Durch die Gardinen sickerte farbloses Tageslicht. Es bohrte sich in ihr Gesicht, und mit einem Schnauben landete sie wieder im Bewusstsein. Vorsichtig öffnete Agnes die Augen und starrte die Stalaktiten an der cremefarbenen Kunstputzdecke an. Ihre Lippen klebten am trockenen Film auf ihren Schneidezähnen, als sie würgen musste. Unter den Fingern der rechten Hand spürte sie den glatten Damast des Sessels. Sie fuhr die vertrauten Brandlöcher nach. Sie saß mehr oder weniger aufrecht da, und in ihrer Armbeuge lag der tote Telefonhörer.
Eine Weile blieb sie still sitzen, den Kopf über die Sessellehne gekippt wie der Deckel eines offenen Treteimers. Dann schloss sie die Augen wieder und lauschte dem lauten Pochen ihres Schädels. Das Blut strömte ein und aus, ein und aus wie die Gezeiten. Bei Ebbe hörte sie, dass das Haus leer war. Es war noch früh, und der Junge war offenbar wieder allein zur Schule gegangen. Er hatte schon zu viele Tage verpasst. Zu viele Tage hatte er zu ihren Füßen gesessen, gewartet, sie beobachtet. Die Schule sah das nicht gern. Father Barry hatte gesagt, er müsse das Jugendamt informieren, wenn der Junge nicht bald anfing, regelmäßig zu erscheinen.
Manchmal schreckte sie morgens aus dem Schlaf, und Shuggie stand da und beobachtete sie. Fertig angezogen, klein im Vergleich zu dem riesigen Schulranzen, den er auf dem Rücken trug, mit gewaschenem Gesicht und nassem Haar, das er nur vorne gescheitelt und gekämmt hatte. Agnes lag in den Kleidern von gestern da und versuchte die trockenen Lippen über die Zähne zu ziehen, wenn er ihr »Guten Morgen« wünschte und sich leise umdrehte, um zur Schule zu gehen. Er wollte nicht aufbrechen, ohne ihr zu sagen, dass er gleich nach der Schule wieder da wäre. Er nahm ihren kleinen Finger und schwor es ihr.
Heute war alles still. Sie kippte den Kopf nach vorn, legte ihn in die Hände, und das Blut strömte in ihre Augenhöhlen. Shuggie war nicht da. Auf dem Tisch vor ihr stand eine Tasse mit kaltem Tee, auf dem sich schon eine milchige Haut bildete. Daneben lag eine Scheibe Toast mit Löchern und Butterklumpen, die mit einem ungeschickten Messer schlecht verschmiert waren. Mit der Hand die Augen beschirmend sah sie sich auf dem Couchtisch nach etwas um, das ihr Zittern beruhigte. Sie suchte in den Tassen nach einem Schluck Bier. Doch die Tassen waren leer. Agnes griff nach einer Zigarette und zog mit einem gequälten Wimmern die letzte aus der Schachtel. Zitternd zündete sie sich die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug.
Als sie sich nicht besser fühlte, stand sie auf, schleppte sich um die Couch und suchte nach versteckten Flaschen oder halbvollen Dosen. Sie wankte durch das leere Haus und kontrollierte alle Verstecke, an denen sich vielleicht noch ein vergessener Drink verbarg: den Wäschekorb, den Platz hinter den Videokassetten, deren Schachteln wie die Bände einer Enzyklopädie aussahen. Auf Knien zog sie alle leeren Plastiktüten aus dem Spülschrank, bis sie hüfthoch in einer Wolke aus blauem und weißem Plastik saß.
Panik stieg in ihr auf. Sie wanderte von Zimmer zu Zimmer, stieß durch die Vorderzähne schrille, schlürfende Geräusche der Wut aus. Immer wieder musste sie stehenbleiben, um, was ihr hochkam, in die Spüle oder eine alte Teetasse zu spucken. Sie nahm die große schwarze Ledertasche, kramte nach ihrem Portemonnaie und ließ die Metallschließe aufschnappen. Nur der heilige Judas Thaddäus kullerte am Boden im Bett der Fusseln und Krümel herum. Es war Donnerstag, und sowohl die Stütze, die montags ausgezahlt wurde, als auch das Kindergeld, das sie dienstags bekam, waren weg.
