Agnes dachte an das, was ihre Mutter erzählt hatte, sie dachte ständig daran in den Tagen, die dem Tod ihres Vaters vorausgingen. Am Ende raffte ihn der Lungenkrebs dahin. Er rasselte bis zum letzten Atemzug.
Sie begruben Wullie Campbell an einem feuchten Märztag an einem sanften Hang hinten auf dem Lambhill-Friedhof. An nüchternen Tagen weinte Agnes um ihren Vater. Dann weinte sie um sich selbst, neidisch, weil Shug sie nie auf die Art geliebt hatte, wie Wullie Lizzie geliebt hatte.
Wenn sie trank, rief sie ihre Mutter an und beschimpfte die alte Frau, weil sie ihr die Erinnerung an ihren Vater verdorben hatte. Was für ein Mann nimmt ein Baby und lässt es einfach verschwinden? Dann, kaum einen Monat nach seinem Tod, starb auch ihre Mutter, und Agnes hatte niemanden mehr, den sie anschreien konnte.
Elizabeth Catherine Campbell starb in ihren Hausschuhen.
Agnes versuchte noch, ein Glasgower Taxiunternehmen zu überreden, den ganzen Weg nach Pithead rauszukommen, um sie abzuholen und ins Krankenhaus zu fahren, doch da war Lizzie schon seit eineinhalb Stunden bei den Engeln. In ihrer Not lief Agnes los und marschierte dem Taxi in der Mitte der einsamen Pit Road entgegen. Als sie endlich die Scheinwerfer sah, ging sie in die Knie.
Im Krankenhaus erzählte die Polizei Agnes, dass der Busfahrer völlig am Ende war. »Er ist ein guter Mann«, sagten sie. »Er hat sich viele Jahre selbstlos für das Unternehmen verdient gemacht.« Er hatte einfach nicht damit rechnen können, dass die alte Dame rückwärts vom Bordstein treten würde. Er hatte sie nicht überfahren wollen, aber sie hatte einen Schritt nach hinten gemacht, und sie musste entschlossen gewesen sein, sich das Leben zu nehmen. Das sagten sie Agnes.
Agnes wusste, dass die Konstabler sie unter dem Schirm ihrer Polizeimützen musterten und dachten, ein Wrack wie sie würde jede Mutter in den Selbstmord treiben. Die freundlichen Worte der Polizisten passten nicht zu ihrem kalten Blick. »So was passiert immer wieder«, sagten sie, als hätte Lizzie dieses feige Ende bewusst gewählt. Aber so etwas hätte ihre Mammy nie getan. Sie war eine gute Katholikin. Agnes kannte sie besser.
Später in der Woche, als der Bestatter den Leichnam ihrer Mutter endlich freigab, bahrte Agnes sie im Schlafzimmer in Sighthill auf. Leek half ihr, das Ehebett anzuheben und aufrecht an die Wand zu lehnen, um Platz für das Gestell mit dem kleinen Sarg zu schaffen. Als die Matratze ihrer Eltern an der Wand stand, wurde Agnes bewusst, dass sie nie wieder gebraucht würde. Sie nahm ein großes Laken aus dem Wäscheschrank und hängte es über die klobige Matratze, als wäre sie der Geist guter Erinnerungen, die nun tot waren. Agnes hatte kaum einen Monat um ihren Vater getrauert, und nun stand sie wieder hier, zu Füßen ihrer toten Mutter. Jede Faser ihres Körpers schrie nach Alkohol.
Agnes saß allein an Lizzies offenem Sarg. Sie bedeckte ihr Haar mit dem dunkelsten Kopftuch, das sie besaß, und zog zum zweiten Mal in diesem Monat das schwarze Strickkleid an. Die Wohnung in Sighthill barg keine guten Erinnerungen mehr für sie. Erst ihr Daddy, und jetzt ihre Mammy. Diesmal legte sie keine Pappe auf den Teppich. Sollten die Trauergäste ihn ruhig ruinieren.
Lizzie wirkte winzig in ihrem Sarg. Der Bestatter hatte die Scharte an ihrer Stirn dick mit Make-up ausgespachtelt und die zermalmten Hände unter dem Saum der Sarggarnitur versteckt. Agnes drapierte die Bibel und die Kette mit dem Medaillon des heiligen Judas auf dem Satin. Sie war fertig damit.
