklichkeit bei Donald Junior war, wo sie im Gästezimmer seiner Eltern auf der Luftmatratze schlief und ihre Unschuld verteidigte, bis Donald sie endlich heiratete. Nach all den Jahren, in denen er sich darin geübt hatte, nahm Leek es Catherine übel, dass sie es zuerst schaffen würde zu verschwinden.
Obwohl es draußen noch hell war, brannte in jedem Zimmer grelles Licht, und die Vorhänge standen schamlos offen. Das war ein sehr schlechtes Zeichen. Shuggie stand im Wohnzimmer zwischen der Gardine und dem Fenster. Er hatte die Hände und das Gesicht gegen die Scheibe gedrückt und wackelte mit dem Kopf, um sich zu beruhigen, und keiner sagte ihm, dass er damit aufhören sollte. Als Shuggie seinen großen Bruder sah, bewegte er die Lippen zu einem tonlosen Leek und hinterließ einen Fettfleck auf dem Glas.
Die Gardinen flatterten. Ein Schatten erschien am Fenster, und Agnes tauchte hinter ihrem Jüngsten auf. Leek hob halbherzig die Hand und legte die andere auf das Tor, um zu zeigen, dass er nach Hause kam. Agnes lächelte ihn an, und das zu breite Grinsen sendete tausend Botschaften. Ihre Augen wirkten trüb, haltlos, und er wusste sofort, dass sie hinüber war.
Dann verschwand sie wieder, ging zurück an das Telefontischchen, zurück an die Flasche.
Leek nahm seine Werkzeugtasche und drehte sich wieder weg. Er hörte das beharrliche Klopfen an der Scheibe. Shuggie zog die Lippen weit auseinander, als er dramatisch flüsterte: Wohin. Gehst. Du?
Leek antwortete lautlos: Zu Granny.
Shuggie versuchte die Lippen ruhig zu halten. Kann. Ich. Mitkommen?
Nein. Zu weit. Ich kann dich nicht tragen.
Was er Shuggie nicht erzählte, war, dass er einmal zur Adresse seines richtigen Vaters gefahren war. Brendan McGowan. Er stand in Agnes’ Telefonbuch, in verschiedenen Farben und Breiten umkringelt, als wäre sie in den letzten Jahren immer wieder auf ihn zurückgekommen. Letzten Winter war Leek zu Fuß zu der Adresse gegangen und hatte sich gegenüber der großen viktorianischen Mietskaserne auf eine Mauer gesetzt. Er hatte einen Mann beobachtet, der von der Arbeit kam, einen Mann, den er nicht wiedererkannte, aber der die gleiche müde Körperhaltung hatte wie er. Mit den gleichen hellgrauen Augen. Der Mann parkte am Straßenrand, stieg aus dem Wagen und ging mit nichts weiter als einem höflichen Lächeln an Leek vorbei.
Als die Tür aufging, kamen ihm aus dem Flur drei kleine Gesichter entgegen, um ihn zu begrüßen. Leek hatte durchs Fenster gesehen, wie sich die fröhliche, laute Familie an den Esstisch am Fenster setzte und zu Abend aß. Er hatte gesehen, wie sie durcheinanderredeten, wie die Kinder sich auf ihre Stühle stellten, um zu Wort zu kommen, und wie der Mann über ihren Eifer gelacht hatte. Leek hatte ihnen lange zugesehen und dann den Zettel mit der Adresse zusammengefaltet und in den nächsten Gully geworfen.
Leek nahm seine Werkzeugtasche und machte sich zu Fuß auf den Weg aus Pithead. Er drehte Shuggie den Rücken zu und wagte es nicht, sich noch einmal zu dem flehenden Gesicht im Fenster umzudrehen. Bald würde es regnen, und nach Sighthill war es noch ein langer Marsch. Er war müde, er war schon lange müde. Er wollte sich nur noch ausruhen.