Letzten Montag hatte sie die ganze Nacht wachgelegen, bis die Ziffern des Radioweckers endlich auf acht Uhr sprangen. Dann war sie in Pumps und fleckigem Lidschatten die Pit Road hinaufgelaufen, um mit den Coupons aus dem Heft, das bei den Bergmannsfrauen »Montagsbuch« hieß, die Invalidenrente abzuholen. Mit hoch erhobenem Haupt hatte sie sich in die Schlange gestellt, die Hände in den Taschen zitternd, und versucht, die Frauen in den dünnen, trocken raschelnden Nylonjacken zu ignorieren. Sie stand reserviert und unnahbar daneben, während die anderen mit ihrem Raucherhusten und verschleimten Katarrh vor sich hin knotterten.
Achtunddreißig Pfund die Woche sollten reichen, um sie alle satt und sauber zu kriegen. Mit achtunddreißig Pfund die Woche standen die Mütter in dem kleinen Dorfladen und schauten begehrlich auf die Milchkartons, als wären sie Luxus.
Agnes löste das Montagsbuch mit der Haltung einer Königin ein. Dann ging sie an der Milch vorbei direkt zur Ladentheke und kaufte zwölf Dosen Starkbier. Heiter plauderte sie über das schöne Wetter, aber der Inder sagte nichts. Sie war überzeugt, dass ihr das blaue Elefantending, das hinter ihm hing, den bösen Blick zuwarf. Gesittet ließ sie den Geldbeutel wieder zuschnappen, als er die kalten Starkbierdosen in die Tüte packte. Die Frauen hinter ihr rechneten laut, und ihre Lippen bewegten sich beim Zählen, wenn sie Brot und Tiefkühlpommes und Zigaretten addierten und dann kleinlaut das Brot zurück ins Regal legten. Agnes verließ den Laden, hockte sich zwischen die Scherben hinter dem niedrigen Sandsteingebäude und öffnete die erste kalte Dose Special Brew.
Als Agnes am Dienstagmorgen wieder zum Laden ging, hatte sie schon einen sitzen. Ihre Knie wippten elegant, als sie die zweispurige Straße hinaufschwebte. Mit dem Dienstagsbuch bekam sie acht Pfund fünfzig Kindergeld. Gestärkt vom Special Brew erklärte sie dem Ladeninhaber, dass sie von seinem blauen Elefanten Gänsehaut bekam.
Aber heute war Donnerstag. Der Geldbeutel war leer bis auf den heiligen Judas Thaddäus und die Fusseln in den Falten. Ihre Augen füllten sich mit traurigen, selbstmitleidigen Tränen. Sie harkte mit einem Finger durch den vollen Aschenbecher. Sie musste überlegen, was sie tun sollte.
Wenn der Alkohol ihren Körper verließ, fiel ihr das Fernsehen schwer, also ließ sie sich ein heißes Bad ein. Im Wasser wäre ihr weniger kalt, und sie würde sich nicht so wund fühlen. Sie wusch sich den Schweiß und die Stumpfheit aus dem Haar. Dann nahm sie den Flanellwaschlappen, schrubbte sich den schlechten Geschmack von den Zähnen und legte sich zurück ins brühend heiße Wasser, um darüber nachzudenken, wie sie zu Geld kommen könnte. Ein tiefer roter Striemen lief um ihre weiche Mitte, wo der Bund der schwarzen Nylonstrumpfhose, nachdem sie im Sessel weggenickt war, ihr über Nacht ins Fleisch geschnitten hatte. Sie schob den Finger in die Furche. Der Striemen sah aus, als liefen Bahngleise über ihren schwabbeligen Bauch, und sie musste an den Zug nach Glasgow denken, an Paddy’s Market unter den Eisenbahnbögen, und an den Pfandleiher dort.