Agnes hatte gewollt, dass Lizzie ihr olivgrünes Sonntagskostüm trug und ihr grauer Haaransatz gefärbt wurde. Der Bestatter hatte gewollt, dass Agnes einen Hut mitbrachte, um Lizzies lädierten Schädel zu bedecken, und Agnes hatte ihm ein Foto gegeben, das zeigte, wie ihr Haar zu kleinen Locken gedreht und an den Seiten um ihr Gesicht gelegt werden sollte. Der Mann tat sein Bestes, ihr einen friedlichen Ausdruck zurückzugeben, aber das Gesicht wirkte wie von einer dicken Wachsschicht überzogen und sah der wahren Lizzie überhaupt nicht ähnlich. Es fehlte die fröhliche Röte ihrer Wangen, der rosige Schimmer ihrer Nasenspitze. Agnes küsste sie. Sie weinte um ihre Vergebung.
Als sie keine Tränen mehr hatte, richtete sie sich auf und lauschte dem Brummen des Fernsehers in der Nachbarwohnung. Sie zog sich das letzte Paar Ohrringe von den Ohren, die noch nicht beim Pfandleiher waren, und steckte sie ihrer Mutter vorsichtig in die Ohrlöcher. »Ich weiß, dass sie nicht zusammenpassen.« Sie schob ihr eine der kleinen Locken über das linke Ohr. »Dann hat Daddy wenigstens was zu lachen, wenn er dich sieht.«
Sie rückte Lizzies gute Brosche zurecht, die schöne Blechprägung der heiligen Jungfrau mit dem Kind, die Nan Flannigan ihr aus Lourdes mitgebracht hatte. »Arme Nan. Sie hätte besser auf dich aufpassen sollen.« Agnes seufzte. »Warum musstest du nur so was Dummes tun?«
Sie spuckte auf ein Stück Klopapier und rieb an den Wangenknochen ihrer Mutter herum. Die dicke Farbe bewegte sich nicht. »Diesmal wollte ich die Sandwiches mit Räucherlachs belegen statt mit Käse. Bist du einverstanden? Bei Daddys Sandwiches wurden die Ränder hart, nachdem sie den ganzen Tag dastanden. Ich hab die Blicke des undankbaren Packs gesehen. Wie Anna O’Hanna, dieser Besen, die Nase gerümpft hat. Ich hab sogar gehört, wie Dolly zu ihrem John gesagt hat: ›Die ganze Familie aus Donegal rückt an, und es gibt nich mahn Stück Fleisch aufs Brot.‹«
Agnes drehte ihren leuchtenden Lippenstift heraus und malte ihrer Mutter die Lippen nach. Dann rieb sie mit dem Daumen darüber und verteilte ein wenig als Rouge auf den eingefallenen Wangen. Sie wollte den smaragdgrünen Hut zurechtrücken, aber sie wagte es nicht, Lizzies Hinterkopf zu berühren, also strich sie nur dort, wo sie hinkam, sanft mit dem spitzen Kammgriff über ihre kastanienbraunen Locken. »So, ein bisschen Leben in den Wangen, und du siehst schon viel besser aus.« Die Worte blieben ihr im Hals stecken.
Agnes saß die ganze Nacht bei ihrer Mutter. An einem feuchten Aprilmorgen senkten sie Lizzies Sarg in die offene Grube über Wullie. Der Boden war nass. Das Grab musste ausgepumpt werden, bevor man sie auf ihren Ehemann hinunterließ.
Nach dem Begräbnis wickelte Agnes die Sandwiches in Küchenpapier und schickte Shuggie dreimal durchs Zimmer, bis die schwarzen Handtaschen randvoll waren und nach dick mit Butter gestrichenen Räucherlachsstullen dufteten. Selbst als die Leute nichts mehr wollten, schickte Agnes den Jungen noch einmal herum, und noch einmal, mit schönen, dick belegten Fischbroten.
Es war dunkel, als sie nach der Trauerfeier nach Hause kamen. Die Frauen der Bergmänner lehnten an ihren schiefen Gartentörchen und genossen die Pause des strömenden Regens. Agnes war nüchtern geblieben, aus Angst vor ihrer Mutter, aber als sie jetzt neben Leek stand, ließ sie die bernsteinfarbene Süße des Starkbiers in ihr Herz laufen.