Ohne sich abzutrocknen, lief sie im feuchten Bademantel durchs Haus und suchte nach Dingen, die sie versetzen konnte. Bei Tageslicht sah alles billig und wertlos aus. Sie drehte jede Porzellanfigur um und versuchte sogar den Schwarzweißfernseher anzuheben, aber sie würde es niemals schaffen, ihn zu Fuß in die Stadt zu schleppen. Im Schlafzimmer ging sie ihren Schmuck durch, die zusammengewürfelten Einzelstücke, die lose in einer kleinen Plastiktüte herumflogen: die Caddagh-Ringe, die Lizzie ihr geschenkt hatte, das Medaillon ihrer Großmutter, den Armreif von Catherines Taufe. Es fiel ihr nicht leicht, aber am Ende legte sie die Tüte widerstrebend in die Schublade zurück.
Verstohlen lief sie um Leeks schwere Werkzeugtasche herum. Sie gab ihr einen Stoß mit den Zehen. Die Tasche war leer, er hatte das ganze Werkzeug mit zu seiner Ausbildungsstelle genommen. Selbst die Sachen, die er ganz bestimmt nicht brauchte. Offenbar hatte er vom letzten Mal, als sie dringend Geld auftreiben musste, seine Lektion gelernt. Agnes kratzte sich die Handflächen. Dann gab sie der leeren Werkzeugtasche einen Tritt und ging zu Catherines Schrank. Sie stellte überrascht fest, wie wenig darin war, als wäre Catherine eine Untermieterin, die sich gar nicht richtig eingerichtet hatte. Agnes nahm ein paar hohe Wildlederstiefel in die Hand, aber Regen und Matsch hatten sie längst ruiniert.
Mit schwindender Hoffnung öffnete sie den kleinen Wäscheschrank, wo sie die guten Handtücher aufbewahrte. Dort, sorgsam in einer großen Mülltüte verwahrt, lag der altmodische Nerz, den sie auf Brendan McGowans Zettel gekauft hatte. Sie nahm die Plastiktüte aus dem Schrank und schob die Hand in den weichen Pelz. Er fühlte sich an wie bares Geld.
Nach einer Stunde war sie frisiert, trug den langen Nerz und machte sich zu Fuß auf den kilometerlangen Weg entlang an der Schnellstraße zu Paddy’s Market. Sie ging dem Verkehr entgegen, mit hoch erhobenem Kopf und einem wissenden Lächeln im Gesicht. Der Zechenstaub kroch ihr in die offenen Riemchenpumps wie Sand am Strand. Sie versuchte den Dreck zu ignorieren, der zwischen ihren Zehen scheuerte, und drückte lächelnd den Rücken durch, als würde sie es genießen, sich den Wind des vorbeirauschenden Verkehrs durchs Haar blasen zu lassen. Ihr seltsamer Anblick ließ die Autos langsamer werden. Ihr Gesicht brannte vom fliegenden Sand und der Scham, aber sie warf den Kopf zurück und ging weiter. Sie wusste, dass sie wahrscheinlich wie eine Irre aussah.
Immer, wenn sie an einer Bushaltestelle vorbeikam, blieb sie eine Weile stehen, als wartete sie auf den Bus, und blickte demonstrativ auf eine Uhr unter den Ärmel, die sie nicht besaß. Dann wartete sie, bis sich der Verkehr wieder lichtete, und ging zur nächsten Bushaltestelle weiter, mit dröhnendem Kopf und brennendem Herzen. Etwa fünf Kilometer nach der Siedlung hielt der Bus sogar extra auf freier Strecke für sie an. Sie drehte den Kopf weg, zog die Hand aus der Tasche des Nerzmantels und winkte ab, als wäre sie sich zu gut für den Bus, während von oben die Bergmannsfrauen auf sie herabstarrten.
Als sie den Stadtrand erreichte, fing es zu regnen an. Erst nieselte es nur, und die Tropfen blieben an den Spitzen des Pelzmantels hängen wie glitzerndes Haarspray. Sie war erschöpft vom langen Marsch in den hohen Schuhen, aber als sie durch die schmalen Straßen ihrer ersten Ehe kam, ging sie schneller, weil sie Angst hatte, einem Gesicht von damals zu begegnen. Aus dem Nieseln wurde ein Sturzregen, und bald klatschte der nasse Mantel gegen ihre nackten Beine wie ein nasser Hundeschwanz. Agnes stellte sich im Eingang eines Mietshauses unter und sah den Bussen nach, die eine schmutzige Flutwelle über die Straße schoben. Einen Moment lang vermisste sie den braven Katholiken.
Schwarze Wimperntusche lief ihr über das Gesicht. Sie hatte ein Knäuel Klopapier in der Tasche und faltete die Kotzflecken nach innen, bevor sie sich die Streifen unter den Augen abwischte. Der Mantel triefte, und wo sich das Wasser sammelte, war er verfilzt. Agnes nahm die Porzellanfiguren aus den Taschen und trocknete die gläsernen Gesichter der Ballerinas ab.
Auf der anderen Straßenseite kauerte ein langes graues Gebäude. Im linken Teil befand sich eine Art Taxiwerkstatt, wo Teile kaputter Hackneys und Minibusse herumlagen wie Dinosaurierknochen, und irgendwo auf dem Hof lief ein Radio. Dahinter war ein kleines Büro, und durch das schmutzige Fenster sah Agnes die Regale an den Wänden, die mit neuen Keilriemen und Radkappen, Schmierfettdosen und Ölkanistern bestückt waren. Es war eine Profigarage, keine Werkstatt für Privatkunden. Es gab keine abgepackten Sandwiches, keine Landkarten oder Reiseführer.
Eine kleine Glocke klingelte, als Agnes das Büro betrat. Zu ihren Füßen bildete sich eine Pfütze, und ein Mann in einem Overall kam herein, der das Klingeln gehört hatte. Er war untersetzt, hatte rote Haare und ein flaches Gesicht, und sein Kopf schien direkt aus dem Rumpf zu wachsen, als wäre der Hals ein überflüssiger Luxus. Er sah von seinen schmutzigen Händen auf und wirkte vom Anblick der schönen Frau in dem Pelzmantel, die vor ihm stand, überrascht.
»Es tut mir furchtbar leid, Sie zu stören«, begann Agnes in ihrem besten Milngavier Tonfall. »Aber ich wurde vom Regen überrascht, und ich wollte fragen, ob ich vielleicht Ihre Toilette benutzen dürfte. Sie wissen schon. Um mich frisch zu machen.« Sie zeigte auf den nassen Mantel.
»Also …« Er rieb sich die Stoppeln. »Eigentlich is dat Klo nich für Kunden.«
Agnes zog an ihrem Mantel; er tropfte wie ein Rasensprenger. »Oh, ich verstehe«, sagte sie und senkte den Blick auf den schmutzigen Fußboden.
Er sah sie einen Moment an, dann kratzte er seinen kräftigen Arm und erklärte: »Na ja, Sie sehen nich aus wie ne reguläre Kundin, ich schätze mah, dat geht in Ordnung.«
Er führte sie durch die Werkstatt. Mehrere Taxis befanden sich in verschiedenen Stadien der Reparatur, und das ausgelaufene Motoröl auf dem Werkstattboden machte das Gehen in Pumps schwer. Die Wassertropfen, die von ihrem Mantel auf den öligen Zement fielen, perlten ab und kullerten davon wie kleine Tränen.
»Oh, warten Sie kurz«, sagte der Mann. Nervös verschwand er hinter einer dünnen roten Tür. Agnes hörte das Zischen von Frischespray, und eine Minute später kam er mit ein paar eingerollten Zeitschriften und Zeitungen unter dem Arm heraus. »Issen bisschen einfach, aber Sie finden alles, watse brauchen.« Als er ihr die Tür aufhielt, zwinkerte ihr unter seinem Arm eine Blondine mit großen Brüsten zu.
Agnes betrat das schmutzige Bad und schloss die Tür fest hinter sich. Dann stand sie lange da und starrte das aufgelöste alte Wrack im Spiegel an. Auf dem Klo gab es keinen Handfön, also nahm sie einen Packen Papierhandtücher und drückte sie auf den nassen Mantel wie auf einen Teppich, auf dem sie etwas verschüttet hatte. Doch egal, wie viel sie drückte und rieb, aus dem Mantel lief immer noch Wasser.
Agnes brauchte lange, bis sie gefasst genug war, um zurück in die Werkstatt zu treten. Der Mann stand direkt vor der Tür und hielt wie versteinert zwei unterschiedliche Becher in der Hand. »Sie sehen aus, als könntensen heißen Tee gebrauchen.«
»So schlimm?«
»Ach, geht schon.«
Agnes nahm den Becher; er war nur leicht mit Öl verschmiert. »Ich sehe bestimmt aus wie eine ersoffene Ratte«, sagte sie in der Hoffnung, dass er protestierte.