Agnes stand über ihm, als er sein Skizzenbuch aufschlug. Verstohlen zog er einen Zettel mit einer scheinbar endlosen Ziffernfolge aus einem Umschlag. Schuldbewusst verbarg er den Tastenblock vor seiner Mutter, als er langsam die lange afrikanische Nummer wählte. Da war sie, die Nummer, die Catherine ihr niemals geben würde. Es war ein schrecklich einsames Gefühl.
Agnes versuchte, so viele Informationen wie möglich aufzuschnappen, aber Leek war einsilbig. Sie spitzte die Ohren, um im Hintergrund Catherines Stimme zu hören. Im muffigen Flur in Pithead schien es Agnes, als wäre am anderen Ende die Luft voller Kanarienvögel. Sie versuchte sich vorzustellen, dass Catherine von einem Teppich tropischer Blumen umgeben war, mit hübschen Namen, die sie nie lernen würde, aus Büchern, die sie nie lesen würde. Sie hoffte aus tiefstem Herzen, dass ihre Tochter glücklich war. Sie hoffte, Catherine würde nach ihr verlangen, und Leek würde ihr das Telefon reichen und sie könnte ihr selbst sagen, wie sehr sie sich wünschte, dass Catherine nach Hause kam.
»Catherine, ich bin’s. Hier ist Leek«, sagte er. »Tut mir leid. Ich rufe von Mammys Telefon an. Ja. Sie ist auch hier, steht direkt neben mir.« Argwöhnisch sah er Agnes von oben bis unten an. Eine Pause entstand. Agnes hörte Catherines aufgebrachte Stimme. »Keine Angst, das würde ich nie machen. Ich habs dir doch versprochen.«
»Ist es schön in Südafrika?« Eine Pause entstand. »Oh, dem geht’s gut. Wär einmal bei der Grube fast gestorben, aber es geht ihm gut. Ist immer noch ein bisschen schräg. Du weißt schon. Schräg schräg.« Er spreizte das Handgelenk ab und lispelte ins Telefon: »Vom anderen Ufer und so.«
Aus dem Hörer war ein Lachen zu hören. Agnes machte eine ungeduldige Geste. »Ach ja, Catherine, ist Donald zu Hause? Nein, ich kontrolliere dich nicht. Ich wollte nur, also, ich habe schlechte Neuigkeiten. Es ist so, also, Granny ist gestorben.« Wieder entstand eine lange Pause.
Agnes flüsterte tonlos: Weint sie?
Leek wedelte sie weg. »Letzte Woche. Wurde von einem Doppeldecker überfahren. Es ging ganz schnell. Sie war nicht ganz bei sich. Na ja. So mittel. Nein. Pass auf, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber Granda ist auch tot. Kein Witz. Ich schwörs. Wir wollten es dir ersparen. Vor drei Wochen oder so.« Er begann mit zusammengebissenen Zähnen zu sprechen. »Ehrlich gesagt war es meine Entscheidung, es dir nicht zu sagen. Das ist das Problem, wenn man allein mit der ganzen Scheiße zurückbleibt: Man muss die ganzen beschissenen Entscheidungen selber treffen.« Eine lange Pause entstand. Agnes dachte, sie hörte, wie Catherine weinte oder um Verzeihung bat oder beides. »Also, kommst du dann heim? Oh. Oh. Okay. Oh. Gut. Also, herzlichen Glückwunsch, schätze ich.«
Agnes sagte tonlos: Fragt sie nach mir?, und versuchte, nicht zu verzweifelt auszusehen.
Leek seufzte. »Hör mal, Caff, willst du mit Mammy sprechen? Nüchtern. Mehr oder weniger. Traurig. Glaube ich. Okay. Mach ich. Okay. Nein. Ich verstehe. Wie du willst. Danke.« Dann legte er den Hörer auf.
Agnes’ Hände schwebten noch in der Luft; sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie am Hörer gerissen hatte, bis die Leitung tot war. Leek zuckte nur die Schultern und sprach mehr zum Teppich. »Sie war zu aufgelöst, um zu sprechen.« Er rieb sich den schmerzenden Kiefer. »Sie hatten südafrikanische Boerewors zum Abendessen. Auf einem Spieß mit Obststücken. Wie ekelhaft ist das?«