»Eher wien ersoffener Nerz.«
Der Mann sah sich nach einem sauberen Stuhl für sie um, und Agnes betrachtete ihn aus der Nähe. Er hatte sich seit ihrer Ankunft das Gesicht gewaschen. Sie sah den Ölrand am Hals und an den Koteletten, wo der Waschlappen nicht hingekommen war, und über dem rosa Gesicht war sein heller Haaransatz noch nass. Er sah gut aus, dachte sie, auf eine kernige Art, wie ein Shetlandpony. Der Mann schob ihr einen Barhocker hin, und sie sah, dass er an der linken Hand nur zwei Finger und den Daumen hatte, die anderen beiden fehlten, als hätte er sie sich aus Nervosität abgekaut.
Ihre Blicke trafen sich, und er hielt die Hand hinter den Rücken. »Lange Geschichte.«
Agnes zuckte zusammen, peinlich berührt, dass er ihren Blick gesehen hatte. »Davon haben wir alle welche.«
»Fehlende Finger?«
»Nein«, sie lachte. »Lange Geschichten.«
»Wie die, datse vorhaben, Ihren Mantel zu versetzen?«
Wieder lachte sie, zu spitz diesmal, und dann hörte sie zu lachen auf. Er hatte nicht mitgelacht. Sie benutzte wieder den Milngavier Akzent, die Stimme, die sagte: Ich habe einen reichen Mann und ein großes Haus. »Ich will doch nicht meinen Mantel versetzen. Wie in aller Welt kommen Sie auf so was?«
Der Mann entgegnete ungerührt: »Ich sag Ihnen noch wat. Sie wollen den Mantel versetzen, und Sie sind den ganzen Weg von Ballieston oder Rutherglen zu Fuß gekommen.« Er sah zur Seite. »Nein, wartense! In Rutherglen gibt es einen Pfandleiher.« Er überlegte einen Moment. »Sie kommen aus …« Dann schnippte er die Finger der guten Hand. »Pithead!«
Agnes wurde bleich.
»Stimmts?«
»Nein.«
Er schwieg einen Moment und sah sie über den Rand seiner gesprungenen Tasse an. »Ach Gott, tut mir leid, Missus. Dat war unfassbar unhöflich von mir. Ich hatte doch wirklich gedacht, Sie wollten Ihren Mantel versetzen. Um sich wat zu trinken zu kaufen oder so.«
Agnes ließ den Becher von den kalten Lippen sinken. Ihr Blick traf seinen. »Tja, Sie irren sich.«
»Aye, na dann, wenn Sie meinen.«
»Ja.«
»Na, da hamse Glück gehabt, würd ich sagen, oder?«
»Warum?«, fragte sie unwillkürlich.
»Weil der Pfandleiher in Gallowgate zurzeit wegen Arbeiten anne Gasleitung geschlossen ist.« Sie sah ihn finster an, um zu sehen, ob er bluffte, aber er zog nur die Braue hoch. »Hören Sie, ich wollt nich unhöflich sein. Indianerehrenwort. Aber wissense, der eine macht dem andern nix vor, oder?« Er hob die kaputte Hand, um seine Worte zu unterstreichen, und wackelte mit den zwei guten Fingern.
Agnes setzte schwungvoll den Becher ab. »Vielen Dank, dass ich Ihre Toilette benutzen durfte, aber ich muss jetzt wirklich weiter. Mein Mann ist sicher krank vor Sorge.«
»Aye, tunse dat. Issen langer Marsch im Regen. Aber vielleicht findense unterwegs Ihren verlorenen Ehering wieder.«
Auf einmal gefiel er ihr überhaupt nicht mehr. Sie hob den Kopf und strich sich die schwarzen Locken aus dem Gesicht. »Was wollen Sie eigentlich von mir?«
Enttäuscht zog er die Mundwinkel nach unten. »Nichts. Jedenfalls nich, wat Sie denken. Hörnse mal zu, Missus. Sie tauchen hier auf wien begossener Pudel, und da warn ein, zwei Sachen, die ich sofort erkannt hab.« Er bremste sich etwas. »Die ich erkannt hab, weil ich selber da gewesen bin. Dat is alles. Regense sich ab. Trinkense Ihren Tee aus, ja? Ich hab extran neuen Teebeutel reingehängt.«
Agnes setzte den Becher wieder an, um ihren Schock zu verbergen, das Schweigen zu überbrücken, das Brodeln in ihren Eingeweiden zu stoppen.
»Warnse schomma bein AA?«
Agnes sah ihn verständnislos an.
»Den Anonymen Alkoholikern?« Er sang: »Ein Tag nach dem andern, Jesus mein?«
Agnes schüttelte den Kopf.
»Sind Sie wenigstens bereit zuzugeben, datsen Problem ham?« Er legte den Kopf schräg wie ein müder Schullehrer. »Kommen hier rein mit nem ausgewachsenen Tremor.«
»Ich … ich war pitschnass … mir war kalt.«
Er lachte. »Nix für ungut, aber wennse frieren, weil Ihnen kalt is, dann schlottern Ihnen die Knie und Sie klappern mitte Zähne. So, verstehnse.« Er spielte einen halb erfrorenen Irren. »ABER! Wennse überall rumscharren auf der Suche nach nem Fläschchen Feuerzeugbenzin, dasse runterkippen können, dann zitternse so.« Der Mann schüttelte sich wie eine wiederbelebte Leiche.
Wieder stieg die Scham in ihr auf. »Was wissen Sie schon?«
»Ich weiß, datse für Ihren Nerz nur um die sechs Flaschen Wodka und nen warmes Stück Fisch zum Abendessen kriegen.« Er stocherte sich zwischen den Zähnen herum. »Jedenfalls hab ich dat fürn Nerz von meiner Mammy gekriegt, den ich ihr geklaut hab. Ich weiß auch, datt man von sechs Flaschen Wodka, einem warmen Stück Fisch und drei Nächten bewusstlos inne Gosse Blutvergiftung kriegt.« Wieder wackelte er mit seinen halben Fingern.
Danach schwiegen sie eine Weile. Er öffnete eine Schachtel Zigaretten, und nachdem er sich eine mit den Zähnen herausgenommen hatte, hielt er Agnes die Schachtel hin. Agnes zündete sich die Zigarette an und zog daran, als wäre sie am Verhungern. Sie ließ die Schultern hängen und sah sich mit einem tiefen Seufzer auf dem Friedhof der schwarzen Hackneys um. »Kennen Sie zufällig einen Taxifahrer namens Shug Bain?«
»Nich, datt ich wüsste«, sagte der Mann und musterte ihr Gesicht.
»So ein kleines, fettes, kahl werdendes Schwein. Hält sich für einen Casanova.«
»Dat gilt wohl für alle«, er lachte. »Für welche Firma fährt er?«
»Northside.«
»Nee, die bringen ihre Kutschen in die Werkstatt an der Red Road oben. Hab ihn wahrscheinlich nie gesehen.«
»Na ja, aber wenn Sie ihm eines Tages mal begegnen, wären Sie so nett und würden seine Bremsen frisieren?«
Der Mann lächelte. »Für Sie, schöne Frau, auf jeden Fall.«
Er rauchte die Zigarette zu Ende, ohne den Blick von Agnes abzuwenden. »Is er etwa der Grund, warum bei Ihnen allet den Bach runtergeht?« Als Agnes nicht antwortete, lachte er gehässig. »Schön blöd, Sie dummes Huhn. Ruiniern sich fürn Kerl.«
Stolz drückte sie die Schultern wieder durch. »Und wennschon?«
»Wissense, watse machen müssen, wennse ihm wirklich ans Bein pissen wollen?« Er hielt inne.
Typisch Mann, dachte sie, zu allem eine Meinung haben. »Was?«
»Ganz einfach. Kriegen Sie Ihren Scheiß auf die Reihe.« Er klatschte einmal in die Hände und breitete die Arme aus wie ein Zirkusdirektor. »Kriegen Sie Ihr Leben wieder hin. Werdense glücklich. Ich versprech Ihnen, nix könnte dem schweinsköpfigen Glatzenarsch mehr auffen Sack gehen. Das ga-ran-tier ich Ihnen.«